Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 16.02.2012


BVerwG 16.02.2012 - 9 B 71/11

Anforderungen an die Berufungsbegründungspflicht; objektiv willkürliche Auslegung als Verfahrensmangel


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsdatum:
16.02.2012
Aktenzeichen:
9 B 71/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 3. Mai 2011, Az: 1 L 59/10, Urteilvorgehend VG Greifswald, 24. Februar 2010, Az: 3 A 1156/08
Zitierte Gesetze
§ 9 Abs 1 S 1 KAG MV

Leitsätze

1. Ein Berufungsführer genügt grundsätzlich seiner gesetzlichen Pflicht, in der Berufungsbegründung die Gründe der Anfechtung anzugeben, wenn er in der Berufungsbegründung an seiner in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht hinreichend konkret erläuterten Auffassung festhält, durch den mit der Klage angegriffenen Bescheid verletzt zu sein, und dadurch zum Ausdruck bringt, dass er von den gegenteiligen Ausführungen des angefochtenen Urteils nicht überzeugt ist (wie Beschluss vom 2. Juni 2005 - BVerwG 10 B 4.05 - juris Rn. 5).

2. Eine objektiv willkürliche Auslegung von Rechtsnormen im Rahmen der Sachprüfung stellt keinen Verfahrensmangel dar, der nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO die Zulassung der Revision zu rechtfertigen vermag.

Gründe

1

Die auf die Zulassungsgründe der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und des Vorliegens von Verfahrensmängeln (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde ist unbegründet.

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1. Das angefochtene Urteil weicht nicht von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den Anforderungen des § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO an die Berufungsbegründung ab. Nach den von der Beschwerde bezeichneten Entscheidungen muss die Berufungsbegründung substantiiert und konkret auf den zu entscheidenden Fall bezogen sein; sie hat in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht im Einzelnen auszuführen, weshalb das angefochtene Urteil nach der Auffassung des Berufungsführers unrichtig ist und geändert werden muss (Beschlüsse vom 23. September 1999 - BVerwG 9 B 372.99 - Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 12 S. 8, vom 9. Dezember 2004 - BVerwG 2 B 51.04 - juris Rn. 4 und vom 2. Juli 2008 - BVerwG 10 B 3.08 - juris Rn. 3). Diese Rechtssätze hat das Berufungsgericht nicht in Frage gestellt, sondern ausdrücklich in die angefochtene Entscheidung übernommen (UA S. 16) und seiner Würdigung der Berufungsbegründung zugrunde gelegt (UA S. 17 oben).

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Dem widerspricht nicht, dass das Berufungsgericht weiter ausgeführt hat, ein Berufungskläger genüge grundsätzlich seiner gesetzlichen Begründungspflicht, "wenn er in der Berufungsbegründung an seiner in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht insoweit hinreichend konkret erläuterten Auffassung festhält, der angegriffene Bescheid sei rechtmäßig, und dadurch zum Ausdruck bringt, dass er von den gegenteiligen Erwägungen des angefochtenen Urteils nicht überzeugt ist" (UA S. 18 f.). Auch dieser generalisierende Rechtssatz ist der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO entnommen (Beschluss vom 2. Juni 2005 - BVerwG 10 B 4.05 - juris Rn. 5). Mit ihm wird klargestellt, dass der Berufungsführer sich in der Berufungsbegründung mit dem Gedankengang des angefochtenen Urteils nicht in den Details auseinandersetzen muss, sondern sich damit begnügen darf, konkret zu erläutern, weshalb er abweichender Auffassung ist, bzw. deutlich zu machen, dass er eine bereits vorher konkret erläuterte abweichende Auffassung weiterhin als tragfähig erachtet. Entspricht die Berufungsbegründung diesen Anforderungen, so bringt sie auch ohne eine Detailkritik an den Gründen der angefochtenen Entscheidung hinreichend klar zum Ausdruck, aus welchen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen an dem verfolgten Rechtsschutzziel festgehalten wird, und erfüllt damit die der Berufungsbegründung zukommende Funktion, die übrigen Beteiligten und das Berufungsgericht über die zur Stützung des Berufungsbegehrens maßgeblichen Gründe zu unterrichten.

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2. Die Verfahrensrügen greifen ebenfalls nicht durch.

