Bundespatentgericht

Entscheidungsdatum: 14.04.2016


BPatG 14.04.2016 - 7 Ni 2/15

Patentnichtigkeitsklageverfahren – "Gurtstraffer" – zum Verspätungseinwand


Gericht:
Bundespatentgericht
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsdatum:
14.04.2016
Aktenzeichen:
7 Ni 2/15
Dokumenttyp:
Urteil
Zitierte Gesetze

Tenor

In der Patentnichtigkeitssache

betreffend das deutsche Patent 199 27 731

hat der 7. Senat (Juristischer Beschwerdesenat und Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 14. April 2016 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Rauch, der Richter Dipl.-Ing. Hildebrandt und Dipl.-Ing. Küest, der Richterin Dr. Schnurr und des Richters Dr.- Ing. Großmann

für Recht erkannt:

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Klage richtet sich gegen das deutsche Patent 199 27 731, das auf eine Anmeldung vom 17. Juni 1999 zurückgeht und die Priorität der internationalen Anmeldung WO-PCT/US99/11140 vom 20. Mai 1999 in Anspruch nimmt. Das mit „Gurtstraffer“ bezeichnete Patent umfasst 27 Ansprüche, von denen mit der vorliegenden Klage der Hauptanspruch 1 und die darauf unmittelbar oder mittelbar rückbezogenen Unteransprüche 2, 3, 5, 19 und 21 (mit entsprechenden Rückbeziehungen) angegriffen werden.

2

Patentanspruch 1 hat folgenden Wortlaut:

3

1. Gurtaufroller mit einer an einem Rahmen um eine Achse drehbar gelagerten Gurtspule für einen Sicherheitsgurt, einer Triebfeder, welche die Gurtspule in Aufwickelrichtung antreibt, einer Blockiereinrichtung zum Blockieren der Gurtspule gegen einen Bandauszug, einem Elektromotor, welcher von der Triebfeder bewirkte Funktionen beeinflusst, und einem Rotor, welcher um einen in axialer Richtung an der Gurtspule sich erstreckenden Fortsatz an der Federseite des Gurtaufrollers angeordnet ist und zur Verstellung der Kraft der Triebfeder in Drehverbindung mit wenigstens einem der beiden Enden der Triebfeder steht,

4

dadurch gekennzeichnet,

5

dass zwischen dem Rotor (2; 32) und der Gurtspule (4) eine schaltbare Kupplung (14; 15) angeordnet ist, welche in Abhängigkeit von einem in einer Unfallvorstufe abgegebenen Signal ein vom Elektromotor (1) geliefertes Drehmoment vom Rotor (2; 32) auf die Gurtspule (4) zur Vorstraffung des Sicherheitsgurtes überträgt.

6

Wegen des Wortlauts der Ansprüche 2, 3, 5, 19 und 21 wird auf die Streitpatentschrift DE 199 27 731 C2 Bezug genommen.

7

Die Klägerin macht den Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit (§ 22 Abs. 1 i. V. m. § 21 Abs. 1 Nr. 1 PatG) geltend und stützt sich hierbei auf die bereits im Prüfungsverfahren berücksichtigten Publikationen

8

D1 DE 198 44 092 A1

9

D2 DE 198 04 365 A1

10

D3 DE 197 31 689 A1

11

D4  DE 196 47 841 A1

12

D5 DE 196 40 842 A1

13

D6 DE 43 02 042 A1

14

D7 DE 41 12 620 A1

15

D8 DE 35 31 856 A1

16

D9 DE 27 42 676 A1

17

D10 DE 296 05 200 U1

18

und darüber hinaus auf folgende Druckschriften:

19

D11 DE 43 32 205 A1

20

D12 DE 196 36 448 A1

21

D13 US-Patentschrift 4,579,294

22

D14 DE 28 28 297 A1

23

D15 DE 92 08 518 U1

24

D16 DE 36 16 900 A1

25

Außerdem hat die Klägerin erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 14. April 2016 den Nichtigkeitsgrund der unzulässigen Erweiterung (§ 22 Abs. 1 i. V. m. § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG) geltend gemacht.

26

Die Klägerin beantragt,

27

das deutsche Patent 199 27 731 im Umfang der Ansprüche 1, 2 und 3, im Umfang des Anspruchs 5 in Rückbeziehung auf einen der Ansprüche 1 bis 3, im Umfang des Anspruchs 19 in Rückbeziehung auf einen der Ansprüche 1, 2, 3 oder 5 und im Umfang des Anspruchs 21 in Rückbeziehung auf einen der Ansprüche 1, 2, 3, 5 oder 19 für nichtig zu erklären.

