Entscheidungsdatum: 05.07.2016
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. Oktober 2015 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
I. Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin ist mit ihrem Begehren, gerichtet auf Erstattung von Kosten in unbezifferter Höhe für einen unbekannten Zeitraum infolge - zumindest teilweise mit Privatrezepten - selbst verschaffter, nicht verschreibungspflichtiger Rezeptur- und Fertigarzneimittel (Nasensalbe C. Ol. Pini Tub, Cromo-CT <-Augentropfen oder Nasenspray>, Linola Fettcreme, Thymiverlan Lösung
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.
II. Die Beschwerde, die die fehlende Beiladung des Jobcenters H. rügt, ist zulässig und begründet.
1. Die Klägerin bezeichnet den Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) einer unterlassenen unechten notwendigen Beiladung des Jobcenters H.
(§ 75 Abs 2 Alt 2 SGG) entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Der Zulässigkeit der Beschwerde steht es nicht entgegen, dass die Klägerin darauf hinweist, sie habe in der letzten Tatsacheninstanz die Beiladung nicht ausdrücklich gefordert (so aber BSG Beschluss vom 19.10.2007 - B 11a AL 169/06 B - Juris RdNr 5, bezogen auf die beklagte Bundesagentur für Arbeit). Soweit das BSG die Darlegung fordert, dass der Beschwerdeführer beim LSG ein materielles Recht geltend gemacht hat, das die Notwendigkeit der Beiladung bedingt (so für einen Sonderfall eines zu stellenden Reha-Antrags BSG Beschluss vom 11.12.1990 - 5 BJ 357/89 - Juris RdNr 8, allerdings ohne Auseinandersetzung mit der abweichenden Rspr in BSGE 13, 217, 219 f = SozR Nr 18 zu § 75 SGG), erfüllt die Klägerin diese Voraussetzung. Sie hat keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ihr Erstattungsbegehren uneingeschränkt verfolgt. Sie hat in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG ausweislich der Sitzungsniederschrift sogar darauf hingewiesen, das Jobcenter habe sie an die Beklagte verwiesen. Sie hat damit zum Ausdruck gebracht, dass ihr es nicht darum geht, gerade von der Beklagten die begehrten Leistungen zu erhalten. Es würde dem Gebot eines fairen Verfahrens und effizienten Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) widersprechen, einer - wie vorliegend - in der letzten Tatsacheninstanz nicht fachkundig vertretenen Klägerin weitergehend abzuverlangen, rechtstechnisch das Unterlassen einer notwendigen unechten Beiladung zu rügen. Diese Rügeobliegenheit mutete einer solchen Klägerin zu, Beiladungsfehler des LSG zu erkennen und zu beanstanden, obwohl dies einem Volljuristen vergleichbare Kenntnisse des materiellen Rechts und des Prozessrechts voraussetzt (generell das Darlegungserfordernis eines Beiladungsantrags beim LSG negierend BSG SozR 3-2200 § 654 Nr 1 S 4 mwN). Der von der Klägerin gerügte Verfahrensfehler liegt insoweit auch vor (hierzu a). Das Urteil des LSG beruht auf diesem Verfahrensfehler (hierzu b).
a) Nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG sind Dritte beizuladen, wenn sich in dem Verfahren ergibt, dass bei Ablehnung des Anspruchs ein anderer Versicherungsträger, ein Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ein Träger der Sozialhilfe, ein Träger der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts ein Land als leistungspflichtig in Betracht kommt. Hierfür ist es nicht erforderlich, dass es für das LSG als erkennendes Gericht bereits feststeht, dass der Beklagte nicht leistungspflichtig ist; vielmehr genügt die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Leistungsverpflichteten (zB BSG Urteil vom 25.4.2013 - B 8 SO 16/11 R - Juris RdNr 10; BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 11; Zeihe, SGG, Stand 1.4.2016, § 75 RdNr 19c mwN). Es kann bei den aufgewandten und noch aufzuwendenden Kosten (vgl zum Streitgegenstand nach dem SGB II BSGE 115, 77 = SozR 4-4200 § 21 Nr 16, RdNr 11 und BSG SozR 4-4200 § 21 Nr 15 RdNr 9 f) für von der Klägerin sich selbst verschaffte bzw zukünftig sich selbst verschaffende nicht verschreibungspflichtige Rezeptur- und Fertigarzneimittel (dazu aa) und für das Nahrungsergänzungsmittel "indische Flohsamenschalen" zu Mehrbedarfsleistungen kommen (dazu bb).
aa) Für selbst verschaffte nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel hat der erkennende Senat bereits entschieden, dass bei Bedürftigkeit Mehrbedarfsleistungen zu prüfen sind, um die Gewährleistung des verfassungsrechtlich gebotenen menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG zu sichern (vgl BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, RdNr 36 mwN; zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungskonzeption des SGB V vgl auch BSG Urteil vom 15.12.2015 - B 1 KR 30/15 R - Juris RdNr 54 ff, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 34 Nr 18 vorgesehen).