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a) Das gilt zunächst für die Rüge, das Berufungsgericht habe § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO fehlerhaft angewandt. Ausgehend von den im Berufungsurteil dieser Vorschrift entnommenen Grundsätzen, die nach den vorstehenden Ausführungen nicht zu beanstanden sind, hat das Berufungsgericht die Berufungsbegründung des Beklagten zu Recht als noch ausreichend bewertet. Welche Mindestanforderungen an die Berufungsbegründung sich aus diesen Grundsätzen ergeben, hängt wesentlich von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab (Urteil vom 23. April 2001 - BVerwG 1 C 33.00 - BVerwGE 114, 155 <158>; Beschluss vom 2. Juni 2005 a.a.O. Rn. 3). Der Verfahrensablauf weist im vorliegenden Fall die Besonderheit auf, dass dem angefochtenen Urteil ein Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes vorausgegangen war, in dem das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 25. Mai 2009 - 1 M 157/08 - (NordÖR 2010, 299) deutlich Zweifel an der Auslegung und Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V durch das Verwaltungsgericht in dessen Eilbeschluss vom 27. Oktober 2008 - 3 B 1161/08 - (juris Rn. 17 ff.) geäußert hatte. Gleichwohl hielt das Verwaltungsgericht in dem mit der Berufung angefochtenen Urteil vom 24. Februar 2010 an seinen im Eilbeschluss eingenommenen Rechtsstandpunkten fest und brachte durch Zulassung der Berufung zum Ausdruck, dass es die Streitsache für "berufungswürdig" hielt. In dieser besonderen Situation waren nur vergleichsweise geringe Anforderungen an die Darlegung der Berufungsgründe zu stellen. Ihnen ist der Beklagte mit seiner Bezugnahme auf den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts und seine ergänzenden Ausführungen zum Berufungsurteil noch gerecht geworden.

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Mit der Bezugnahme auf den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts hat sich der Beklagte dessen Erwägungen zur Auslegung und Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V zu eigen gemacht, um das Berufungsbegehren zu untermauern. Dass das Oberverwaltungsgericht seine Erwägungen als zweifelnde Hinweise formuliert hat, ändert daran nichts; die Bezugnahme zum Zwecke der Berufungsbegründung bringt vielmehr zum Ausdruck, dass der Beklagte diese Erwägungen als tragfähige Berufungsgründe geltend machen wollte. Aufgegriffen wurden auf diese Weise zum einen die Einwände, die das Oberverwaltungsgericht im Beschluss vom 25. Mai 2009 gegen die vom Verwaltungsgericht im Beschluss vom 27. Oktober 2008 vertretene - und später im Urteil vom 24. Februar 2010 aufrechterhaltene - Auffassung anführte, eine reine Gebührenfinanzierung sei wegen des mit ihr im Vergleich zu einer anteiligen Beitragsfinanzierung verbundenen höheren Kreditbedarfs nur ausnahmsweise zulässig. Die Bezugnahme erfasste zum anderen auch die Überlegung im Beschluss des Oberverwaltungsgerichts, eine die reine Gebührenfinanzierung rechtfertigende atypische Lage könnte sich daraus ergeben, dass in der ganz überwiegenden Zahl von Fällen, in denen Beiträge nach der vormals geltenden Beitragssatzung des Beklagten hätten erhoben werden können, Festsetzungsverjährung eingetreten sei.

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Die ergänzenden Ausführungen in der Berufungsbegründung unterstreichen, dass der Beklagte die Überlegungen des Oberverwaltungsgerichts als Berufungsgründe übernehmen wollte und auch unter Berücksichtigung des erstinstanzlichen Urteils als tragfähig erachtete. So wandte sich die Begründung im Zusammenhang mit der Frage, ob die touristische Infrastruktur des vom Beklagten belieferten Gebiets eine atypische Situation begründete, gegen Ausführungen im verwaltungsgerichtlichen Urteil zu den Gesetzesmaterialien; sie brachte dabei zum Ausdruck, dass sie diesen Gesichtspunkt nach wie vor für durchschlagend hielt und der Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Frage des Kreditbedarfs entscheide über die Atypik, entgegentreten wollte. Ebenso verteidigte sie die Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts zur Verjährungsproblematik gegen die Kritik im Urteil des Verwaltungsgerichts und stellte damit klar, dass sie auch dieses Begründungselement durch die Einwände des Verwaltungsgerichts nicht in Frage gestellt sah. Angesichts dessen wurde die Berufungsbegründung den gesetzlichen Anforderungen noch gerecht, mochte die Durchdringung der rechtlichen Problematik in den über die Bezugnahme hinausgehenden eigenen Ausführungen auch ausgesprochen substanzarm sein.

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b) Die Rüge eines Verfahrensmangels wegen objektiv willkürlicher Auslegung des § 9 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V greift ebenfalls nicht durch. Die Auslegung von Rechtsnormen im Rahmen der Sachprüfung gehört zum Kern materieller Rechtsfindung, berührt hingegen nicht den Verfahrensablauf und die ihn regelnden Vorschriften des Verfahrensrechts. Unterlaufen dem Richter Fehler bei der Auslegung und Anwendung materiellen Rechts, so handelt es sich nicht, auch nicht ausnahmsweise im Fall objektiver Willkür, um Verfahrensfehler (vgl. Beschlüsse vom 9. Oktober 1997 - BVerwG 6 B 42.97 - juris Rn. 5 und vom 21. Februar 2003 - BVerwG 9 B 64.02 - juris Rn. 6). Aus den von der Beschwerde zitierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Beschlüsse vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 19 und vom 11. Oktober 2005 - BVerwG 10 B 8.05 - juris Rn. 12) folgt nichts anderes. Sie befassen sich lediglich mit der - jeweils offengelassenen - Frage, ob eine von objektiver Willkür geprägte Sachverhalts- und Beweiswürdigung zugleich verfahrensfehlerhaft ist. Darum geht es bei der auf die Gesetzesauslegung bezogenen Willkürrüge nicht. Soweit in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. September 1994 - BVerwG 6 C 42.92 - (BVerwGE 96, 350 <355>) im Falle einer auch als richterliche Rechtsfortbildung nicht mehr verständlichen Anwendung irrevisiblen materiellen Landesrechts ein im Revisionsverfahren beachtlicher Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG bejaht worden ist, besagt das nichts über die Verfahrensrelevanz eines solchen Mangels, der Voraussetzung für den hier mit der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemachten Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wäre. Auch auf die letztgenannte Entscheidung kann sich die Beschwerde für ihre Auffassung deshalb nicht berufen.

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c) Die Beschwerde kann schließlich nicht geltend machen, durch das angefochtene Urteil sei die Klägerin überrascht und so in ihrem Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verletzt worden. Ein Urteil stellt sich als Überraschungsentscheidung dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (stRspr; Beschluss vom 25. Mai 2001 - BVerwG 4 B 81.00 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 34 S. 20 f. m.w.N.). An diesen Voraussetzungen fehlt es.

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Die Beschwerde hat zwar geltend gemacht, das Berufungsgericht habe in der mündlichen Verhandlung nicht ansatzweise dargelegt, dass § 8 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V a.F. den Aufgabenträgern die Freiheit der Wahl zwischen einer Beitrags- und einer reinen Gebührenfinanzierung gelassen haben könnte und dass eine Übertragung dieser Wahlfreiheit auf die Nachfolgeregelung des § 9 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V in Betracht zu ziehen sei; deshalb habe die Klägerin nicht mit den im Berufungsurteil zur Auslegung angestellten Erwägungen rechnen müssen. Dieser Vortrag stimmt jedoch nicht mit den Ausführungen in dem nachgereichten Schriftsatz der Klägerin vom 4. April 2011 überein. In diesem Schriftsatz hat sich die Klägerin unter Hinweis auf ein früheres Urteil des Oberverwaltungsgerichts gegen die Rechtsansicht gewandt, § 8 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V a.F. enthalte keine Verpflichtung zur Erhebung von Anschlussbeiträgen, sondern ermächtige nur dazu. Ebenso hat sie dort betont, dass selbst dann, wenn das anders zu sehen sein sollte, diese Sichtweise wegen der Ausgestaltung des § 9 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V als Soll-Vorschrift nicht auf die Neuregelung übertragen werden könnte. Das lässt den Rückschluss zu, dass das Oberverwaltungsgericht seine Kernthese von der Wahlfreiheit des Aufgabenträgers nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V a.F. und der Bedeutung dieses Normverständnisses für die Auslegung der Neuregelung zumindest in groben Zügen bereits in der mündlichen Verhandlung als Deutungsmöglichkeit thematisiert hat. Auch wenn die spätere Argumentation zum eingeschränkten Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V in diesen Hinweisen noch nicht voll ausgeformt gewesen sein sollte, ergab sich daraus doch mit hinreichender Deutlichkeit, dass das Gericht für den Beklagten auch unter Geltung des § 9 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V eine freie Wahl zwischen Beitrags- und reiner Gebührenfinanzierung unabhängig vom Vorliegen atypischer Umstände in Betracht zog.

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Mit dieser Möglichkeit musste die Klägerin umso mehr rechnen, als auch in einem verbreiteten Kommentar zum Kommunalabgabengesetz Mecklenburg-Vorpommern die Auffassung vertreten wurde, nach § 9 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V bestehe ebenso wie zuvor nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V a.F. diesbezüglich ein Auswahlspielraum (Aussprung, in: Aussprung/Siemers/Holz, KAG M-V, Loseblatt, zuletzt Stand: August 2010, § 9 Anm. 2.1; ebenso derselbe, NordÖR 2005, 240 <245>), worauf schon das Verwaltungsgericht in seinem Eilbeschluss vom 27. Oktober 2008 (a.a.O. Rn. 18) hingewiesen hatte. Damit war der rechtliche Gesichtspunkt, der für die Entscheidung des Berufungsgerichts tragend wurde, ausreichend bezeichnet; die möglichen Entscheidungsgrundlagen musste das Gericht noch nicht im Einzelnen darlegen (vgl. Beschluss vom 25. Mai 2001 a.a.O. S. 21).