Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 30.03.2012


BVerwG 30.03.2012 - 9 VR 5/12, 9 VR 5/12 (9 VR 2/11)

Fernstraßenrechtliche Planfeststellung; Zulässigkeit von artenschutzrechtlichen Vorabmaßnahmen; Trasse der A 100 in Berlin; Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsdatum:
30.03.2012
Aktenzeichen:
9 VR 5/12, 9 VR 5/12 (9 VR 2/11)
Dokumenttyp:
Beschluss
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Kann eine in einem fernstraßenrechtlichen Planfeststellungsbeschluss vorgesehene Maßnahme des landschaftspflegerischen Begleitplans aus naturschutzfachlichen Gründen nur zu einer bestimmten Jahreszeit durchgeführt werden, so kann dies im Rahmen einer Interessenabwägung im Verfahren gemäß § 80 Abs. 5 VwGO (hier: auf einen Änderungsantrag gemäß § 80 Abs. 7 VwGO) den Sofortvollzug dieser Maßnahme rechtfertigen, sofern mit ihr keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden, die bei einem Erfolg der Klage nicht mehr rückgängig zu machen wären (hier: Absammeln und Zwischenhältern von Zauneidechsen).

Gründe

I.

1

Am 29. Dezember 2010 erließ der Antragsgegner den Planfeststellungsbeschluss für den Bau der Verlängerung der Autobahn A 100 in Berlin zwischen dem Autobahndreieck Neukölln und der Anschlussstelle Treptower Park (16. Bauabschnitt). Mit Beschluss vom 31. März 2011 - BVerwG 9 VR 2.11 - (NVwZ 2011, 820) hat der Senat die aufschiebende Wirkung der gegen diesen Planfeststellungsbeschluss erhobenen Klagen der Antragsteller angeordnet.

2

Mit dem vorliegenden Antrag vom 23. März 2012 begehrt der Antragsgegner, den vorbezeichneten Gerichtsbeschluss abzuändern und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klagen der Antragsteller gegen den Planfeststellungsbeschluss teilweise aufzuheben mit dem Ziel, im Rahmen einer artenschutzrechtlichen Vorabmaßnahme das Absammeln und Zwischenhältern (vorübergehendes artgerechtes Halten) von im Trassenbereich anzutreffenden Zauneidechsen durchführen zu dürfen. Die im planfestgestellten landschaftspflegerischen Begleitplan vorgesehene Vorabmaßnahme betrifft zwei Standorte im Plangebiet, an denen die Zauneidechse angetroffen worden ist, nämlich die südexponierte Böschung des Bahndamms der S-Bahntrasse Neukölln-Baumschulenweg und die Kleingartenkolonie Stadtbär. Zur Begründung hat der Antragsgegner im Wesentlichen vorgetragen, dass die Vorabmaßnahme aus naturschutzfachlichen Gründen nur zu einer bestimmten Jahreszeit, nämlich im Frühjahr (April/Mai) und im Herbst (September), durchgeführt werden könne; wenn dies nicht in diesem Kalenderjahr geschehe, werde sich die Verwirklichung des Planvorhabens um mindestens ein Jahr verzögern.

3

Die Antragsteller bezweifeln die Eilbedürftigkeit der Vorabmaßnahme, weil die Zuweisung von Finanzmitteln aus dem Bundeshaushalt für das Planvorhaben unsicher sei; außerdem halten sie ein umfassenderes Absammeln und eine ortsnahe Zwischenhälterung der Zauneidechsen für erforderlich.

II.

4

Der zulässige Antrag ist begründet.

5

Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte bei dem Gericht der Hauptsache die Änderung oder Aufhebung eines Beschlusses gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