Nach den den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des LSG besteht die ernsthafte Möglichkeit, dass das Jobcenter H. als Grundsicherungsträger für die Versorgung mit nicht zum GKV-Leistungskatalog gehörenden Arzneimitteln nach § 21 Abs 6 SGB II leistungspflichtig sein könnte (vgl dazu Tattermusch in Estelmann, SGB II, Stand Juni 2016, § 21 RdNr 98 ff und - zu OTC-Präparaten - RdNr 114 ff; s ferner Harich, SGb 2012, 584 ff). Danach wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Ein im Einzelfall seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweichender unabweisbarer Bedarf kommt bei Leistungen in Betracht, die zur Sicherung des zu gewährenden menschenwürdigen Existenzminimums notwendig, aber verfassungskonform kein Leistungsgegenstand der GKV sind (vgl BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, LS 3 und RdNr 36 mwN). Die gesetzliche Konzeption des SGB V, auch teilweise Mittel der Krankenbehandlung innerhalb der GKV der Eigenverantwortung des Versicherten (§ 2 Abs 1 S 1 SGB V) zuzuweisen, trägt der begrenzten Aufgabenstellung der GKV Rechnung, sich auf gezielte Maßnahmen der Krankheitsbekämpfung zu beschränken (vgl dazu insgesamt BSGE 104, 160 = SozR 4-2500 § 13 Nr 22, RdNr 17 mwN). Die Qualität als Mittel gezielter Krankheitsbekämpfung und die Schwere der Krankheit, nicht aber die ökonomische Bedürftigkeit des Betroffenen bestimmen systemgerecht den Umfang des jedenfalls grundsätzlich verfassungskonform gesetzlich geregelten, abgeschlossenen Naturalleistungskatalogs der GKV (vgl BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, LS 3 und RdNr 34 mwN). Ähnlich wie im Bereich krankheitsbedingt unverzichtbarer Lebensmittel (vgl dazu § 21 Abs 5 SGB II, § 30 Abs 5 SGB XII und dazu zB BSG Urteil vom 9.6.2011 - B 8 SO 11/10 R - RdNr 24; BSGE 100, 83 = SozR 4-4200 § 20 Nr 6, RdNr 39 ff; BSG SozR 4-4200 § 21 Nr 2 RdNr 28; BSGE 109, 218 = SozR 4-2500 § 31 Nr 20, RdNr 38 mwN - Leucinose) ist es Aufgabe der gesetzlichen Bestimmungen des SGB II und SGB XII, die Gewährleistung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums zu sichern, soweit es - wie dargelegt verfassungskonform - nicht durch den Leistungskatalog der GKV abgedeckt ist. Inwieweit im Einzelnen nicht von der Leistungspflicht der GKV abgedeckte Kosten für medizinisch notwendige Gesundheitspflege, zB für OTC-Präparate, dem verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimum unterfallen, in der Regelleistung nach dem SGB II oder SGB XII abgebildet sind oder Mehrbedarfsleistungen auslösen, unterliegt der Beurteilung der für die Grundsicherung und Sozialhilfe zuständigen Senate des BSG (vgl insgesamt BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, RdNr 36 mwN, zur Beiladung RdNr 12). Bedürftigkeit der Klägerin kommt in Betracht, da sie nach ihrem Vorbringen ausschließlich auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen ist und diese fortlaufend bezieht.
bb) Im Hinblick auf das Nahrungsergänzungsmittel "indische Flohsamenschalen" kommt ebenfalls ein Anspruch der Klägerin gegen den Grundsicherungsträger zur Sicherung des Existenzminimums nach § 21 Abs 5 SGB II in Betracht (vgl auch BSG SozR 4-4200 § 21 Nr 15 RdNr 12 mwN). Hiernach wird für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Die Versorgung mit Lebensmitteln, Nahrungsergänzungsmitteln, sog Krankenkost und anderen diätetischen Lebensmitteln ist - abgesehen von bilanzierten Diäten (vgl § 31 Abs 5 SGB V) - nicht Aufgabe der GKV (vgl BSGE 109, 218 = SozR 4-2500 § 31 Nr 20, RdNr 27).
b) Auf der unterlassenen Beiladung nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG kann das angefochtene Urteil iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es im Falle der Beiladung zu einer Verurteilung des Grundsicherungsträgers - jedenfalls für laufende, nicht bestandskräftig abgeschlossene Leistungszeiträume und ansonsten gegebenenfalls im Wege einer Elementenfeststellung - und damit zu einer für die Klägerin günstigeren Lösung gekommen wäre.
2. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.