Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 23.01.2018


BVerwG 23.01.2018 - 6 B 67/17

Weitgehende Übereinstimmung von Prüfungsleistung und internen Lösungshinweisen; Voraussetzungen des Anscheinsbeweises


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsdatum:
23.01.2018
Aktenzeichen:
6 B 67/17
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2018:230118B6B67.17.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, 23. Juni 2017, Az: 10 A 11810/16, Urteilvorgehend VG Koblenz, 20. Mai 2016, Az: 5 K 201/16
Zitierte Gesetze

Leitsätze

1. Der Nachweis, dass ein Prüfungsteilnehmer seiner Bearbeitung die internen Lösungshinweise zugrunde gelegt und damit über die Eigenständigkeit seiner Prüfungsleistung getäuscht hat, ist nach den Regeln des Beweises des ersten Anscheins erbracht, wenn die Bearbeitung nach Formulierungen, Aufbau und Gedankenführung weitgehend mit den Lösungshinweisen übereinstimmt und eine andere Erklärung als deren Kenntnis nicht in Betracht kommt.

2. Die Tatsachengerichte haben nach den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises erfüllt sind.

Gründe

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1. Der Kläger will zwei schriftliche Aufsichtsarbeiten neu bewertet haben, die er im Rahmen einer Aufstiegsprüfung anfertigte. Der Prüfungsausschuss setzte für die Bearbeitungen jeweils die Note "ungenügend (0 Punkte)" fest. Er hielt es aufgrund weitgehender inhaltlicher Übereinstimmungen für erwiesen, dass der Kläger die Lösungshinweise gekannt habe.

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Der erstinstanzlich erfolglosen Klage hat das Oberverwaltungsgericht in Bezug auf die erste, nicht aber in Bezug auf die zweite Aufsichtsarbeit stattgegeben. In dem Berufungsurteil heißt es im Wesentlichen: Nach den Regeln des Anscheinsbeweises sei nur für die zweite Aufsichtsarbeit nachgewiesen, dass der Kläger darüber getäuscht habe, eine eigenständige Prüfungsleistung erbracht zu haben. Zwar stimmten die Bearbeitungen des Klägers in beiden Aufsichtsarbeiten nach den Formulierungen, dem Aufbau und der Gedankenführung weitgehend mit den nur für die Prüfer bestimmten Lösungshinweisen überein. Daraus könne aber nur für die zweite Aufsichtsarbeit der Schluss gezogen werden, dass der Kläger die Lösungshinweise gekannt und verwendet habe. In Bezug auf die erste Aufsichtsarbeit sei diese typische Annahme nicht gerechtfertigt, weil aufgrund der vorgelegten Unterrichtsmaterialien und Mitschriften ernsthaft möglich sei, dass die inhaltlichen Übereinstimmungen auf Kenntnissen beruhten, die sich der Kläger angeeignet habe. In Bezug auf die zweite Aufsichtsarbeit habe der Kläger keine aussagekräftigen Unterlagen vorgelegt.

3

Die Verfahrensbeteiligten haben jeweils Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt, soweit das Oberverwaltungsgericht zu ihren Lasten entschieden hat. Sie machen geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und das Oberverwaltungsgericht sei von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu den Regeln des Anscheinsbeweises abgewichen (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Der Kläger macht zusätzlich geltend, das Oberverwaltungsgericht habe das rechtliche Gehör verletzt und den Sachverhalt unzulänglich aufgeklärt, soweit es das die Klage abweisende erstinstanzliche Urteil in Bezug auf die zweite Aufsichtsarbeit bestätigt habe.

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2. Die Beschwerden des Klägers und der Beklagten können keinen Erfolg haben, weil sich aus ihren Beschwerdebegründungen nicht ergibt, dass ein Revisionszulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO vorliegt. Aufgrund des Darlegungserfordernisses nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO darf das Bundesverwaltungsgericht die Revision nur aufgrund von Gesichtspunkten zulassen, die ein Beschwerdeführer in der Beschwerdebegründung angeführt hat (stRspr; vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91 f.> und vom 12. August 1993 - 7 B 86.93 - NJW 1994, 144).