28

Die Beklagte beantragt,

29

die Klage insgesamt abzuweisen.

30

Sie tritt den Ausführungen der Klägerin entgegen und hält den Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit nicht für gegeben. Das Streitpatent sei sowohl neu als auch erfinderisch. Die Geltendmachung des Nichtigkeitsgrunds der unzulässigen Erweiterung beantragt die Klägerin als verspätet zurückzuweisen.

31

Der Senat hat den Parteien mit Schreiben vom 15. Dezember 2015 einen frühen gerichtlichen Hinweis gemäß § 83 Abs. 1 PatG übersandt.

32

Wegen des Vorbringens der Parteien im Übrigen wird auf die beiderseits eingereichten Schriftsätze und auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung mit seiner Anlage Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

33

Die auf den Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit (§ 22 Abs. 1 i. V. m. § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG) gestützte Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 14. April 2016 vorgebrachte, den Nichtigkeitsgrund der unzulässigen Erweiterung (§ 22 Abs. 1 i. V. m. § 21 Abs. 1 Nr. 4 1. Halbsatz PatG) betreffende Angriff der Klägerin ist gemäß § 83 Abs. 4 PatG als verspätet zurückzuweisen. Das Streitpatent erweist sich somit als bestandsfähig, weshalb die Klage insgesamt abzuweisen war.

I.

34

1. Die vorliegende Erfindung geht nach der Beschreibung in der Streitpatentschrift (Abs. [0002]) von einem aus der Schrift DE 41 12 620 A1 (= D7) bekannten Gurtaufroller aus. Bei diesem werde die Aufwickelfeder durch einen Elektromotor so beaufschlagt, dass nach dem Anlegen des Sicherheitsgurtes die auf das Gurtband ausgeübte Anlegekraft geringer werde als die auf das in die Parkposition ausgezogene Gurtband. Hierzu wirke der Elektromotor auf das drehbar gelagerte Federgehäuse am Gurtaufroller. Bei einem weiteren aus der deutschen Patentschrift 27 42 676 (= D9) bekannten Gurtaufroller sei an der Federseite des Gurtaufrollers ein Elektromotor vorgesehen, welcher über eine Kupplung auf die Triebfeder wirke. Hierdurch könne die Rückstellkraft der Triebfeder eingestellt werden. Die Kupplung könne als Rutschkupplung ausgebildet sein, um das vom Elektromotor (Stellmotor) übertragene Drehmoment auf einen Höchstwert zu begrenzen (Streitpatentschrift Abs. [0003]). Aus DE 296 05 200 U1 sei ein Gurtaufroller mit einer Lastbegrenzungseinrichtung bekannt, die aus einem in der Achse der Gurtspule angeordneten Torsionsstab bestehe. Der Torsionsstab besitze einen axialen Fortsatz, an welchem ein Rotor zur Übertragung eines von einem Linearstrafferantrieb erzeugten Drehmoments zur Leistungsstraffung des Gurtbandes übertragen werde (Streitpatentschrift Abs. [0004]).

35

Aufgabe der Erfindung sei es, einen Gurtaufroller der eingangs genannten Art zu schaffen, bei welchem der mit dem Elektromotor ausgestattete Gurtaufroller mit kompaktem Aufbau weitere Funktionen erfülle (Streitpatentschrift [0005]).

36

Diese Aufgabe soll erfindungsgemäß durch ein Erzeugnis mit den Merkmalen gemäß Patentanspruch 1 gelöst werden. Die Merkmale dieses Anspruchs können wie folgt gegliedert werden:

37

1.1. Gurtaufroller mit

38

1.2 einer an einem Rahmen um eine Achse drehbar gelagerten Gurtspule für einen Sicherheitsgurt,

39

1.3 einer Triebfeder, welche die Gurtspule in Aufwickelrichtung antreibt,

40

1.4 einer Blockiereinrichtung zum Blockieren der Gurtspule gegen einen Bandauszug,

41

1.5 einem Elektromotor, welcher von der Triebfeder bewirkte Funktionen beeinflusst, und

42

1.6 einem Rotor, welcher um einen in axialer Richtung an der Gurtspule sich erstreckenden Fortsatz an der Federseite des Gurtaufrollers angeordnet ist und zur Verstellung der Kraft der Triebfeder in Drehverbindung mit wenigstens einem der beiden Enden der Triebfeder steht, wobei

43

1.7 zwischen dem Rotor und der Gurtspule eine schaltbare Kupplung angeordnet ist,

44

1.8 welche in Abhängigkeit von einem in einer Unfallvorstufe abgegebenen Signal ein vom Elektromotor geliefertes Drehmoment vom Rotor auf die Gurtspule zur Vorstraffung des Sicherheitsgurtes überträgt.