6

Der Antragsgegner hat derartige veränderte Umstände glaubhaft gemacht. Der beschließende Senat hat in seinem Beschluss vom 31. März 2011 im vorangegangenen Verfahren BVerwG 9 VR 2.11 die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragsteller gegen den Planfeststellungsbeschluss des Antragsgegners im Wesentlichen damit begründet, dass seinerzeit bauliche Vollzugsmaßnahmen nicht vor März 2012 vorgesehen waren und zudem nach der politischen Beschlusslage des damaligen Senats des Landes Berlin ungewiss war, ob das streitgegenständliche Vorhaben verwirklicht werden sollte (vgl. Beschluss vom 31. März 2011 a.a.O. Rn. 2). Nach den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus vom 18. September 2011 sind diese politischen Vorbehalte entfallen. Der neue Senat strebt die Verlängerung der A 100 im 16. Bauabschnitt an. Darüber hinaus hat der Antragsgegner anhand des geänderten aktuellen Bauablaufplans eine (wegen der politischen Beschlusslage damals noch nicht gegebene) zeitliche Eilbedürftigkeit der Umsetzung der streitgegenständlichen punktuellen artenschutzrechtlichen Vorabmaßnahme glaubhaft gemacht. Dass eine über bereits vorliegende Finanzmittel hinausgehende Zuweisung von Finanzmitteln aus dem Bundeshaushalt möglicherweise erst erfolgt, "wenn Baurecht vorliegt", d.h. im Fall einer Abweisung der gegen den Planfeststellungsbeschluss erhobenen Anfechtungsklagen, entspricht der dem beschließenden Senat bekannten Bewilligungspraxis und vermag die Eilbedürftigkeit der streitgegenständlichen Vorabmaßnahme selbst, ohne die sich die Verwirklichung des Planvorhabens um mindestens ein Jahr verzögern würde, nicht in Frage zu stellen.

7

Der vorliegende Eilantrag zwingt weder zu einer in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung der Erfolgaussichten der Klagen der Antragsteller gegen den angefochtenen fernstraßenrechtlichen Planfeststellungsbeschluss noch zu einer - vorläufigen - Antwort auf die Frage, inwieweit die konkrete Vorabmaßnahme mit § 44 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 5 und § 45 Abs. 7 BNatSchG 2010 vereinbar ist. Diese Prüfung kann dem Klageverfahren vorbehalten bleiben. Die vorliegende Entscheidung ergeht aufgrund einer Abwägung einerseits des Interesses des Antragsgegners an einer vorzeitigen Durchführung der streitgegenständlichen artenschutzrechtlichen Vorabmaßnahme, andererseits des Interesses der Antragsteller an einem weiteren Aufschub dieser Vorabmaßnahme.

8

Diese Interessenabwägung fällt zu Lasten der Antragsteller aus. Der Antragsgegner hat nachvollziehbar dargelegt, dass die hier im Rahmen der Schutz- und Minderungsmaßnahme Nr. 5 (S/M5) des landschaftspflegerischen Begleitplans (vgl. S. 72 f. der Unterlage 12.1 des Planfeststellungsbeschlusses) und des artenschutzrechtlichen Fachbeitrags (vgl. S. 29 f., 38 f. der Unterlage 12.4 des Planfeststellungsbeschlusses) vorgesehene artenschutzrechtliche Vorabmaßnahme "Umsetzung der Zauneidechse" aus naturschutzfachlichen Gründen nur zu einer bestimmten Jahreszeit, nämlich in zwei Schritten im Frühjahr (Anfang April bis Ende Mai) vor der Eiablage sowie im Herbst (September) nach dem Schlüpfen der Jungtiere und vor der Winterruhe, durchgeführt werden kann und dass sie eines zeitlichen Vorlaufs vor den baulichen Vollzugsmaßnahmen bedarf, andernfalls die Verwirklichung des Vorhabens sich deutlich (um mindestens ein Jahr) verzögern würde. Dieses gesteigerte Interesse an der vorzeitigen Verwirklichung dieses Teils der landschaftspflegerischen Begleitmaßnahmen rechtfertigt im Rahmen der hier anzustellenden Interessenabwägung die sofortige Vollziehung dieser punktuellen Vorabmaßnahme. Bei einer ordnungsgemäßen, durch die im angefochtenen Planfeststellungsbeschluss angeordnete ökologische Baubegleitung gesicherten Durchführung der Maßnahme werden zur Überzeugung des Senats weder Belange der Antragsteller noch naturschutzrechtliche Belange von Gewicht dauerhaft beeinträchtigt oder vollendete Tatsachen geschaffen, die bei einem etwaigen Erfolg ihrer Klagen nicht mehr rückgängig zu machen wären. Die abzufangenden Zauneidechsen sollen in der Zwischenzeit in artgerechten Freilandgehegen gehalten werden, bis eine artgerechte neue Ansiedlungsfläche hergestellt ist. Bei einem Erfolg der Klagen steht einer Rückführung der Tiere an ihren Herkunftsort nichts entgegen, da dort vor einer Entscheidung über die Klagen keine Veränderung ihrer bisherigen Lebensstätten, insbesondere keine Baufreimachung stattfinden soll.