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a) Der Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist dargelegt, wenn die Beschwerde eine Frage des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung aufwirft, die im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage auf der Grundlage der bundesgerichtlichen Rechtsprechung eindeutig beantwortet werden kann und der Beschwerdeführer keine neuen, bislang nicht behandelten Gesichtspunkte aufzeigt (stRspr; vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91 f.> und vom 27. Januar 2015 - 6 B 43.14 [ECLI:DE:BVerwG:2015:270115B6B43.14.0] - NVwZ-RR 2015, 416 Rn. 8).

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Die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung des Beweises des ersten Anscheins zum erleichterten Nachweis bestimmter Tatsachen im Verwaltungsprozess sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Hierfür müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen muss die nachzuweisende Tatsache auf einen typischen Sachverhalt gestützt werden können, der aufgrund allgemeinen Erfahrungswissens zu dem Schluss berechtigt, dass die Tatsache vorliegt. Zum anderen dürfen keine tatsächlichen Umstände gegeben sein, die ein atypisches Geschehen im Einzelfall ernsthaft möglich erscheinen lassen. Die Verwaltungsgerichte haben nach § 86 Abs. 1 VwGO von Amts wegen zu ermitteln, ob ein die Schlussfolgerung tragender Sachverhalt und, wenn sie davon überzeugt sind, ob tatsächliche Anhaltspunkte für eine vom Regelfall abweichende Erklärung vorliegen (stRspr; vgl. nur BVerwG, Urteil vom 24. August 1999 - 8 C 24.98 - NVwZ-RR 2000, 256).

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Davon ausgehend ist auch geklärt, dass nach den Regeln des Anscheinsbeweises nachgewiesen werden kann, dass ein Prüfungsteilnehmer über die Eigenständigkeit seiner schriftlichen Prüfungsleistung getäuscht hat. Stimmt die Bearbeitung nach Formulierungen, Aufbau und Gedankenführung weitgehend mit den nur für die Prüfer bestimmten Lösungshinweisen überein, berechtigt dieser Sachverhalt typischerweise zu dem Schluss, der Prüfungsteilnehmer habe die Lösungshinweise gekannt und seiner Bearbeitung zugrunde gelegt. Für die Aufklärung, ob eine andere Ursache für die weitgehende Übereinstimmung in Betracht kommt, bedarf es der Mitwirkung des Prüfungsteilnehmers. Nur er kann eine plausible andere Erklärung für die Übereinstimmung beibringen. Ergibt die Sachaufklärung keine Anhaltspunkte, die eine andere Ursache als die Kenntnis der Lösungshinweise nachvollziehbar erscheinen lassen, steht fest, dass der Prüfungsteilnehmer keine eigenständige Prüfungsleistung erbracht, sondern dies vorgespiegelt hat. Eine solche Bearbeitung ist von vornherein ungeeignet, eine Aussage über die Kenntnisse und Fähigkeiten zu treffen, deren Nachweis die Prüfung dient (BVerwG, Beschluss vom 20. Februar 1984 - 7 B 109.83 - NVwZ 1985, 191; Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 237 mit Nachweisen zur Rechtsprechung).

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Auch für den Beweis des ersten Anscheins gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Danach ist es Aufgabe der Tatsachengerichte, aufgrund einer Sachverhalts- und Beweiswürdigung des gesamten Prozessstoffes darüber zu entscheiden, ob eine Tatsache nach den Regeln des Anscheinsbeweises erwiesen ist. Hierfür müssen sie zu der Überzeugung gelangen, dass ein Sachverhalt feststeht, der typischerweise auf das Vorliegen der nachzuweisenden Tatsache schließen lässt. Ist dies der Fall, müssen sie sich darüber klar werden, ob im Einzelfall ein atypisches Geschehen ernsthaft möglich erscheint (BVerwG, Urteil vom 24. August 1999 - 8 C 24.98 - NVwZ-RR 2000, 256).