45

2. Als zuständiger Durchschnittsfachmann, auf dessen Wissen und Können es insbesondere für die Auslegung der Merkmale des Streitpatents und für die Interpretation des Standes der Technik ankommt, ist im vorliegenden Fall ein Maschinenbau-Ingenieur (FH) mit mehrjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der Entwicklung von Insassenrückhaltesystemen anzusehen.

46

3. Der Fachmann geht bei der Auslegung des Anspruchs 1 von folgendem Verständnis aus:

47

a) Die dem Oberbegriff des Anspruchs zuzuordnenden Merkmale 1.1 bis 1.5 weisen dessen Gegenstand als eine gattungsgemäße Aufrollvorrichtung für Sicherheitsgurte aus, bei der der Sicherheitsgurt gegen die Kraft einer Feder von der Gurtspule abgezogen bzw. durch die Federkraft wieder auf die Gurtspule aufgewickelt wird, und die mit einer Blockiereinrichtung und einem Elektromotor ausgestattet ist.

48

b) Ferner ist ein Rotor vorhanden, für den Merkmal 1.6 mehrere - aus dem Stand der Technik ebenfalls bekannte - Festlegungen trifft.

49

Der Rotor ist zum einen an der Federseite des Gurtaufrollers angeordnet, und zwar um einen in axialer Richtung an der Gurtspule sich erstreckenden Fortsatz. Dies bedeutet, dass der Rotor diesen Fortsatz umgibt; eine Anordnung lediglich neben dem Fortsatz oder in dessen Nähe wäre nicht anspruchsgemäß.

50

Zum anderen steht der Rotor zur Verstellung der Kraft der Triebfeder in Drehverbindung mit wenigstens einem der beiden Enden der Triebfeder, d. h. mit dem äußeren oder dem inneren Ende. Hierbei handelt es sich um eine permanente, insbesondere von einer Abgabe des in Merkmal 1.8 angesprochenen Signals unabhängige Verbindung, durch die ein von dem Motor erzeugtes Drehmoment die Rückstellkraft der Feder in der einen oder anderen Richtung beeinflussen kann. Laut Streitpatentschrift (Spalte 1, Zeilen 60 bis 64) handelt es sich bei der Drehverbindung insbesondere um eine starre Verbindung, ohne Zwischenschaltung einer Rutschkupplung, wobei ein (Planeten-) Getriebe zwischen dem Rotor und dem Angriffspunkt an der Feder vorgesehen sein kann.

51

c) Die gemäß Merkmal 1.6 dauerhaft bestehende Drehverbindung zwischen dem Rotor und einem Ende der Triebfeder wird erfindungsgemäß ergänzt um eine zwischen dem Rotor und der Gurtspule bestehende Verbindung. Hierfür ist gemäß Merkmal 1.7 zwischen Rotor und Gurtspule eine schaltbare Kupplung angeordnet.

52

Entsprechend dem eindeutigen Anspruchswortlaut trifft Merkmal 1.6 zum einen eine räumliche Festlegung, d. h. die Kupplung muss außerhalb des Rotors angesiedelt sein. Eine lediglich im Kraftfluss zwischen Rotor und Gurtspule befindliche, räumlich hingegen extern angesiedelte Kupplung wäre nicht anspruchsgemäß.

53

Die Kupplung muss außerdem schaltbar sein, d. h. es handelt sich nicht etwa um eine starre Kupplung zur dauerhaften Verbindung des Rotors mit der Gurtwelle, sondern um eine Kupplung, durch die zwischen verschiedenen Betriebsarten hin- und hergeschaltet werden kann.

