Entscheidungsdatum: 05.06.2012
Die Beteiligten streiten um die Gültigkeit der (Wiederholungs-)Wahl des Oberbürgermeisters der Stadt B. vom 28. Februar 2010. Der Kläger hatte im Wahlprüfungsverfahren Einspruch erhoben und unter anderem geltend gemacht, der Beigeladene habe als erneut zur Wahl angetretener Oberbürgermeister auf einem örtlichen Feuerwehrfest geäußert, sein Mitbewerber sei "schwul". Diese Bezeichnung wurde auf einem anonymen Flugblatt wiederholt, das der damalige Ortsvorsitzende der Partei des Beigeladenen anlässlich einer Podiumsdiskussion zur Vorstellung der Wahlbewerber verteilte. Der Beklagte wies den Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zurück. Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Dresden abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung des Klägers stattgegeben und die Revision nicht zugelassen. Die dagegen erhobene Beschwerde des Beigeladenen hat Erfolg.
1. Das angegriffene Urteil beruht auf einem vom Beigeladenen gerügten Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
a) Allerdings liegt ein Verfahrensfehler nicht schon darin, dass die Vorinstanz die Klage für zulässig gehalten hat. Da der Kläger an den von ihm als Wahlfehler gerügten Vorfällen nicht beteiligt war, setzt er sich mit der Klageerhebung nicht zu eigenem Verhalten in Widerspruch. Auf seine früheren Äußerungen außerhalb des Wahlkampfs kommt es insoweit nicht an.
b) Das angegriffene Urteil verletzt jedoch das Recht des Beigeladenen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO), weil das Berufungsgericht vor seiner Entscheidung nicht darauf hingewiesen hat, dass die im bisherigen Verfahren für unerheblich gehaltene objektive Richtigkeit oder Erweislichkeit der mit dem Flugblatt verbreiteten Behauptung aus seiner Sicht entscheidungsrelevant war.
Der Grundsatz rechtlichen Gehörs gewährleistet, dass die Beteiligten sich zu allen entscheidungserheblichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen äußern können. Er verbietet, eine Gerichtsentscheidung ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt zu stützen, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem Prozessverlauf nicht rechnen musste. Danach ist das Gericht zwar nicht grundsätzlich verpflichtet, vor der Entscheidung auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen. Ein Hinweis ist aber erforderlich, wenn ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht damit rechnen musste, dass ein rechtlicher Gesichtspunkt für die Entscheidung erheblich sein könnte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188 <190>; Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1934/93 - BVerfGE 96, 189 <204> und Plenumsbeschluss vom 30. April 2003 - 1 PBvU 1/02 - BVerfGE 107, 395 <409>).
Nach dem bisherigen Verfahrensverlauf musste ein sachkundiger Prozessbeteiligter auch bei gewissenhafter Vorbereitung unter Einbeziehung der Vielfalt vertretbarer Rechtsansichten nicht davon ausgehen, dass es für die Entscheidung der Vorinstanz auf die objektive Richtigkeit oder Erweislichkeit der mit dem Flugblatt verbreiteten Behauptung ankommen könnte. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, der Grundsatz der Freiheit der Wahl nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG binde auch private Dritte und verpflichte sie, jede unrichtige oder nicht erweislich wahre, zur Beeinflussung des Wählerwillens geeignete Tatsachenbehauptung zu unterlassen, war nach dem bisherigen Verfahrensverlauf überraschend. Sie lag weder der erstinstanzlichen Entscheidung noch dem die Berufung zulassenden Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 21. April 2011 zugrunde und wurde auch von den Beteiligten so nicht vertreten. Der bisherigen Rechtsprechung zu den Grenzen der Zulässigkeit amtsseitiger und privater Wahlkampfäußerungen waren ebenfalls keine Anhaltspunkte für eine so weitreichende Bindung Privater zu entnehmen (vgl. Urteile vom 18. April 1997 - BVerwG 8 C 5.96 - BVerwGE 104, 323 <326 f.> = Buchholz 160 WahlR Nr. 44 und vom 8. April 2003 - BVerwG 8 C 14.02 - BVerwGE 118, 101 <103> = Buchholz 160 WahlR Nr. 49; Beschluss vom 19. April 2001 - BVerwG 8 B 33.01 - Buchholz 160 WahlR Nr. 47 S. 2).
Auf die darüber hinaus gerügten Verfahrensmängel und die Frage, ob sie ausreichend dargelegt wurden, kommt es danach nicht mehr an.
2. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, die angegriffene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).