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Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO enthält keine generellen Maßstäbe für den Aussage- und Beweiswert einzelner Beweismittel, Erklärungen und Indizien. Insbesondere besteht keine Rangordnung dieser Erkenntnisse; sie sind grundsätzlich gleichwertig. Die Tatsachengerichte müssen Bedeutung und Gewicht der verschiedenen Bestandteile des Prozessstoffes nach der inneren Überzeugungskraft der Gesamtheit der in Betracht kommenden Erwägungen bestimmen. Dabei sind sie ausschließlich an Logik (Denkgesetze) und Naturgesetze gebunden und müssen gedankliche Brüche und Widersprüche vermeiden (stRspr; vgl. nur BVerwG, Urteile vom 18. Juli 1986 - 4 C 40 - 45.82 - NVwZ 1987, 217 und vom 3. Mai 2007 - 2 C 30.05 - NVwZ 2007, 1196 Rn. 16). Nach diesen Regeln haben die Tatsachengerichte zu beurteilen, ob Formulierungen, Aufbau und Gedankenführung einer schriftlichen Prüfungsleistung so weitgehend mit den nur für die Prüfer bestimmten Lösungshinweisen übereinstimmen, dass der Schluss berechtigt ist, der Prüfungsteilnehmer habe ihr die Lösungshinweise zugrunde gelegt. Sind die Tatsachengerichte von der weitgehenden Übereinstimmung überzeugt, haben sie die Regeln der Beweiswürdigung auch für die sich anschließende Beurteilung anzuwenden, ob eine andere Erklärung für die Übereinstimmung als die Kenntnis der Lösungshinweise ernsthaft möglich ist.

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Die tatrichterliche Beweiswürdigung ist vom Bundesverwaltungsgericht nicht daraufhin nachzuprüfen, ob die Gewichtung einzelner Umstände und deren Gesamtwürdigung überzeugend erscheinen. Dementsprechend kann sie von einem Verfahrensbeteiligten nicht mit dem Argument in Frage gestellt werden, andere Gewichtungen und Folgerungen lägen näher oder seien plausibler. Die Tatsachengerichte überschreiten den ihnen eröffneten Wertungsrahmen nur dann, wenn ihre Beweiswürdigung gesetzliche Beweisregeln außer Acht lässt, objektiv willkürlich ist, gegen die Gesetze der Logik verstößt, Widersprüche enthält oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet oder irrtümlich annimmt (stRspr; vgl. nur BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2012 - 5 C 2.11 - BVerwGE 143, 119 Rn. 18). Auch dürfen die Tatsachengerichte keine festgestellten Tatsachen übergehen, die nach ihrer materiellen Rechtsauffassung entscheidungserheblich sind (stRspr; vgl. BVerwG, Urteile vom 2. Februar 1984 - 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338 <339> und vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <208 f.>).

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Einen darüber hinausgehenden Klärungsbedarf haben die Verfahrensbeteiligten nicht aufgezeigt. Die Fragen, die sie als rechtsgrundsätzlich bedeutsam aufgeworfen haben, können auf der Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eindeutig beantwortet werden. In der Sache wenden sich der Kläger und die Beklagte gegen die Beweiswürdigung des Oberverwaltungsgerichts, soweit diese zu ihrem Nachteil ausfällt:

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Der Kläger will klargestellt haben, dass ein weitgehend übereinstimmender Inhalt von Prüfungsleistung und Lösungshinweisen für sich genommen nicht ausreicht, um den Schluss zu rechtfertigen, der Prüfungsteilnehmer habe die Lösungshinweise gekannt. Hinzukommen müsse, dass feststehe, dass als Informationsquelle für den geprüften Stoff ausschließlich die Lösungshinweise, nicht aber andere zugängliche Quellen wie etwa Lernmaterialien in Betracht kämen. Dabei übersieht der Kläger, dass die Anwendung der Regeln des Anscheinsbeweises nicht auf der Themen- und Inhaltsgleichheit von Prüfungsleistung und Lösungshinweisen, sondern auf der weitgehenden Deckungsgleichheit der einzelnen Formulierungen sowie des Aufbaus und der Gedankenführung beruht. Die Prüfungsleistung muss nach Aufmachung und gedanklicher Abfolge weitgehend ein Abbild der Lösungshinweise sein. Erst eine derart weitgehende Übereinstimmung lässt den Schluss zu, der Prüfungsteilnehmer habe keine eigenständige Leistung erbracht, sondern stattdessen die Lösungshinweise übernommen. Es liegt auf der Hand, dass die dadurch begründete Anwendung des Anscheinsbeweises nicht daran scheitern kann, dass der geprüfte Stoff auch anderen zugänglichen Quellen entnommen werden kann. Dies ist unverzichtbar, um es den Prüfungsteilnehmern zu ermöglichen, sich auf die Prüfung vorzubereiten.

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Die Beklagte hält die Frage für klärungsbedürftig, in welchem Verhältnis die tatsächlichen Anforderungen an die Annahme eines atypischen Geschehens zu den Indizien stehen müssten, auf denen der Anscheinsbeweis gründe. Da sich jede Aussage der Lösungshinweise in einer zugänglichen Quelle wie etwa Lernmaterialien finden ließe, könnten Übereinstimmungen nicht mit dem Verweis auf derartige Quellen erklärt werden. Diese Frage würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen, weil es mit den dargestellten Grundsätzen der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO unvereinbar ist, einzelnen Indizien unabhängig von der Lage im Einzelfall einen generellen Aussage- und Beweiswert zuzuerkennen oder abzusprechen. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung lässt es nicht zu, bestimmte Unterlagen ohne Berücksichtigung ihres Inhalts generell als Beweismittel für die Erschütterung des Anscheinsbeweises auszuschließen. Ob der erste Anschein, dass der Prüfungsteilnehmer die Lösungshinweise gekannt hat, durch Lernmaterialien erschüttert werden kann, ist eine Frage der Beweiswürdigung im Einzelfall.

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b) Der Revisionszulassungsgrund der Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt vor, wenn die Vorinstanz einen ihre Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat, der im Widerspruch zu einem Rechtssatz steht, den das Bundesverwaltungsgericht in einer vom Beschwerdeführer benannten Entscheidung zu derselben Vorschrift oder demselben Rechtsgrundsatz aufgestellt hat. Zwischen beiden Gerichten muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Inhalt der Vorschrift oder des Rechtsgrundsatzes bestehen. Dementsprechend liegt keine Divergenz vor, wenn die Vorinstanz einen Rechtssatz rechtsfehlerhaft angewandt oder daraus nicht die rechtlichen Folgerungen gezogen hat, die für die Sachverhalts- und Beweiswürdigung im Einzelfall geboten sind (stRspr; vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26). Diesen Anforderungen genügen die Divergenzrügen der Verfahrensbeteiligten, die inhaltlich ihren Grundsatzrügen entsprechen, nicht:

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Die vom Kläger behauptete Abweichung des Oberverwaltungsgerichts von dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Februar 1984 (7 B 109.83) liegt nicht vor, weil das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung einen abstrakten Rechtssatz des vom Kläger behaupteten Inhalts nicht aufgestellt hat. In den Beschlussgründen findet sich kein Hinweis auf die Auffassung des Klägers, das Bundesverwaltungsgericht habe die Regeln des Anscheinsbeweises nur für anwendbar erklärt, wenn die Lösungshinweise "exklusive", anderweitig nicht zugängliche Informationen enthielten. Vielmehr hat das Gericht, wie unter 2.a) dargestellt, angenommen, der erste Anschein spreche für die Kenntnis eines Prüfungsteilnehmers von den nur für die Prüfer bestimmten Lösungshinweisen, wenn dessen Prüfungsleistung nach Formulierungen, Aufbau und Gedankenführung inhaltlich weitgehend mit diesen Hinweisen übereinstimme. Die vom Kläger angeführte Formulierung "ein nur zur Verwendung der Prüfungskommission bestimmtes Lösungsmuster" bedeutet nach dem Wortsinn nichts anderes, als dass das Muster nur den Prüfern (für die Bewertung), nicht aber den Prüfungsteilnehmern zur Verfügung steht.

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Unzutreffend ist auch die Annahme des Klägers, das Oberverwaltungsgericht sei von dem Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts in dem Urteil vom 24. August 1999 (8 C 24.98) abgewichen, die Verwaltungsgerichte hätten von Amts wegen zu ermitteln, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anwendung des Anscheinsbeweises vorlägen. Das Oberverwaltungsgericht hat diesen Rechtssatz durchgehend beachtet; die Behauptung des Klägers, das Gericht habe ihn für beweispflichtig gehalten, trifft nicht zu.

17

Auch die von der Beklagten behaupteten Abweichungen des Oberverwaltungsgerichts von dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Februar 1984 (7 B 109.83) und von dessen Urteil vom 26. Februar 2009 (5 C 4.08) liegen nicht vor. Nach Auffassung der Beklagten kann der auf dem Gesamteindruck beruhende erste Anschein, dass schriftliche Prüfungsleistung und Lösungshinweise weitgehend übereinstimmten, nicht dadurch entkräftet werden, dass sich einzelne Parallelitäten anders als durch Kenntnis der Lösungshinweise erklären ließen. Einen abstrakten Rechtssatz dieses Inhalts hat das Bundesverwaltungsgericht in den angeführten Entscheidungen nicht aufgestellt.

18

In dem Beschluss vom 20. Februar 1984 (7 B 109.83) findet sich zur Frage der Erschütterung des ersten Anscheins nur der Satz, das Berufungsgericht habe verneint, dass Tatsachen vorliegen, die eine andere Erklärung für die weitgehende Übereinstimmung von Prüfungsleistung und Lösungsmuster als möglich erscheinen lassen. Das Urteil vom 26. Februar 2009 (5 C 4.08) betrifft nicht die Anscheinsbeweisführung zum Nachweis einer Täuschung über die Eigenständigkeit einer Prüfungsleistung. Vielmehr hat sich das Bundesverwaltungsgericht mit der rechtlich ganz anders gelagerten Frage befasst, wie die tatsächliche Vermutung des erheblichen Vorschubleistens im Sinne des § 1 Abs. 4 des Ausgleichsleistungsgesetzes (AusglLeistG) entkräftet werden kann. Zur Auslegung dieser Vorschrift hat das Gericht ausgeführt, der Entlastungsbeweis habe sich an dem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal, an dem die Vermutung ansetze, und an dem Gewicht der Indizien, auf denen die Vermutung gründe, zu orientieren.

19

c) Der Kläger hat nicht nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt, dass dem Berufungsurteil Verfahrensmängel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO anhaften. Das Oberverwaltungsgericht hat, soweit es die Berufung des Klägers in Bezug auf die zweite Aufsichtsarbeit zurückgewiesen hat, weder dessen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) noch das Gebot der Sachaufklärung (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verletzt.

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Der Kläger macht geltend, er habe nicht damit rechnen müssen, dass das Oberverwaltungsgericht den ersten Anschein seiner Kenntnis der Lösungshinweise für die zweite Aufsichtsarbeit auf eine Fülle einzelner, vom Verwaltungsgericht nicht behandelter Übereinstimmungen seiner Prüfungsleistung mit den Lösungshinweisen stützen würde. Daher habe das Oberverwaltungsgericht die Kenntnis nicht für erwiesen halten dürfen, ohne ihm Gelegenheit zu geben, den Anschein durch Vorlage von Lernmaterialien zu erschüttern. Das Gericht habe es in der mündlichen Berufungsverhandlung ausdrücklich abgelehnt, ihm hierfür Schriftsatznachlass zu gewähren. Damit ist ein Gehörsverstoß nicht dargelegt:

