Entscheidungsdatum: 19.02.2013
I.
Der Kläger begehrt von der beklagten evangelischen Kirchengemeinde, das nach Angaben der Beklagten seit mindestens 1756 werktäglich um 6:00 Uhr über zwei Minuten mit einem Ausklang von 15 Sekunden stattfindende Läuten der großen Betglocke zu unterlassen.
Er ist Eigentümer und Bewohner eines Hauses, das ca. 68 m von der Konradskirche der Beklagten entfernt liegt. Er sieht sich durch das Glockengeläut insbesondere in seiner positiven und negativen Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verletzt. Während der Zeit, die er zum Meditieren und Lesen der Bibel nutze, werde er gezwungen, ein akustisches religiöses Zeichen wahrzunehmen, das nicht bekenntnisnotwendig sei, sondern auf einen vorchristlichen Kult zurückgehe.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung zurückgewiesen. Dem Kläger stehe der geltend gemachte Unterlassungsanspruch nicht zu. Die von dem Glockengeläut ausgehende akustische Beeinträchtigung liege unterhalb der Schwellenwerte der TA Lärm. Zudem sei das Glockengeläut herkömmlich, sozialadäquat und allgemein akzeptiert; auch die Dauer des Geläuts sei unbedenklich. Aus den Grundrechten des Klägers folge nichts anderes. In der Kollision der Religionsfreiheit des Klägers mit der Religionsfreiheit und dem körperschaftlichen Selbstbestimmungsrecht der Beklagten liege der schonende Ausgleich in der Beachtung der immissionsschutzrechtlichen Grenzwerte.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich Beschwerde des Klägers.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die Revision ist nicht wegen des allein geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Der Kläger hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
1. welche Grenzen nach der Wertordnung des Grundgesetzes dem Läuterecht der Kirchen als einem durch Art. 4 Abs. 2 GG geschützten Akt der Religionsausübung neben den Regelungen des Immissionsschutzrechts gesetzt sind, nämlich,
a) ob - gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen - der Staat zum Einschreiten gegen liturgisches Glockengeläut trotz Einhaltung der maßgebenden Immissionsschutzwerte zum Schutz der kollidierenden Bekenntnisfreiheit Betroffener verpflichtet sein kann, oder
b) ob die Einhaltung der Grenzwerte in jedem Fall und ohne weitere Voraussetzungen den gebotenen Ausgleich zwischen den kollidierenden Grundrechten und dem körperschaftlichen Selbstbestimmungsrecht der Kirche (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) - auch mit Rücksicht auf den Grundsatz der Sozialadäquanz - abschließend vornimmt,
2. ob nicht zumindest die Uhrzeit(en) - hier zwischen 6:00 und 8:00 Uhr morgens - und die Dauer des Glockengeläuts von bestimmendem Einfluss für die Beantwortung der Frage sind, ob Unterlassungsansprüche gegen das Läuten jenseits der Einhaltung der Grenzwerte insbesondere dann gegeben sein können, wenn das liturgische Geläut nicht bekenntnisnotwendig ist und daher allenfalls kulturell oder aus der Tradition heraus gerechtfertigt sein kann und
3. ob bei der Frage des schonenden Ausgleichs der kollidierenden (Grundrechts-)Interessen auch der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG jedenfalls dann Anwendung finden muss, wenn - wie ebenfalls vorliegend - die Kirche selbst ihrem Selbstbestimmungsrecht bindende Regeln vorgibt, wann, wo und zu welcher Zeit liturgisches Glockengeläut stattfinden darf.
Diese Fragen rechtfertigen die Zulassung der Revision sämtlich nicht. Jedenfalls die Fragen zu 1 und 2 sind - soweit sie sich in verallgemeinerungsfähiger Weise beantworten lassen - in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auch der Verwaltungsgerichtshof seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, geklärt.
Danach steht einem Nachbarn ein Unterlassungsanspruch gegen Glockengeläut nur nach Maßgabe dessen zu, was § 22 Abs. 1 BImSchG an Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen gewährt (Urteil vom 7. Oktober 1983 - BVerwG 7 C 44.81 - BVerwGE 68, 62 <66> = Buchholz 11 Art. 140 GG Nr. 32 S. 11 <14>). § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG setzt damit dem verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht der Kirche aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV und der von Art. 4 Abs. 2 GG geschützten freien Religionsausübung eine Grenze.
