Entscheidungsdatum: 05.05.2010
Der Kläger begehrt ua Leistungen zur Förderung der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben; in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG), das verschiedene Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hatte, hat der Kläger zuletzt insgesamt 18 Anträge gestellt (Anträge 1 bis 7, 7a und 7b, 8 bis 16). Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 14.8.2006).
Im Berufungsverfahren hat der Kläger die Klage erweitert (Antrag 17). Das Landessozialgericht (LSG) hat den Beteiligten mit Schreiben vom 4.9.2007 mitgeteilt, es erwäge eine Entscheidung nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und gebe insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Kläger hat sich daraufhin mit Schriftsatz vom 24.9.2007 umfangreich geäußert. Das LSG hat sodann mit Beschluss der Berufsrichter vom 7.8.2008 die Berufung gegen das Urteil des SG vom 14.8.2006 zurückgewiesen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich der Kläger mit der Beschwerde. Er macht geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), das LSG sei von Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und es lägen mehrere Verfahrensmängel vor (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Ua habe das LSG die von Amts wegen zu beachtende notwendige Beiladung des zuständigen Rehabilitationsträgers unterlassen und es habe trotz des Hinweises auf die Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung ohne nochmalige Anhörung fehlerhaft durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entschieden.
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG jedenfalls, soweit sie eine Verletzung des § 153 Abs 4 SGG rügt. Der angefochtene Beschluss des LSG ist auch unter Verletzung des § 153 Abs 4 SGG und damit in nicht vorschriftsmäßiger Besetzung (§ 33 SGG) ergangen.
Nach § 153 Abs 4 SGG kann das LSG, außer in den Fällen des § 105 Abs 2 Satz 1 SGG, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Voraussetzung für ein Vorgehen des LSG nach § 153 Abs 4 SGG ist also neben den Erfordernissen der Einstimmigkeit und der Ausübung des eingeräumten Ermessens, dass die Tatbestandsvoraussetzung "mündliche Verhandlung nicht erforderlich" erfüllt ist. Die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Erforderlichkeit bzw Nichterforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung kann durch das Revisionsgericht jedenfalls auf sachfremde Erwägungen oder grobe Fehleinschätzung überprüft werden (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13). Im vorliegenden Fall beruht die Entscheidung des LSG, nach § 153 Abs 4 SGG zu entscheiden, auf einer groben Fehleinschätzung.
Bei der Beurteilung, ob eine mündliche Verhandlung erforderlich ist, ist zu beachten, dass die mündliche Verhandlung das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens ist und den Zweck verfolgt, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihnen den Streitstoff erschöpfend zu erörtern. Nicht erforderlich kann eine mündliche Verhandlung dann sein, wenn der Sachverhalt umfassend ermittelt worden ist, so dass Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung nicht mehr geklärt werden müssen, oder wenn im Berufungsverfahren lediglich der erstinstanzliche Vortrag wiederholt wird; zu beachten ist aber in jedem Fall der Anspruch des Beteiligten auf effektiven Rechtsschutz (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 mwN).
Die vorliegende Fallgestaltung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Kläger in einem seit längerer Zeit anhängigen Verfahren, in dem es schon einmal zu einer Zurückverweisung durch das LSG (Urteil vom 8.6.2005, L 6 AL 258/04) an das SG gekommen war, zahlreiche von ihm selbst formulierte Anträge verfolgt und dass er im zuletzt anhängigen Berufungsverfahren noch einmal einen zusätzlichen Antrag im Wege der Klageerweiterung in das Verfahren eingebracht hat. Die im bisherigen Verfahrensverlauf zustande gekommene Aneinanderreihung verschiedenartiger Begehren und insbesondere die insoweit vom SG protokollierten und dann vom LSG unverändert übernommenen Formulierungen des in den Tatsacheninstanzen nicht rechtskundig vertretenen Klägers zeigen, dass für das LSG Anlass bestand, auf eine angemessene und sachdienliche Antragstellung hinzuwirken (§§ 112 Abs 2 Satz 2, 123 SGG). Das LSG hat in seinem früheren Urteil vom 8.6.2005 zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass Anträge nicht gegen den Willen eines Beteiligten verändert oder gar unterdrückt werden dürfen; dies ändert jedoch, wovon auch das LSG in der Entscheidung vom 8.6.2005 ausgegangen ist, nichts an der Pflicht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung auf die angemessene und sachgerechte Antragstellung hinzuwirken (vgl zur Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung auch Beschluss des BSG vom 18.11.2008, B 2 U 44/08 B).
Das LSG musste auch vor Erlass des angefochtenen Beschlusses vom 7.8.2008 die umfangreichen Ausführungen des Klägers würdigen, die dieser nach Erhalt der Anhörungsmitteilung vom 4.9.2007 mit Schreiben vom 24.9.2007 vorgelegt hat, ua zur Erhebung weiterer Beweise und zur Erforderlichkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Bei diesen Ausführungen handelt es sich nicht nur um eine Wiederholung früheren Vorbringens; denn dem Urteil des SG vom 14.8.2006 war erstmals eine nähere Begründung zu allen gestellten Anträgen zu entnehmen und der Kläger hatte sich vor Einreichung des Schreibens vom 24.9.2007 im Berufungsverfahren nur kurz geäußert. Für das LSG bestand insbesondere Anlass, den im Schreiben vom 24.9.2007 erwähnten Gesichtspunkt der Klageerweiterung (Antrag 17) zu beachten. Schließlich musste sich dem LSG - wie der Beschwerdeführer zu Recht geltend macht - auch die Erkenntnis aufdrängen, dass der Kläger seit Januar 2005 erwerbsfähiger Hilfebedürftiger im Sinne des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch war, weshalb sich die Frage nach dem zuständigen Träger stellte und insoweit die Frage der notwendigen Beiladung zu klären war (vgl BSGE 101, 79 = SozR 4-3500 § 54 Nr 1). Angesichts dieser besonderen Umstände stellt sich die Vorgehensweise des LSG, ohne nochmalige Anhörung auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten und durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG zu entscheiden, als fehlerhaft dar.
Die angefochtene Entscheidung kann auf dem festgestellten Verfahrensmangel beruhen. Bei einem Verstoß gegen § 153 Abs 4 SGG handelt es sich um einen absoluten Revisionsgrund (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 1 Zivilprozessordnung), bei dem nähere Ausführungen zur Kausalität des Verfahrensfehlers entbehrlich sind (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13; SozR 4-1500 § 153 Nr 5 mwN). Es ist deshalb nicht näher darauf einzugehen, dass das LSG mit seiner Vorgehensweise auch den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt hat.
Der Senat macht von der Möglichkeit, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG), Gebrauch. Dabei kann dahinstehen, ob - wie der Beschwerdeführer geltend macht - auch die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und der Divergenz vorliegen; denn auch dann wäre voraussichtlich mit einer Zurückverweisung zu rechnen (vgl Beschlüsse des BSG vom 30.4.2003, B 11 AL 203/02 B, und vom 23.5.2006, B 13 RJ 253/05 B).
Die Entscheidung über die Kosten unter Einbeziehung der Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.