21

Das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO gewährleistet jedem Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, zu dem gesamten Stoff des gerichtlichen Verfahrens in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Stellung zu nehmen. Das Gericht darf bei seiner Entscheidung nur solche Teile des Prozessstoffes berücksichtigen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Dies setzt deren Kenntnis vom Prozessstoff voraus (stRspr; vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8. Februar 1994 - 1 BvR 765, 766/89 - BVerfGE 89, 381 <392> und vom 27. Oktober 1999 - 1 BvR 385/90 [ECLI:DE:BVerfG:1999:rs19991027.1bvr038590] - BVerfGE 101, 106 <129>). Allerdings ist das Gericht grundsätzlich nicht verpflichtet, den Beteiligten mitzuteilen, welche tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte es für entscheidungserheblich hält und welche Rechtsauffassungen es seiner Entscheidung zugrunde zu legen gedenkt (stRspr; vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <144 f.>; Urteil vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640/97 [ECLI:DE:BVerfG:1998:rs19980714.1bvr164097] - BVerfGE 98, 218 <263>). Es darf seine Entscheidung jedoch nicht auf einen Gesichtspunkt stützen, mit dem auch ein sorgfältiger Verfahrensbeteiligter nicht zu rechnen brauchte. Im Anwaltsprozess ist Maßstab der gewissenhafte und kundige Prozessbevollmächtigte, der die vertretbaren Auffassungen in den Blick nimmt (stRspr; vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 29. Mai 1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188 <190> und vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <144 f.>; Urteil vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640/97 - BVerfGE 98, 218 <263>).

22

Danach hat das Oberverwaltungsgericht den Kläger nicht ausdrücklich darauf hinweisen müssen, dass es den im Berufungsurteil abgehandelten einzelnen Übereinstimmungen der Prüfungsleistung mit den Lösungshinweisen der zweiten Aufsichtsarbeit sowie einem inhaltlichen Widerspruch der Bearbeitung Bedeutung für die Gesamtwürdigung beimessen würde, nach dem ersten Anschein habe der Kläger die Lösungshinweise gekannt. Dies hat einen anwaltlich vertretenen Verfahrensbeteiligten schon deshalb nicht überraschen können, weil die abgehandelten Gesichtspunkte allesamt bereits in dem angefochtenen Prüfungsbescheid vom 26. Oktober 2015 gewürdigt wurden (S. 14 bis 17). Der Prüfungsausschuss zog diese Gesichtspunkte heran, um seine Gesamtwürdigung zu begründen, die Prüfungsleistung des Klägers stimme weitgehend mit den Lösungshinweisen überein. Ein anwaltlich vertretener Verfahrensbeteiligter muss damit rechnen, dass die maßgebenden Erwägungen, die die Behörde in dem angefochtenen Bescheid angestellt hat, auch für die Gerichte Bedeutung erlangen können. Dementsprechend muss es sich ihm aufdrängen, im Verwaltungsprozess auch ohne gerichtlichen Hinweis dazu Stellung zu nehmen und die aus seiner Sicht notwendigen prozessualen Schritte zu unternehmen.

23

Schließlich hat der Kläger einen Verstoß des Oberverwaltungsgerichts gegen das Gebot der Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht hinreichend dargelegt. Es ist allgemein anerkannt, dass eine Aufklärungsrüge nur dann dem Darlegungserfordernis nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt, wenn sie zum einen angibt, welches Beweismittel zu welchem Beweisthema dem Gericht zur Verfügung gestanden hätte. Darüber hinaus muss dargelegt werden, wie sich die weitere Sachaufklärung voraussichtlich auf die Entscheidungsfindung des Oberverwaltungsgerichts ausgewirkt hätte (stRspr; vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 und vom 10. Dezember 2003 - 8 B 154.03 - NVwZ 2004, 627 <628>). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung des Klägers nicht. Sie enthält keine Ausführungen, welche konkreten Unterlagen mit welchem Inhalt der Kläger noch vorgelegt hätte. Auch ist der Kläger nicht darauf eingegangen, ob die Unterlagen den ersten Anschein, er habe seiner Bearbeitung in der zweiten Aufsichtsarbeit die ihm bekannten Lösungshinweise zugrunde gelegt, hätten erschüttern können.

24

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.