Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 20.12.2018


BVerwG 20.12.2018 - 6 B 94/18

Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsdatum:
20.12.2018
Aktenzeichen:
6 B 94/18
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2018:201218B6B94.18.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 9. November 2017, Az: 19 A 997/02, Urteilvorgehend VG Düsseldorf, 2. November 2001, Az: 1 K 10519/98, Urteil

Leitsätze

1. Die sich aus § 144 Abs. 6 VwGO ergebende Selbstbindung des Bundesverwaltungsgerichts bei der erneuten Befassung mit einer Streitsache schließt die Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung und Divergenz in Bezug auf Rechtsfragen aus, die an der Bindungswirkung teilnehmen.

2. Grundsatz- und Divergenzrügen der Verfahrensbeteiligten, die in der Sache einen Verstoß gegen die Bindung nach § 144 Abs. 6 VwGO geltend machen, sind als Verfahrensrügen im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO auszulegen.

3. Die Eigenschaft eines Dachverbandes als Religionsgemeinschaft im Sinne von Art. 7 Abs. 3 Satz 2, Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 ff. WRV setzt unter anderem voraus, dass er Aussagen in Fragen der Glaubensinhalte und der sich daraus ergebenden Verhaltensanforderungen sowie des religiösen Kults trifft, die Autorität genießen. Strikte Verbindlichkeit der Aussagen ist nicht erforderlich (im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 23. Februar 2005 - 6 C 2.04 - BVerwGE 123, 49).

Gründe

I

1

Die Kläger streben die Einrichtung islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen in Nordrhein-Westfalen an. Sie sind bundesweit tätige Zusammenschlüsse von islamischen Verbänden (Dachverbände) in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Sie bezeichnen sich als islamische Religionsgemeinschaften. Dem Kläger zu 1 gehören Landesverbände an, die rund 240 Moscheegemeinden und deren Mitglieder vertreten. Bei dem Kläger zu 2 sind islamische Verbände und Gemeinschaften sowie Jugend- und Studentenvereine organisiert.

2

Die Ziele und Aufgaben der Kläger sind in ihren Vereinssatzungen festgelegt. Danach fördert der Kläger zu 1 die islamische Religion und deren Pflege in den Mitgliedsverbänden. Zu diesem Zweck führt er unter anderem religiöse Bildungsveranstaltungen durch und erstellt Informationsschriften und Lehrpläne. Er legt die Gebetszeiten, die islamischen Feiertage sowie Beginn und Ende des Fastenmonats Ramadan fest und klärt die Halal betreffenden Fragen. Bei dem Kläger zu 1 ist ein islamischer Gelehrtenrat eingerichtet, dem nach der Satzung die religiöse Unterweisung der Gläubigen, die Mitwirkung bei der Ausbildung von Imamen und Moscheeverantwortlichen sowie die Abgabe von Stellungnahmen und Gutachten zu religiösen Fragen obliegt. Diese haben empfehlenden Charakter. Die Satzung trifft keine Aussage darüber, wie der Kläger zu 1 religiösen Leitlinien gegenüber den Verantwortlichen und Mitgliedern der Moscheegemeinden Geltung verschaffen kann. Der Kläger zu 2 fördert die Lehre des islamischen Glaubens und die Bewahrung islamischer Werte. Ein Vorstandsmitglied (Sheikh ul-Islam) ist als geistlicher Leiter verantwortlich für religiöse Angelegenheiten und Lehrentscheidungen.