Wann Geräusche die Schwelle schädlicher Umwelteinwirkungen überschreiten, also die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft erheblich belästigen (§ 3 Abs. 1 BImSchG), unterliegt weitgehend tatrichterlicher Wertung und ist folglich eine Frage der Einzelfallbeurteilung. Diese richtet sich insbesondere nach der durch die Gebietsart und die tatsächlichen Verhältnisse bestimmten Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit, wobei wertende Elemente wie die Herkömmlichkeit, die Sozialadäquanz und die allgemeine Akzeptanz mitbestimmend sind. Das Regelwerk der TA Lärm ist dabei für die Beurteilung der Zumutbarkeit von Glockengeläut prinzipiell geeignet (Urteil vom 30. April 1992 - BVerwG 7 C 25.91 - BVerwGE 90, 163 <165 f.> = Buchholz 406.25 § 22 BImSchG Nr. 10 S. 35 <37>).
Glockengeläut, das sich nach Zeit, Dauer und Intensität im Rahmen des Herkömmlichen hält, stellt regelmäßig keine erhebliche Belästigung, sondern auch in einer säkularisierten Gesellschaft eine zumutbare, sozialadäquate Einrichtung dar. Es muss daher von sich gestört fühlenden Einzelpersonen oder Personengruppen - auch unter dem Gebot gegenseitiger Toleranz - hingenommen werden (Beschluss vom 2. September 1996 - BVerwG 4 B 152.96 - Buchholz 406.25 § 22 BImSchG Nr. 15 S. 10 <11>; Urteil vom 7. Oktober 1983 a.a.O. S. 68). Darauf, aus welchen individuellen Gründen sich der betroffene Nachbar durch das Glockengeläut gestört fühlt, kommt es insoweit nicht an.
Die Einhaltung oder Überschreitung der Immissionsrichtwerte der TA Lärm stellt einen wesentlichen Aspekt für die Bewertung der Sozialadäquanz von Glockengeläut dar. Werden - wie dies hier nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und für den Senat daher bindenden Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichtshofs der Fall ist - die maßgeblichen Richtwerte eingehalten und bewegt sich das Glockengeläut auch im Übrigen, namentlich nach Zeit und Dauer, im Rahmen des Herkömmlichen, werden die Grenzen des Zumutbaren nicht überschritten. Dabei kann die Zeit der Nachtruhe um 6:00 Uhr regelmäßig als beendet gelten; hiervon geht auch die TA Lärm in Nr. 6.4 aus (vgl. Urteil vom 7. Oktober 1983 a.a.O. S. 68).
Abweichendes gilt etwa dann, wenn die Geräuschimmissionen den üblichen Rahmen einer sozialadäquaten Einwirkung übersteigen oder ein Missbrauch des Läuterechts vorliegt oder gar von dem Läuterecht ein derart exzessiver Gebrauch gemacht wird, dass für den Nachbarn die Gefahr eines gesundheitlichen Schadens herbeigeführt und damit das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt würde (Urteil vom 7. Oktober 1983 a.a.O. S. 69). Wann dies jeweils der Fall ist, entzieht sich weitgehend einer abstrakten Beantwortung.
Die unter Nr. 3 aufgeworfene Grundsatzfrage geht, soweit sie auf bindende innerkirchliche Regeln zum Glockengeläut abstellt, von Tatsachenfeststellungen aus, die der Verwaltungsgerichtshof nicht getroffen hat. Abgesehen davon betrifft die Frage, ob und inwieweit der vom Kläger vorgelegte Glockenerlass der Evangelischen Landeskirche in Württemberg vom 21. September 1967 eine Verpflichtung der Beklagten begründet, mit dem morgendlichen Gebetsläuten nicht vor 7:00 Uhr zu beginnen, eine innerkirchliche Angelegenheit, über die der Senat nicht zu befinden hat. Für die Bewertung der Sozialadäquanz des traditionellen Glockengeläuts nach immissionsschutzrechtlichen Maßstäben kommt es hierauf nicht an.