Eine zur Revisionszulassung führende Divergenz der Berufungsentscheidung zur bisherigen Rechtsprechung, insbesondere zu dem von der Beschwerdebegründung zitierten Urteil vom 8. April 2003 - BVerwG 8 C 14.02 - (a.a.O.), ist nicht prozessordnungsgemäß dargelegt. Die Beschwerdebegründung arbeitet keine einander widersprechenden Rechtssätze heraus, sondern beanstandet nur, die im Senatsurteil entwickelten Grundsätze seien im Berufungsurteil fehlerhaft angewendet worden.
Eine Revisionszulassung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache gerechtfertigt. Die vom Beigeladenen aufgeworfene Frage,
ob es für die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Äußerung über die sexuelle Orientierung eines Wahlbewerbers im Rahmen eines Wahlkampfes darauf ankommt, ob diese Äußerung richtig oder falsch ist, und ob und inwieweit es darauf ankommt, ob eine solche Äußerung durch Amtsträger oder Private getätigt wird,
bedarf nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren, da sie sich anhand der üblichen Methoden sachgerechter Gesetzesinterpretation unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung beantworten lässt.
Kommunale Amtsträger sind bei ihren Wahlkampfäußerungen an den Grundsatz der Freiheit der Wahl gebunden, der nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG auch für Kommunalwahlen gilt (Urteile vom 18. April 1997 a.a.O. S. 326 f. und vom 8. April 2003 a.a.O. S. 103; Beschlüsse vom 19. April 2001 - BVerwG 8 B 33.01 - a.a.O. S. 2 und vom 9. Mai 2012 - BVerwG 8 B 27.12 - juris Rn. 9, 11). Als Teil der Exekutive haben sie außerdem die Grundrechte zu wahren (Art. 1 Abs. 3 GG). Ihre amtsseitigen Wahlkampfäußerungen müssen daher der aus der Wahlfreiheit nach Art. 28 Abs. 1 GG abzuleitenden Neutralitäts- und Wahrheitspflicht genügen (dazu vgl. Beschluss vom 9. Mai 2012 a.a.O. Rn. 8 f., 11). Sie verbietet ihnen, Wähler durch bewusst wahrheitswidrige Angaben über wahlrelevante Tatsachen oder durch bewusstes Vorenthalten wahrheitsrelevanter Informationen zu täuschen. Ein solches Verhalten kann jedenfalls, wenn es manipulativ darauf gerichtet ist, den Wählerwillen zu beeinflussen, als Wahlfehler einzuordnen sein. Amtsseitige Äußerungen im Wahlkampf müssen darüber hinaus das Persönlichkeitsrecht der Mitbewerber aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG wahren. Es garantiert mit dem Recht der persönlichen Ehre den sozialen Achtungs- und Geltungsanspruch des Grundrechtsinhabers. Außerdem gewährleistet es mit der sexuellen und informationellen Selbstbestimmung auch das Recht, zu entscheiden, ob und wem gegenüber die eigene sexuelle Orientierung offenbart wird. Die amtsseitige Zuschreibung einer vom Betroffenen bislang nicht offenbarten sexuellen Orientierung verletzt dessen Intimsphäre, ohne dass es auf die Richtigkeit der zugeschriebenen Tatsache ankäme. Soweit eine solche Wahlkampfäußerung sich noch bestehende Vorurteile gegen eine bestimmte Orientierung zunutze macht, ist sie außerdem darauf gerichtet, den Mitbewerber der gesellschaftlichen Missachtung auszusetzen, und diskriminiert den Betreffenden wegen eines unverfügbaren persönlichen Merkmals. Eine solche Äußerung stellt eine unzulässige Wahlbeeinflussung dar.
Private Dritte hingegen sind bei ihrer Teilnahme am Wahlkampf weder an die Wahlrechtsfreiheit noch an das Demokratieprinzip nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG oder an die Grundrechte gebunden. Ihre Wahlkampfäußerungen unterliegen daher grundsätzlich weniger strengen Anforderungen als amtsseitige Äußerungen. So stellt die private Verbreitung von Täuschungen und Lügen grundsätzlich auch dann keinen Wahlfehler dar, wenn diese sittlich zu missbilligen sind (Urteil vom 8. April 2003 a.a.O. S. 108). Ob solche Äußerungen als Beleidigung, üble Nachrede oder gar Verleumdung strafbar sind, ist keine Frage des Wahlrechts.
Ob eine Person, die ein öffentliches Amt bekleidet, sich amtsseitig oder als Privatperson geäußert hat, muss das Tatsachengericht feststellen.