Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 03.05.2013


BVerwG 03.05.2013 - 8 BN 3/12

Verfahrensfehlerhaft festgestellte Tatsachengrundlage bei dem Parameter "Einwohnerzahl pro Geldspielgerät"


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsdatum:
03.05.2013
Aktenzeichen:
8 BN 3/12
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 20. September 2012, Az: 6 S 389/12, Urteil
Zitierte Gesetze
§ 11 GastV BW
§ 9 Abs 1 S 3 GastV BW

Gründe

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Die Antragstellerin betreibt im Stadtgebiet der Antragsgegnerin vier Spielhallen. Am 13. Dezember 2011 beschloss der Gemeinderat der Antragsgegnerin durch Rechtsverordnung die Sperrzeit für Spielhallen von 0:00 Uhr bis 11:00 Uhr festzusetzen. Dem Normenkontrollantrag der Antragstellerin hat der Verwaltungsgerichtshof entsprochen und die Rechtsverordnung über die Sperrzeitfestsetzung für Spielhallen vom 13. Dezember 2011 für unwirksam erklärt. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin.

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Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat mit dem Ergebnis Erfolg, dass auf ihre Verfahrensrüge das angegriffene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen wird (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 VwGO).

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Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist die Beschwerde zulässig. Die Antragsgegnerin ist trotz einer zwischenzeitlichen Gesetzesänderung durch das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs beschwert. Es trifft zwar zu, dass am 20. November 2012 in Baden-Württemberg § 46 Abs. 1 Landesglücksspielgesetz (LGlüG) in Kraft getreten ist. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs eröffnet § 46 Abs. 1 LGlüG die Möglichkeit, durch Einzelverwaltungsakte (und nicht mehr allgemein durch Rechtsverordnung) die Sperrzeit bei Vorliegen besonderer örtlicher Verhältnisse oder eines öffentlichen Bedürfnisses zu verändern, als der Beginn der Sperrzeit vorverlegt oder dessen Ende hinausgeschoben werden kann. Die Sperrzeit für Spielhallen wird in § 46 Abs. 1 LGlüG unverändert aus § 9 Abs. 1 Satz 3 Gaststättenverordnung (GastVO) übernommen, der im Gegenzug dazu aufgehoben wurde (§ 50 Abs. 1 LGlüG). Daneben ermächtigt jedoch nach wie vor § 11 GastVO bei Vorliegen eines öffentlichen Bedürfnisses oder besonderer örtlicher Verhältnisse, die Sperrzeit durch Rechtsverordnung zu verlängern, zu verkürzen oder aufzuheben.

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Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Die geltend gemachten Verfahrensmängel liegen vor. Der Verwaltungsgerichtshof hat gegen den Überzeugungsgrundsatz gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen, weil ihm bei der Tatsachenfeststellung und deren Würdigung ein methodischer Fehler unterlaufen ist. Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichtshof den Anspruch der Antragsgegnerin auf rechtliches Gehör verletzt. Er hat entscheidungserheblichen Vortrag der Antragsgegnerin ersichtlich nicht zur Kenntnis genommen.

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1. Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Um als Verfahrensfehler im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO erheblich sein zu können, kommt eine Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur in Betracht, wenn ein Mangel im Tatsachenbereich gesehen wird (Beschluss vom 8. Juli 2008 - BVerwG 8 B 29.08 - juris). Einen derartigen Mangel im Tatsachenbereich macht die Antragsgegnerin geltend. Sie meint, der Verwaltungsgerichtshof habe seiner rechtlichen Beurteilung einen tatsächlichen Vergleichsmaßstab zugrunde gelegt, der denklogisch als tragfähige Grundlage innerer Überzeugungsbildung ausscheidet. Zum einen hätte der Verwaltungsgerichtshof die vom Arbeitskreis S. e.V. ermittelte Quote von Einwohnern pro Geldspielgerät in P. nicht in die Ermittlung einer Durchschnittsquote vergleichbarer großer Städte einbeziehen dürfen, und zum anderen habe der Verwaltungsgerichtshof bei der Bildung der Quote wesentliche Umstände übergangen, die für die Einschätzung des Fehlens atypischer Verhältnisse maßgeblich gewesen seien. Der Verwaltungsgerichtshof habe es nämlich versäumt, bei der Vergleichsberechnung auch die Quoten anderer hinsichtlich der Einwohnerzahl ebenfalls vergleichbarer Städte mit einzubeziehen. Auf dieser fehlerhaften Tatsachenbewertung beruhe die Entscheidung.