54

d) Gemäß Merkmal 1.8 dient die Kupplung zur Übertragung eines Drehmoments vom Rotor auf die Gurtspule. Dadurch soll unterhalb der Auslöseschwelle für die Leistungsstraffung (d. h. in einer sog. Pre-Crash-Situation) eine Gurtvorstraffung bewirkt und dem Fahrzeuginsassen ein Sicherheitsgefühl bei starken Bremsungen, in der Vorstufe eines Unfalls oder bei unfallträchtigen Fahrsituationen vermittelt werden. Hierzu kann z. B. die Triebfeder durch den Elektromotor auf Block gewickelt werden, wobei die Feder sodann das weitergehende Drehmoment über die eingerückte Kupplung auf die Gurtspule zum Vorstraffen des Sicherheitsgurtes überträgt. Es soll aber auch möglich sein, diese Drehbewegung nur über eine eingerückte Kupplung auf die Gurtspule zu übertragen (Streitpatentschrift, Spalte 1, Zeilen 37 bis 48).

55

Die Kupplung soll zum Zwecke der Vorstraffung durch ein in einer Unfallvorstufe abgegebenes Signal geschaltet werden und dann ein von dem Elektromotor geliefertes Drehmoment vom Rotor auf die Gurtspule zur Vorstraffung des Sicherheitsgurtes übertragen.

II.

56

Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents ist neu. In keiner der von der Klägerin als neuheitsschädlich angesehenen Druckschriften war am Prioritätstag ein Gurtstraffer mit allen anspruchsgemäßen Merkmalen offenbart.

57

1. Die deutsche Offenlegungsschrift 43 32 205 A1 (D11) betrifft gemäß dortigem Patentanspruch 1 ein Dreipunkt-Sicherheitsgurtsystem mit einem Gurtstraffer, bei dem zur Milderung der Federrückzugskraft bei angelegtem Sicherheitsgurt ein gesteuertes Gegendrehmoment für die Wickelwelle (= Gurtspule) vorgesehen ist. Außerdem wird bei Überschreitung einer kritischen Geschwindigkeitsänderung eine Leistungsstraffung des Gurtbandes ausführt, wobei hierfür der Gurtstraffer am Gurtschloss angreift.

58

Aus dieser Entgegenhaltung gehen die Merkmale 1.1 bis 1.5 mit ausreichender Deutlichkeit hervor; auch wenn Teilmerkmale (wie das Vorhandensein eines Rahmens gemäß Merkmal 1.2, die Funktion der Feder als einer Triebfeder gemäß Merkmal 1.3 sowie die Wirkungsweise des Elektromotors gemäß Merkmal 1.5) nicht ausdrücklich beschrieben sind.

59

Bei dem in D11, Figur 2 (mit Beschreibung Spalte 3, Zeilen 55 ff.), gezeigten Ausführungsbeispiel ist die Wickelwelle mit einer Rückstellfeder verbunden. Außerdem ist ein von einem Elektromotor angetriebenes Antriebsrad (= Rotor) vorgesehen. Dieses ist jedoch nicht i. S. d. Merkmals 1.6 um einen sich in axialer Richtung an der Gurtspule erstreckenden Fortsatz an der Federseite des Gurtaufrollers angeordnet. Vielmehr befindet es sich neben der Wickelwelle 10, was für die Verwirklichung des Merkmals nicht ausreicht (s. o. I.3.b). Dies gilt unabhängig davon, ob die Ausgestaltung nach D11 eine ausreichende Drehverbindung zwischen dem Rotor und einem Ende der Triebfeder ermöglicht.

60

Auch die Merkmale 1.7 und 1.8 sind inD11 nicht verwirklicht. Zwar besteht dort zwischen dem Elektromotor 8 über ein Reibrad (= Rotor) 13 ein ständiger Kontakt mit der Wickelwelle (= Gurtspule) 10, wobei es auch als möglich angesehen wird, den Reibkontakt nur dann herzustellen, wenn eine Betätigung auf die Wickelwelle 10 ausgeübt werden soll (vgl. D11, Spalte 4, Zeilen 50 bis 54). Aber auf diese Weise kommt keine schaltbare Kupplung i. S. d. Merkmals 1.7 zustande. Hierfür fehlt es bereits an der räumlichen Anordnung zwischen Reibrad und Wickelwelle. Auch wird durch das bloße An- bzw. Ausschalten des Elektromotors nicht zwischen zwei Betriebsarten hin- und hergeschaltet (s. o. I.3.c). In D11 findet der Fachmann ferner keinen Hinweis darauf, dass die Antriebsverbindung zwischen dem Reibrad und der Reibfläche der Wickelwelle dazu benutzt wird, um entsprechend Merkmal 1.8 in Abhängigkeit von einem in einer Unfallvorstufe abgegebenen Signal ein von dem Elektromotor geliefertes Drehmoment zu übertragen.

61

2. Aus der deutschen Offenlegungsschrift 196 36 448 A1 (D12) ist eine Sicherheitsgurt-Aufrolleinrichtung bekannt, bei der jedenfalls die Merkmale 1.7 und 1.8 ebenfalls nicht verwirklicht sind.

62

Das in D12 beschriebene Fahrzeuginsassen-Rückhaltesystem hat einen Gurtspannungs-Mechanismus zur Steuerung der Drehung der Wickelwelle, wobei die Gurtspannungs-Steuerung auf Grund von Detektionssignalen eines Objektdetektors von statten geht (vgl. D12, Patentanspruch 1). Dieses System verfügt über einen Motor und ein Getriebe, das die Antriebskraft des Motors auf die Wickelwelle überträgt (vgl. D12, Patentanspruch 11). In D12, Figur 1, sind der Motor 40 und dessen Antriebswelle parallel zur Wickelwelle 4 angeordnet. Über eine Getriebekupplung 32 und einen zweiten Getriebemechanimus 39 wird die Antriebskraft auf Zähne 26a eines Antriebsrotors, dort als Getriebehalter 26 bezeichnet, übertragen (vgl. D12, Seite 8, Zeilen 8 bis 14). Die Getriebekupplungen liegen seitlich vom Antriebsrotor und damit nicht zwischen Rotor und Gurtspule.

63

3. In der US-Patentschrift 4,579,294 A (D13) ist ein Gurtaufroller (seat belt retractor 10) beschrieben, der unstreitig die Merkmale 1.1 bis 1.4 aufweist. Dieser Gurtaufroller hat eine erste, der Triebfeder 5 im Streitpatent entsprechende Feder 20, die eine bestimmte Drehrichtung aufweist und ein ständiges Vorspannen der Spule und damit des Gurtes bewirkt (vgl. D13, Patentanspruch 1). Weiter ist eine zweite, mit größerer Federkraft als die erste ausgestattete Feder 26 vorgesehen, die als Spiralfeder mit dem inneren Ende an der Antriebswelle und mit dem äußeren Ende an einem Rückspulantrieb 32 befestigt ausgebildet ist (vgl. D13, Patentanspruch 1, und Figur 1). Ein Motor 32 steht in Antriebsverbindung mit dem Rückspulantrieb 32 (vgl. Figur 1), beeinflusst aber nicht, wie Merkmal 1.5 es fordert, von der Triebfeder (erste Feder 20) bewirkte Funktionen.

64

Zwischen der ersten Feder 20 und der zweiten Feder 26 sind zum einen eine Reibplatte 52 und zum anderen eine Drehscheibe 50 vorgesehen, die im Notfall zur Übertragung eines Torsionsmoments kuppelbar sind (vgl. Patentanspruch 1, Merkmal g und Figur 1). Auch wenn man die Drehscheibe 52, die ein Teil der Kupplung darstellt, als Rotor auffasst, befinden sich die Kuppelteile 50, 52 nicht zwischen Rotor und Gurtspule, wie Merkmal 1.7 fordert, sondern zwischen der ersten Feder 20 und der zweiten Feder 26.

65

4. Die deutsche Offenlegungsschrift 28 28 297 A1 (D14) zeigt unstreitig die Merkmale 1.1 bis 1.5.

66

Die dortige Sicherheitsgurtanordnung hat eine von einem Elektromotor 7 angetriebene Gurtaufwickelvorrichtung, wobei der Elektromotor 7 in Abhängigkeit von der Stellung das Fahrpedals 13 des Fahrzeugs steuerbar ist (vgl. D14, Patentanspruch 1, und Figur 1). Der Elektromotor 7 ist über eine Kupplung mit der Gurtaufwickelvorrichtung 2 verbindbar (vgl. D14, Patentanspruch 4). Zur genauen örtlichen Anordnung der Kupplung sind D14 keine weitergehenden Angaben zu entnehmen. Das Merkmal 1.7 - eine schaltbare Kupplung ist zwischen dem Rotor und der Gurtspule angeordnet - geht daher entgegen der Auffassung der Klägerin nicht unmittelbar und eindeutig aus D14 hervor.

III.

67

Dem durch Patentanspruch 1 geschützten Gegenstand kann auch die erforderliche Erfindungshöhe nicht abgesprochen werden, weil er dem Fachmann am Prioritätstag durch die insoweit von der Klägerin in Betracht gezogenen Entgegenhaltungen nicht nahegelegt war.

68

1. Als möglichen Ausgangspunkt für Überlegungen des Fachmanns, die ihn zur Lehre des Streitpatents führen könnten, sieht die Klägerin die deutsche Offenlegungsschrift 197 31 689 A1 (D3) an.

69

Diese Druckschrift zeigt in Figur 2 einen Gurtaufroller, der eine an einem Rahmen 3 um eine dort als Wickelwellenachse 19 bezeichnete Achse drehbar gelagerte Gurtspule 2 für einen Sicherheitsgurt 32 aufweist. Eine Triebfeder 9 treibt dort die Gurtspule 2 in Aufwickelrichtung an. Auch ist eine Blockiereinrichtung 43, 48 zum Blockieren der Gurtspule gegen einen Bandauszug vorgesehen. Ein Elektromotor 2 beeinflusst von der Triebfeder 9 bewirkte Funktionen. Somit sind durch D3 die Merkmale 1.1 bis 1.5 offenbart.

70

Das Merkmal 1.6 geht aus der Entgegenhaltung D3 nur teilweise hervor. Ein als Getrieberad 13 bezeichneter Rotor ist um einen in axialer Richtung an der Gurtspule sich erstreckenden Fortsatzangeordnet und steht zur Verstellung der Kraft der Triebfeder in Drehverbindung mit wenigstens einem der beiden Enden der Triebfeder. Das Vorhandensein eines Fortsatzes kann dabei der Vorrichtung gemäß D3 nicht abgesprochen werden. Die Achse der Gurtspule, dort als Wickelwellenachse 19 bezeichnet, geht - wie der Fortsatz 7 gemäß Streitpatent - über in die Motorwellenachse 11, und der Teil, der über die Gurtspulenbreite hinausgeht (in Figur 2 auf der linken Seite ersichtlich), bildet im Sinne des Streitpatents den Fortsatz. Entgegen Merkmal 1.6 ist jedoch bei D3 der Rotor nicht auf der Federseite des Gurtaufrollers vorgesehen, sondern auf der der Federseite gegenüber liegenden Seite.

71

Die Merkmale 1.7 und 1.8 sind in D3 ebenfalls nicht verwirklicht. Gemäß D3, Spalte 4, letzter Absatz, und Spalte 5, erster Absatz, ist zur Erzielung der Strafferwirkung ein Elektromotor 3 vorgesehen, der sein Drehmoment über ein Getriebe 4 auf die Wickelwelle 1 überträgt. Auch wird dort eine Kupplung angesprochen, aber entgegen der Auffassung der Klägerin geht aus dieser Dokumentenstelle nicht hervor, wo die Kupplung genau angeordnet ist, und ebenfalls nicht, dass sie in Abhängigkeit von einem in einer Unfallvorstufe abgegebenen Signal ein vom Elektromotor geliefertes Drehmoment vom Rotor auf die Gurtspule zur Vorstraffung des Sicherheitsgurtes überträgt.

72

Der Entgegenhaltung D3 fehlt auch jeglicher Hinweis, der den Fachmann veranlassen könnte, die Feder auf die Rotorseite zu verlegen und zwischen dem Rotor und der Gurtspule eine schaltbare Kupplung vorzusehen. Denn in D3 wird eine andere Lösung verfolgt, die den Grad der Gurtstraffung über ein kuppelbares Getriebe mit unterschiedlichen Schaltstellungen und über einstellbare Gurtkraftbegrenzer 5 mit mehreren Lamellen vorsieht (vgl. A1).

73

2. Auch ausgehend von der deutschen Offenlegungsschrift 36 16 900 A1 (D16) konnte der Fachmann nicht zum Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents gelangen, ohne dabei erfinderisch tätig werden zu müssen.

74

Die Entgegenhaltung D16 zeigt in den Figuren 1 und 2 eine Gurt-Aufrollvorrichtung mit einem als Gehäuse 1 bezeichneten Rahmen, an dem eine um eine Achse drehbar gelagerte Aufrollwelle 2 (= Gurtspule) für einen Sicherheitsgurt 5 drehbar gelagert ist. Eine dort als Feder 4 bezeichnete Triebfeder treibt die Gurtspule 2 in Aufwickelrichtung an. Auch ist eine Blockiereinrichtung 6 zum Blockieren der Gurtspule gegen einen Bandauszug vorgesehen. Ein Elektromotor 25 beeinflusst von der Triebfeder 4 bewirkte Funktionen. Somit gehen auch aus dieser Druckschrift die Merkmale 1.1 bis 1.5 hervor.