3

Die Klagen mit dem Ziel, das beklagte Land zur Einführung islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen nach den religiösen Grundsätzen der Kläger zu verpflichten, sind in den Tatsacheninstanzen erfolglos geblieben. Auf die Revisionen der Kläger hat das Bundesverwaltungsgericht durch Urteil vom 23. Februar 2005 - 6 C 2.04 - (BVerwGE 123, 49) das Berufungsurteil des Oberverwaltungsgerichts aufgehoben und die Sache an dieses Gericht zurückverwiesen. In den Gründen heißt es, den Klägern könne der geltend gemachte Anspruch zustehen, wenn sie Religionsgemeinschaften seien und die Grundsätze der Verfassungsordnung des Grundgesetzes respektierten. Auch Dachverbände könnten Religionsgemeinschaften sein. Hierfür sei unter anderem erforderlich, dass sie mit ihren Untergliederungen und deren Mitgliedern durch ein organisatorisches Band verbunden seien und mit Kompetenz und Autorität Aufgaben im Bereich der religiösen Lehre wahrnähmen, die für die Identität der Religionsgemeinschaft wesentlich seien. Die Tatsachenfeststellungen des Oberverwaltungsgerichts reichten nicht aus, um abschließend beurteilen zu können, ob die Kläger diese Voraussetzungen erfüllten.

4

Nach der Wiederaufnahme des rund zehn Jahre lang ruhenden Verfahrens hat das Oberverwaltungsgericht die Berufungen der Kläger gegen das erstinstanzliche Urteil erneut zurückgewiesen. In den Gründen heißt es, nach den Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts seien die Kläger keine Religionsgemeinschaften. Der Kläger zu 1 nehme bereits keine Lehraufgaben wahr, weil die Äußerungen seines islamischen Gelehrtenrats in religiösen Fragen nach der Vereinssatzung lediglich unverbindliche Empfehlungen darstellten. Die Satzung gebe dem Kläger zu 1 keine Handhabe, religiösen Leitlinien innerhalb des Gesamtverbandes Geltung zu verschaffen. Die Bestimmung der Gebetszeiten und der islamischen Feiertage reichten nicht aus; für die Festlegung des Fastenmonats seien die Islamverbände seit 2008 gemeinsam zuständig.

5

Aus den Angaben der Kläger gehe nicht hervor, dass sie in Fragen der religiösen Lehre Autorität in Anspruch nähmen. Denn es sei nicht erkennbar, welche Standpunkte sie in zentralen religiösen Konfliktfragen des Islam in Deutschland wie dem Verhältnis von Grundgesetz und Scharia, der Stellung der Frau und der religiösen Toleranz verträten.

6

Mit ihren Nichtzulassungsbeschwerden machen die Kläger vor allem geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Nach Auffassung des Klägers zu 1 hat das Oberverwaltungsgericht die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Lehrautorität durch einen religiösen Dachverband sowie für deren Geltungsanspruch und Durchsetzung zu streng gehandhabt. Die Rechtsansichten des Oberverwaltungsgerichts trügen dem Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften nicht Rechnung. In einem Revisionsverfahren müsse insbesondere geklärt werden, ob die Eigenschaft eines Dachverbands als Religionsgemeinschaft davon abhängig gemacht werden dürfe, dass dessen religiöse Lehrmeinungen für die nachgeordneten Ebenen und die Gläubigen verbindlich seien, Vorrang gegenüber abweichenden Lehrmeinungen besäßen und organisatorisch durchsetzbar seien.

7

Der Kläger zu 2 rügt als Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, dass das Oberverwaltungsgericht den Begriff der Religionsgemeinschaft an ein verbindliches Lehramt geknüpft habe. Dies widerspreche dem Selbstverständnis des Islam. Auch sei gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO klärungsbedürftig, ob religiöse Lehrautorität Verbindlichkeit voraussetze oder die Beachtung der Lehrmeinungen den Gläubigen überlassen bleiben könne, ob es für deren Wahrnehmung auf die Satzung oder das tatsächliche Geschehen ankomme und ob eine umfassende Beratungstätigkeit des Dachverbands in religiösen Fragen sowie die Repräsentation des Gesamtverbandes gegenüber Staat und Öffentlichkeit für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft ausreiche.

8

Zusätzlich erheben beide Kläger verschiedene Gehörs- und Aufklärungsrügen.