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Unter Zugrundelegung der für die Beurteilung von Verfahrensfehlern maßgeblichen Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs (stRspr, u.a. Beschluss vom 29. Dezember 2010 - BVerwG 8 B 31.10 - juris Rn. 17) liegt der geltend gemachte Verstoß vor. Der Verwaltungsgerichtshof geht in materiellrechtlicher Hinsicht davon aus, dass es grundsätzlich zulässig ist, die Verlängerung der - landesweit geltenden - allgemeinen Sperrzeit für Spielhallen durch Rechtsverordnung nach § 11 GastVO auch auf Gesichtspunkte des Spielerschutzes und der Eindämmung von Spielsucht zu stützen, soweit hierfür ein öffentliches Bedürfnis oder besondere örtliche Verhältnisse sprechen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass bezogen auf den Zuständigkeitsbereich des örtlichen Verordnungsgebers besondere, atypische Umstände vorliegen müssen. Für das Tatbestandsmerkmal der örtlichen Verhältnisse folge dies bereits aus dem Wortlaut; für das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Bedürfnisses folge es daraus, dass die allgemeine Sperrzeitregelung in § 9 Abs. 1 Satz 3 GastVO durchschnittliche Gefahrenpotenziale bei dem Betrieb von Spielhallen Rechnung tragen solle und auf die Umstände des Einzelfalls keine Rücksicht genommen werden könne. Werde das Grundrecht der betroffenen Spielhallenbetreiber infolgedessen beschränkt, bedürfe dies einer Rechtfertigung im Sinne eines atypischen, nämlich erhöhten Gefahrenpotenzials im Zuständigkeitsbereich der handelnden Ordnungsbehörde. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs liegt den Sperrzeitregelungen des Landesgesetz- bzw. Verordnungsgebers der Gesichtspunkt des "durchschnittlichen Gefahrenpotenzials" beim Betrieb von Spielhallen zugrunde, und dem örtlichen Verordnungsgeber sind in der Ermächtigungsgrundlage für eine Sperrzeitverlängerung keine Kriterien vorgegeben, anhand derer das öffentliche Bedürfnis oder besondere örtliche Verhältnisse auszumachen sind. Damit ist der Regelfall der geltenden allgemeinen Sperrzeit vom landesdurchschnittlichen Gefährdungspotenzial geprägt. Hiervon ist auch der Verwaltungsgerichtshof ausgegangen und hat eine örtliche Regelung, mit der die landesweit geltende Sperrzeitregelung verlängert werden soll, für gerechtfertigt erachtet, wenn der Anstieg von Geldspielgerät pro Einwohnerzahl im Bereich des örtlichen Verordnungsgebers von der durchschnittlichen landesweiten Steigerung so signifikant abweicht, dass von einer atypischen Situation gesprochen werden kann. Der Verwaltungsgerichtshof hat allerdings bei seiner konkreten Würdigung des entscheidenden Parameters "Einwohnerzahl pro Geldspielgerät" nicht den ermittelten Landesdurchschnitt als Bewertungsmaß zugrunde gelegt, sondern nur einen engeren Durchschnitt vergleichbar großer Städte. Diese Vorgehensweise führt zu einer verfahrensfehlerhaft festgestellten Tatsachengrundlage, die im Ergebnis in größeren Städten eine ortsspezifische Regelung der Sperrzeit bereits dann verwehrt, wenn eine Abweichung vom Landesdurchschnitt bei sämtlichen größeren Städten feststellbar ist, selbst wenn eine signifikante Abweichung vom landesweiten Durchschnitt vorliegen sollte.