75

Das Merkmal 1.6 ist bei D16 wiederum nur teilweise verwirklicht. Ein dort als Zahnrad 26 bezeichneter Rotor ist um einen in axialer Richtung an der Gurtspule sich erstreckenden Fortsatz angeordnet und steht zur Verstellung der Kraft der Triebfeder 4 in Drehverbindung mit wenigstens einem der beiden Enden der Triebfeder. Der Rotor befindet sich allerdings nicht auf der Federseite des Gurtaufrollers, sondern auf der der Federseite gegenüberliegenden Seite.

76

Vorrangig soll bei D16 situationsbedingt und in Abhängigkeit von der Fahrzeuggeschwindigkeit mittels der Gurtlockerungsvorrichtung 21, 22, 23, 24, 25 eine angemessene Gurtlose eingestellt werden. Durch Schaltimpulse, wie am Beispiel „Rückwärtsgang ein“ erläutert (D16, Seiten 21 ff.), wird der Sicherheitsgurt zu einem gewissen Grad zwangsweise aus der Aufrollvorrichtung nach beschriebener Betriebsart 4 ausgezogen. Über entsprechende Steuerungsschritte 62, 63, 64 wird ein spannungsloser Zustand des Sicherheitsgurtes hergestellt, um den Fahrer beim Rückwärtsfahren nicht durch unangenehme Spannungen zu beeinträchtigen. Wenn der Schalthebel wieder in die Normalstellung zurückgestellt ist, wird die registrierte Auszugslänge durch den Motor wieder verringert. Der Motor kann auch ausgestellt bleiben; der Sicherheitsgurt wird dann unter Wirkung der Rückholfeder 4 aufgerollt.

77

An eine Vorstraffung des Sicherheitsgurtes, die in Abhängigkeit von einem in einer Unfallvorstufe abgegebenen Signal durch Übertragung eines vom Elektromotor gelieferten Drehmoments vom Rotor auf die Gurtspule bewirkt wird (Merkmal 1.8), ist in der Druckschrift D16 nirgendwo die Rede.

78

Auch eine Verlegung des Rotors auf die Federseite wird der Fachmann, ausgehend von D16, nicht in Betracht ziehen, weil nach dem Aufbau der dortigen Vorrichtung ganz bewusst zwischen Feder- und Antriebseite getrennt wird.

79

Ebenso war der Fachmann durch D16 nicht angeregt, eine schaltbare Kupplung so zwischen dem Rotor und der Gurtspule einzubauen, dass sie i. S. d. Merkmals 1.8 in Abhängigkeit von einem in einer Unfallvorstufe abgegebenen Signal ein vom Elektromotor geliefertes Drehmoment vom Rotor auf die Gurtspule zur Vorstraffung des Sicherheitsgurtes überträgt. Denn die Entgegenhaltung D16 verfolgt ein völlig anderes, aus einem motorbetriebenen Gurtlockerungsmechanismus mit einem Planetengetriebe bestehendes Konzept (vgl. D16, Patentansprüche 1, 5 und 7).

80

Auch wenn strittige Einzelmerkmale bei isolierter Betrachtung der Entgegenhaltung D16 entnehmbar sind, so führt dennoch von dieser Schrift - ohne rückschauende Betrachtung - kein Weg zum Gegenstand des Streitpatents, insbesondere zu dessen Aufbau mit Anordnung der schaltbaren Kupplung auf der Federseite und dem Zusammenwirken von Rotor und Gurtspule in einer Unfallvorstufe.

81

3. Der weitere Stand der Technik ist von der Klägerseite nicht weiter aufgegriffen worden und ist weder allein noch in einer Zusammenschau relevant.

IV.

82

Der auf den Nichtigkeitsgrund der unzulässigen Erweiterung (§ 22 Abs. 1 i. V. m. § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG) gestützte, erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 14. April 2016 vorgebrachte Angriff der Klägerin bleibt für die im vorliegenden Verfahren zu treffende Entscheidung unberücksichtigt. Dabei kann dahin gestellt bleiben, ob die hiermit verbundene Klageänderung, der die Beklagte nicht zugestimmt hat, als sachdienlich i. S. d. § 99 PatG i. V. m. § 263 ZPO anzusehen wäre. Denn jedenfalls liegen hier die Voraussetzungen des § 83 Abs. 4 PatG für eine Zurückweisung des neuen Angriffsmittels vor:

83

1. In dem frühen gerichtlichen Hinweis vom 15. Dezember 2015 hat der Senat den Parteien für sachdienliche Anträge und ergänzendes Vorbringen eine Frist bis zum 19. Februar 2016, zur Erwiderung auf Stellungnahmen der jeweiligen Gegenpartei eine weitere Frist bis zum 24. März 2016 gesetzt. Diese Fristen hat die Klägerin überschritten, als sie den zusätzlichen Nichtigkeitsgrund erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 14. April 2016 geltend gemacht hat.

84

2. Die Berücksichtigung des neuen Vortrags hätte eine Vertagung der mündlichen Verhandlung erforderlich gemacht (§ 83 Abs. 4 Nr. 1 PatG). Dies ergibt sich daraus, dass die Klägerin den Vorwurf der unzulässigen Erweiterung auf die Merkmale 1.6 und 1.7 des Gegenstands von Patentanspruchs 1 bezieht, d. h. insbesondere auch auf das Merkmal der „schaltbaren Kupplung“, das für die Patentfähigkeit des Anspruchsgegenstandes von maßgeblicher Bedeutung ist.

85

Sollte etwa dieses, den Anspruchsgegenstand einschränkende Merkmal in den ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen nicht als zur Erfindung gehörig offenbart sein, so hätte dies zur Folge, dass es zwar im Patentanspruch verbliebe, jedoch nicht zur Stützung der Patentfähigkeit herangezogen werden dürfte (BGH GRUR 2011, 40, 42 - Winkelmesseinrichtung). Grundlage der Prüfung wäre dann ein Gurtaufroller, bei dem zwischen Rotor und Gurtspule keine schaltbare Kupplung vorgesehen ist. Ein solcher, gegenüber der erteilten Anspruchsfassung erweiterter Patentgegenstand hätte vom Senat erstmals auf seine Patentfähigkeit geprüft werden, und das Ergebnis der Prüfung hätte mit den Parteien - nach Einräumung einer ausreichenden Überlegungsfrist - erörtert werden müssen. Ggf. hätte der Beklagten auch eine Frist zur (hilfsweisen) Vorlage einer geänderten Anspruchsfassung eingeräumt werden müssen.

86

Auf Grund der dadurch hervorgerufenen Verzögerungen hätte das Verfahren nicht mehr an dem vorgesehenen Sitzungstag zu Ende gebracht werden können. Insbesondere wäre es für die Beklagte nicht zumutbar gewesen, sich aus dem Stand zum neuen Nichtigkeitsgrund zu äußern, so dass eine Vertagung erforderlich gewesen wäre (vgl. BGH GRUR 2004, 354, 355 - Crimpwerkzeug).

87

3. Die Klägerin hat die verspätete Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes der unzulässigen Erweiterung nicht genügend entschuldigt (§ 83 Abs. 4 Nr. 2 PatG). Ein Grund, weshalb die (angebliche) unzulässige Erweiterung bzgl. der Merkmal 1.6 und 1.7 nicht rechtzeitig gerügt worden ist, wurde von der Klägerin nicht genannt und ist auch nicht erkennbar.

88

4. Die Parteien wurden in dem frühen gerichtlichen Hinweis vom 15. Dezember 2015 über die Folgen einer Fristversäumung belehrt (§ 83 Abs. 4 Nr. 3 PatG).

89

5. Es besteht im vorliegenden Fall auch kein Anlass, trotz Vorliegens der in § 83 Abs. 4 PatG genannten Voraussetzungen von einer Zurückweisung des verspätet vorgebrachten Angriffsmittels abzusehen. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass die Zurückweisung auf Seiten der Klägerin zu einer besonderen Härte führt. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass diese nicht gehindert ist, den Nichtigkeitsgrund der unzulässigen Erweiterung im Rahmen einer erneuten Nichtigkeitsklage geltend zu machen.

IV.

90

Somit hat Patentanspruch 1 in seiner erteilten Fassung Bestand, und mit ihm die auf ihn rückbezogenen, mit der Klage angegriffenen Unteransprüche 2, 3, 5, 19 und 21, weshalb die Klage insgesamt abzuweisen war.

91

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.