II

9

Die Nichtzulassungsbeschwerden haben mit der Maßgabe Erfolg, dass das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist, weil das Berufungsurteil auf einem Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO beruht (§ 133 Abs. 6 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat die sich aus § 144 Abs. 6 VwGO ergebende Bindungswirkung des Revisionsurteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Februar 2005 - 6 C 2.04 - (BVerwGE 123, 49) nicht hinreichend beachtet.

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1. Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO oder Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO kommt nicht in Betracht. Denn der entsprechende Beschwerdevortrag der Kläger betrifft allesamt Rechtsfragen, die das Bundesverwaltungsgericht in dem Revisionsurteil vom 23. Februar 2005 - 6 C 2.04 - (BVerwGE 123, 49) beantwortet hat. Aus § 144 Abs. 6 VwGO folgt, dass das Bundesverwaltungsgericht in der vorliegenden Streitsache daran gehindert ist, seine damalige rechtliche Beurteilung aus Anlass der erneuten Befassung zu überdenken und zu ändern.

11

a) Hebt das Bundesverwaltungsgericht ein Berufungsurteil auf und verweist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurück, hat dieses seiner erneuten Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde zu legen (§ 144 Abs. 6 VwGO). Gelangt die Sache nach Erlass des zweiten Berufungsurteils erneut in die Revisionsinstanz, ist das Bundesverwaltungsgericht an sein erstes Revisionsurteil in gleichem Umfang wie zuvor das Oberverwaltungsgericht gebunden. Diese Selbstbindung wird aus dem Zweck des § 144 Abs. 6 VwGO hergeleitet, der den Verfahrensbeteiligten Rechtssicherheit für die weitere Prozessführung geben und ein Hin- und Herschieben der Streitsache zwischen den Instanzen vermeiden soll. Die Selbstbindung entfällt, soweit das Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung zu entscheidungstragenden rechtlichen Erwägungen des ersten Revisionsurteils geändert hat (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 6. Februar 1973 - GemS-OBG 1/72 - BVerwGE 41, 363 <367 ff.>). Allerdings darf es die Rechtsprechung nicht in derjenigen Streitsache ändern, mit der es erneut befasst wird, weil ein Verfahrensbeteiligter gegen das zweite Berufungsurteil des Oberverwaltungsgerichts vorgeht (BVerwG, Urteil vom 22. Juni 1977 - 8 C 49.76 - BVerwGE 54, 116 <123 f.>; Beschluss vom 16. September 2011 - 8 B 32.11 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 79 Rn. 4; vgl. zum Ganzen Eichberger/Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Band II, Stand: Juni 2017, § 144 Rn. 130).

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b) Aufgrund dieser Selbstbindung des Bundesverwaltungsgerichts macht ein erneutes Revisionsverfahren in Bezug auf bereits beantwortete Rechtsfragen keinen Sinn. Ein Verstoß des Oberverwaltungsgerichts gegen die Bindungswirkung nach § 144 Abs. 6 VwGO stellt einen Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dar. Daher sind Rügen eines Verfahrensbeteiligten gegen Rechtsansichten des Oberverwaltungsgerichts, auf denen das zweite Berufungsurteil in der Streitsache beruht, ungeachtet der Bezeichnung als Grundsatz- oder Divergenzrügen als Verfahrensrügen im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO auszulegen, wenn der Verfahrensbeteiligte in der Sache geltend macht, das Oberverwaltungsgericht habe die Bindungswirkung nach § 144 Abs. 6 VwGO nicht beachtet (BVerwG, Beschlüsse vom 29. Juni 1977 - 5 B 88.76 - Buchholz § 132 VwGO Nr. 154 S. 30 f.; vom 17. März 1994 - 3 B 24.93 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 57 S. 1 und vom 21. August 1997 - 8 B 151.97 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 65 S. 8; stRspr).

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c) Die Bindung des Oberverwaltungsgerichts nach § 144 Abs. 6 VwGO - und damit die Selbstbindung des Bundesverwaltungsgerichts - erstreckt sich auf alle rechtlichen Gesichtspunkte, die die Revisionsentscheidung tragen. Dies sind zum einen diejenigen entscheidungstragenden Erwägungen, die das Bundesverwaltungsgericht abweichend vom Oberverwaltungsgericht beurteilt hat. Zum anderen werden rechtliche Erwägungen erfasst, die notwendige Voraussetzung für die unmittelbaren Aufhebungsgründe sind (BVerwG, Urteile vom 30. Mai 1973 - 8 C 159.72 - BVerwGE 42, 243 <246 f.> und vom 28. November 2012 - 8 C 21.11 - BVerwGE 145, 122 Rn. 22; Beschlüsse vom 21. August 1997 - 8 B 151.97 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 65 S. 8 und vom 4. Juli 2013 - 2 B 76.12 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 80 Rn. 9; stRspr). Die Bindung entfällt nur, soweit sich nach Erlass des Revisionsurteils die Sach- und Rechtslage ändert. Dies ist der Fall, wenn eine Rechtsnorm, die Gegenstand der bindenden rechtlichen Beurteilung ist, inhaltlich geändert wird oder außer Kraft tritt, oder sich der entscheidungserhebliche Streitstoff ändert (BVerwG, Urteile vom 30. Mai 1973 - 8 C 159.72 - BVerwGE 42, 243 <247> und vom 28. November 2012 - 8 C 21.11 - BVerwGE 145, 122 Rn. 23 ff.; Beschluss vom 27. Juli 2017 - 6 B 41.17 [ECLI:DE:BVerwG:2017:270717B6B41.17.0] - juris Rn. 26; stRspr).

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2. a) Nach Art. 7 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG steht Religionsgemeinschaften ein verfassungsunmittelbarer Anspruch gegen den Schulträger zu, dass dieser an öffentlichen Schulen, die nicht bekenntnisfrei sind, einen ihren Glaubensinhalten entsprechenden Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach einrichtet. Der Begriff der Religionsgemeinschaft im Sinne von Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG ist gleichbedeutend mit dem Begriff der Religionsgesellschaft in Art. 136 ff. der Weimarer Reichsverfassung - WRV -, die nach Art. 140 GG Bestandteil des Grundgesetzes sind. Danach ist unter einer Religionsgemeinschaft ein Verband zu verstehen, der die Angehörigen eines religiösen Bekenntnisses oder verwandter Bekenntnisse zur allseitigen Erfüllung der durch das Bekenntnis gestellten Aufgaben zusammenfasst. Dies ist nach dem geistigen Gehalt und dem Erscheinungsbild des Verbandes zu beurteilen; dessen Behauptung, nach seinem Selbstverständnis eine Religionsgemeinschaft zu sein, reicht nicht aus (BVerwG, Urteil vom 23. Februar 2005 - 6 C 2.04 - BVerwGE 123, 49 <52 ff.> m.w.N.).

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b) Davon ausgehend hat das Bundesverwaltungsgericht in dem Urteil vom 23. Februar 2005 - 6 C 2.04 - (BVerwGE 123, 49) mit Bindungswirkung nach § 144 Abs. 6 VwGO Anforderungen entwickelt, die Dachverbände wie die Kläger, die zusammen mit selbständigen Untergliederungen in Form von fachorientierten Vereinigungen und örtlichen Kultusgemeinden einen mehrstufigen Verband bilden, erfüllen müssen, um als Teil des Gesamtverbandes eine Religionsgemeinschaft zu sein:

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Erstens müssen die verschiedenen Stufen des Gesamtverbandes durch ein organisatorisches Band zusammengehalten werden, das vom Dachverband bis zu den Gläubigen in den Gemeinden reicht, in denen das religiöse Leben stattfindet. Diese Anforderung hat das Bundesverwaltungsgericht bei den Klägern als erfüllt angesehen. Zweitens müssen die Gemeinden, in denen das religiöse Leben der Gläubigen, insbesondere die Ausübung des Kults, stattfindet, prägenden Einfluss auf den Dachverband haben. Drittens muss der Dachverband für die Wahrnehmung von Aufgaben zuständig sein, die für die Identität der Religionsgemeinschaft wesentlich sind (identitätsstiftende Aufgaben). Dies können auf der Dachverbandsebene nur Leitungsaufgaben in Bezug auf die Pflege des religiösen Bekenntnisses sein. Soziale, kulturelle und wissenschaftliche Aufgaben reichen nicht aus, auch wenn sie auf der Grundlage des Bekenntnisses wahrgenommen werden. Die Bekenntnispflege betrifft Aussagen über Glaubensinhalte und -überzeugungen, z.B. die Auslegung der Heiligen Schriften, auf denen das Bekenntnis beruht, über die sich daraus ergebenden Verhaltensanforderungen für die Gläubigen sowie über die religiöse Bedeutung und Gestaltung der Kulthandlungen des Bekenntnisses.

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Die Wahrnehmung von Leitungsaufgaben in Bekenntnisfragen setzt voraus, dass bei dem Dachverband die theologische Kompetenz vorhanden ist, die erforderlich ist, um religiöse Fragen zu beantworten. Hierfür kann bei dem Dachverband ein organisatorisch selbständiges Gremium eingerichtet oder ein theologischer Leiter bestellt sein. Das Qualifikationsniveau für die theologische Kompetenz darf der Staat nicht vorgeben. Seine Festlegung wird von dem durch Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften umfasst. Es ist deren Sache zu bestimmen, welche Qualifikation sie nach ihrem Selbstverständnis für erforderlich halten.

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Hinzukommen muss, dass der Dachverband bzw. die zuständige Stelle oder Person bei der Erfüllung ihrer Aufgaben in Bezug auf die Bekenntnispflege Autorität genießen. Dies ist nur möglich, wenn ihre Erkenntnisse in religiösen Fragen reale Geltung für die in religiösen Angelegenheiten Verantwortlichen und für die Gläubigen haben, die dem religiösen Gesamtverband angehören. Hierfür müssen die Erkenntnisse diesem Personenkreis vermittelt werden. Werden sie den Verantwortlichen und den Gläubigen nicht zur Kenntnis gebracht, so müssen diese zumindest die Möglichkeit haben, sich auf einfache Weise zuverlässig Kenntnis zu verschaffen. Auch kann Autorität nur erlangt werden, wenn die Lehrtätigkeit nicht nur vereinzelt, sondern beständig in einem gewissen Umfang ausgeübt wird.

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Dagegen darf der Staat für die Annahme einer Religionsgemeinschaft nicht verlangen, dass die Erkenntnisse der theologisch kompetenten Stelle zu Glaubensinhalten und daraus abgeleiteten Verhaltensanforderungen verbindlich sind, d.h. von den religiös Verantwortlichen und den Gläubigen als verpflichtend anerkannt und auf der Grundlage des Bekenntnisses nicht in Frage gestellt werden. Es ist Bestandteil des vom Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 3 WRV erfassten Selbstverständnisses einer Religionsgemeinschaft, ob sie ein verbindliches Lehramt in Fragen des Bekenntnisses für geboten hält. Daher ist Autorität jedenfalls dann gegeben, wenn die Lehrmeinungen in Glaubensfragen respektiert werden. Die Erkenntnisse müssen jedenfalls ein solches Gewicht haben, dass sich die religiös Verantwortlichen und die Gläubigen daran orientieren. Diese müssen ihre Glaubensüberzeugungen und ihr dadurch motiviertes Verhalten an den Erkenntnissen ausrichten oder zumindest auf deren Grundlage ernsthaft überdenken.

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Schließlich hat das Bundesverwaltungsgericht in dem Urteil vom 23. Februar 2005 - 6 C 2.04 - (BVerwGE 123, 49) bindend entschieden, dass Religionsgemeinschaften ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Einrichtung eines ihren Glaubensinhalten entsprechenden Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen nur zusteht, wenn sie Gewähr dafür bieten, Grundlagen der Verfassungsordnung des Grundgesetzes wie die Grundrechte, insbesondere die Religionsfreiheit oder die freiheitliche Ausrichtung des Staatskirchenrechts nicht zu gefährden.

21

3. Die Kläger haben nach § 133 Abs. 3 VwGO hinreichend dargelegt, dass das Oberverwaltungsgericht in dem angefochtenen Berufungsurteil die nach § 144 Abs. 6 VwGO bindenden Anforderungen nicht hinreichend beachtet hat.

22

a) Das Oberverwaltungsgericht hat den geltend gemachten Anspruch beider Kläger mit der Erwägung verneint, dass sie in Lehrfragen keine Autorität mit realer Geltung bis in die Moscheegemeinden wahrnähmen. Diesen Schluss hat das Gericht darauf gestützt, die Angaben der Kläger ließen nicht erkennen, welchen Standpunkt sie in zentralen religiösen Konfliktfragen des Islam in Deutschland wie der "Vorrangfrage Grundgesetz - Scharia", der "Stellung der Frau" und der "religiösen Toleranz" verträten und wie sie in diesen Fragen Einfluss auf die Gläubigen nähmen.

23

Nach den Ausführungen unter 2. ist diese Begründung nicht geeignet, den vom Oberverwaltungsgericht gezogenen Schluss auf das Fehlen von Autorität der Kläger in Lehrfragen zu tragen. Aufgrund der Bindung nach § 144 Abs. 6 VwGO hätte das Oberverwaltungsgericht zur Beurteilung der Lehrautorität feststellen müssen, ob und in welchem Umfang die bei den Klägern für religiöse Fragen eingerichteten Stellen, d.h. der islamische Gelehrtenrat des Klägers zu 1 und der geistliche Leiter (Sheikh ul-Islam) des Klägers zu 2, Lehrmeinungen in Bezug auf Glaubensinhalte und sich daraus ergebende Verhaltensanforderungen in nennenswerter Zahl abgeben, ob die Verantwortlichen und Mitglieder der Moscheegemeinden von den Lehrmeinungen zuverlässig Kenntnis erlangen und ob sie sich daran orientieren. Demgegenüber hat das Oberverwaltungsgericht seine Auffassung entscheidungstragend auf Gesichtspunkte gestützt, die nicht Glaubensinhalte, sondern die Respektierung der Verfassungsordnung des Grundgesetzes durch die Kläger betreffen. Nach den Ausführungen unter 2. kommt es für den Erfolg der Klagen auf diese Gesichtspunkte erst an, wenn feststehen sollte, dass die Kläger Religionsgemeinschaften sind.

24

b) Auch die nur den Anspruch des Klägers zu 1 betreffende Erwägung des Oberverwaltungsgerichts, diesem fehle die Autorität in Lehrfragen, weil die Äußerungen seines islamischen Gelehrtenrats nicht verbindlich seien, verstößt gegen § 144 Abs. 6 VwGO. Nach den bindenden Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts setzt Autorität nicht voraus, dass die Religionsgemeinschaft ein verbindliches Lehramt in Glaubensfragen eingerichtet hat, dessen Aussagen die religiös Verantwortlichen und die Gläubigen als verpflichtend anerkennen und auf der Grundlage des Bekenntnisses nicht in Frage stellen.

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4. In Bezug auf die Gehörs- und Aufklärungsrügen der Kläger sieht der Senat von einer Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

26

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 47 Abs. 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG (2 x 5 000 €).