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2. Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichtshof den Anspruch der Antragsgegnerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verletzt. Die Antragsgegnerin trägt insoweit vor, das Gericht habe ihr Vorbringen im Schriftsatz vom 25. Juni 2012 zu dem starken Anstieg der sich wegen Spielsucht oder Spielsuchtgefährdung in Behandlung befindenden Personen in P. ersichtlich nicht zur Kenntnis genommen. Sie habe in diesem Schriftsatz insbesondere auf eine detaillierte Darstellung der Suchtberatungsstelle der D. Mittelbaden GmbH vom 12. April 2012 hingewiesen, die in einer weiteren Email vom 16. April 2012 noch weiter präzisiert worden sei.

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Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gericht ist zwar nicht gezwungen, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen sowohl zur Kenntnis genommen als auch in seine Erwägungen einbezogen hat. Nur bei deutlichen gegenteiligen Anhaltspunkten kann ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs angenommen werden (vgl. z.B. BVerwG, Beschlüsse vom 10. Mai 1999 - BVerwG 7 B 300.98 - juris und vom 4. August 2000 - BVerwG 7 B 38.00 - ZOV 2002, 290). Geht das Gericht auf der Grundlage seiner insoweit maßgeblichen materiellen Rechtsauffassung auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Beteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. u.a. BVerfG, Beschlüsse vom 1. Februar 1978 - 1 BvR 426/77 - BVerfGE 47, 182 <189> und vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <146>; BVerwG, Urteile vom 6. September 1988 - BVerwG 4 C 15.88 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 206, vom 15. April 1997 - BVerwG 8 C 20.96 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 274 und vom 18. Mai 1995 - BVerwG 4 C 20.94 - BVerwGE 98, 235). So liegt der Fall hier.

9

Nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs müssen bezogen auf den Zuständigkeitsbereich des örtlichen Verordnungsgebers Umstände im Sinne eines atypischen erhöhten Gefahrenpotenzials vorliegen, damit eine Sperrzeitverlängerung zulässig ist. Neben dem statistischen Material hat der Verwaltungsgerichtshof keine Anhaltspunkte gesehen, dass in P. die schädlichen Folgen des Missbrauchs von Glücksspiel deutlicher als in anderen Gemeinden Baden-Württembergs zutage getreten seien (vgl. UA S. 16). Die Frage der negativen Auswirkungen eines starken Anstiegs der Anzahl der Geldspielgeräte in Spielhallen ist damit für den vorliegenden Fall von zentraler Bedeutung. Der Verwaltungsgerichtshof ist in seinen Entscheidungsgründen gleichwohl nicht auf den Vortrag der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 25. Juni 2012 (in dem Verfahren VGH 6 S 544/12 vorgelegt) eingegangen, der sich unter Bezug auf eine Darstellung der Suchtberatungsstelle der D. Mittelbaden GmbH vom 12. April 2012 und einer weiteren Präzisierung durch die Email vom 16. April 2012, die als Anlagen dem Schriftsatz beigefügt waren, zur Zahl der Klienten verhält, die in den Suchtberatungsstellen in P. wegen Spielsucht behandelt worden sind. Danach hat sich von 2007 bis 2012 diese Zahl verdoppelt. Es lässt sich nicht ausschließen, dass der Verwaltungsgerichtshof bei Berücksichtigung dieses Vortrags - möglicherweise nach einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts (§ 86 Abs. 1 VwGO) - zu einer anderweitigen Entscheidung gekommen wäre.

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Da das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs auf verfahrensfehlerhaft getroffenen Feststellungen beruht und sich nicht mit Blick auf die weiteren Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts aus einem anderen Grunde als im Ergebnis richtig erweist (vgl. § 144 Abs. 4 VwGO), nimmt der Senat die Verfahrensfehler zum Anlass, das angefochtene Urteil gemäß § 133 Abs. 6 VwGO durch Beschluss aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen.