Entscheidungsdatum: 25.03.2010
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 18. November 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO
a) mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 156 Fällen verurteilt ist;
b) dahin ergänzt, dass der Angeklagte im Übrigen (Fall 159 der Anklage) auf Kosten der Staatskasse, die auch seine etwa insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen hat, freigesprochen wird.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 158 Fällen, davon in 156 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat im Umfang der Beschlussformel mit der Sachrüge Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte in den Fällen II.1 und II.2 des angefochtenen Urteils im Jahr 2001 die ihm bekannten Kinder der Familie Jo., J. (damals elf Jahre) und A. (damals acht Jahre), missbraucht, indem er jedes Kind anlässlich einer jeweils gemeinsamen Übernachtung in seinem Bett an das unbedeckte Geschlechtsteil fasste. Als die Kinder sich wegdrehten, ließ der Angeklagte von ihnen ab. Insoweit sind die Schuldsprüche wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen und die Einzelstrafaussprüche von jeweils sechs Monaten Freiheitsstrafe rechtsfehlerfrei.
2. In weiteren 156 Fällen (II.3 des Urteils) hat er von März 2007 bis März 2008 seinen bei Beginn der Taten neunjährigen Stiefsohn P. missbraucht, indem er ihn am nackten Penis berührte und sich von ihm mit der Hand bis zum Samenerguss stimulieren ließ. Dies geschah im elterlichen Ehebett im Rahmen des regelmäßig drei bis vier Mal in der Woche stattgefundenen gemeinsamen abendlichen Vorleserituals jedes Mal und in immer gleich bleibender Weise unter dem vom Angeklagten benutzten Vorwand, das Vor- und Zurückziehen der Vorhaut üben zu müssen. Während P. die Handlungen anfangs für „normal“ hielt und sie sogar als interessant und angenehm empfand, schämte er sich im Laufe der Zeit zunehmend. Schließlich sagte er dem Angeklagten im März 2008, dass er alles nicht mehr wolle. Daraufhin nahm der Angeklagte von weiteren sexuellen Berührungen Abstand.
In der Folgezeit verschlechterte sich indes das Verhältnis zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten deutlich. Zur Aufdeckung der Taten kam es gegen Ende der Sommerferien 2008 anlässlich eines Streits. Der Geschädigte zog daraufhin zu seinem leiblichen Vater und dessen Ehefrau. Zu diesem Zeitpunkt wirkte er extrem traurig und litt unter verschiedenen Zwangshandlungen. Im September 2008 wurde er deshalb von seinen Eltern in einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Die Mutter, die die sexuellen Übergriffe des Angeklagten zunächst nicht hatte wahrhaben wollen, entschloss sich im November 2008 zu einer Anzeige, nachdem der Angeklagte in seinem Ferienhaus der elfjährigen Zwillingsschwester des Geschädigten und deren Freundin bewusst Alkohol besorgt und dessen Genuss ermöglicht hatte.
Nach seiner polizeilichen Vernehmung Mitte November 2008 verschlechterte sich P.'s psychischer Zustand zunehmend, so dass er Anfang April 2009 notfallmäßig in einem Kinderkrankenhaus aufgenommen werden musste. Er war zu diesem Zeitpunkt in einem „desolaten Zustand“ (UA S. 9), der eine Beschulung unmöglich machte. Nach einer dreimonatigen stationären Behandlung mit traumazentrierten therapeutischen Methoden konnte er Anfang Juli 2009 in deutlich stabilisiertem Zustand in die Familie seines leiblichen Vaters entlassen werden. Im Zeitpunkt der Hauptverhandlung (November 2009) befand er sich noch in ambulanter therapeutischer Behandlung und erhielt ein Medikament gegen anhaltende Zwänge; zwischenzeitlich war ihm der Wechsel auf das Gymnasium gelungen.
3. Seine Überzeugung vom festgestellten Tatgeschehen zu 2. hat das Landgericht auf die Aussage des Geschädigten gestützt, die hinsichtlich der Rahmenbedingungen (insbesondere drei- bis viermaliges Vorlesen pro Woche im elterlichen Schlafzimmer) von seiner Mutter und dem Angeklagten bestätigt wird. Der Angeklagte selbst hat angegeben, während des Vorlesens über einen längeren Zeitraum an acht bis neun Tagen die Vorhaut von P. zurückgeschoben zu haben, um dies angesichts einer - von der Mutter bestrittenen - Vorhautverengung des Jungen zu üben. Er habe sich hierdurch jedoch nicht sexuell erregt und sei von P. auch zu keiner Zeit am Penis berührt worden.
4. Das Urteil leidet an einem auf die Sachrüge zu beachtenden Erörterungsmangel, der insbesondere die Anzahl und den Ablauf der zum Nachteil von P. festgestellten Missbrauchsfälle betrifft. Der Senat verkennt nicht, dass die im Rahmen der Beweiswürdigung behandelten Umstände insgesamt dafür sprechen, dass über einen längeren Zeitraum ein wiederholter sexueller Missbrauch des Jungen durch den Angeklagten stattgefunden hat. Durchgreifenden Bedenken unterliegt jedoch die Feststellung zu Art und Anzahl der ausgeurteilten 156 Fälle, die sich ohne insoweit ausreichend kritische Befassung mit der Glaubhaftigkeit und Zuverlässigkeit der belastenden Angaben des Geschädigten alleine aus einer „Hochrechnung“ von drei- bis viermaligem Vorlesen wöchentlich, verknüpft mit dabei jedes Mal stattgefundenen und - mit wenigen Variationen - auch immer gleichförmig verlaufenden Missbrauchshandlungen ergibt.
Auch bei Serienstraftaten, wie sie bei länger andauerndem sexuellem Kindesmissbrauch vorkommen, muss das Tatgericht von jeder einzelnen individuellen Straftat überzeugt sein (BGHSt 42, 107, 109). Zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken dürfen aufgrund der Feststellungsschwierigkeiten solcher oft gleichförmig verlaufenden Taten über einen langen Zeitraum zum Nachteil von Kindern und/oder Schutzbefohlenen, die in der Regel allein als Beweismittel zur Verfügung stehen, zwar keine überzogenen Anforderungen an die Individualisierbarkeit der einzelnen Taten im Urteil gestellt werden (BGH NStZ 1994, 502). Das Tatgericht muss sich aber in objektiv nachvollziehbarer Weise zumindest die Überzeugung verschaffen, dass es in einem gewissen Zeitraum zu einer bestimmten Mindestzahl von Straftaten gekommen ist (BGH StV 2002, 523). Dabei steht nicht in erster Linie die Ermittlung einer Tatfrequenz, sondern die des konkreten Lebenssachverhalts im Vordergrund; dieser ist ausgehend vom Beginn der Tatserie mit den unterschiedlichen Details etwa zu Tatausführung und Tatort der einzelnen Straftaten in dem gegebenen Tatzeitraum nach dem Zweifelssatz festzustellen und abzuurteilen (vgl. BGHR StGB vor § 1/Serienstraftaten Kindesmissbrauch 2; BGH NStZ 2009, 444). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
Das Landgericht hat zum einen den Beginn der Missbrauchshandlungen nicht hinreichend geklärt. Nach der Einlassung des Angeklagten knüpfte das „Üben“ des Vor- und Zurückschiebens der Vorhaut des Jungen an ein „Aufklärungsgespräch“ an, das auch von der Mutter bestätigt wird. Wann dieses Aufklärungsgespräch stattfand, wird vom angefochtenen Urteil nicht dargelegt; ebenso wenig werden etwaige Bekundungen des Geschädigten zu diesem Gespräch und seiner zeitlichen Einordnung im Rahmen der Missbrauchsserie wiedergegeben.
Zum anderen wird den Feststellungen ohne nähere kritische Erörterung die Angabe des Geschädigten zugrunde gelegt, dass es bei dem Vorlesen jedes Mal und zwar in immer gleichförmiger Weise zu Missbrauchshandlungen und einem Orgasmus des Angeklagten gekommen sei. Die von dem Geschädigten bekundeten - eher spärlichen - Details werden nicht in die äußeren Rahmenbedingungen des Geschehens eingebunden. So wird nicht erörtert, wo das Händewaschen des Geschädigten im Anschluss an die Taten stattfand und inwiefern dieses und etwaige Spermaspuren die Aufmerksamkeit seiner Mutter erregt haben oder erregen konnten. Schließlich werden mögliche Unterbrechungen des Missbrauchsgeschehens, etwa durch Urlaube oder Erkrankungen der Beteiligten, nicht geprüft.
Das neue Tatgericht wird diese Fragen - angesichts der auffälligen psychischen Reaktion des Geschädigten auf die Taten und ihre Aufdeckung nahe liegend mit Hilfe eines Sachverständigen - zu klären haben.
5. Der Senat ergänzt den notwendigen Teilfreispruch, da die zur Hauptverhandlung ohne Änderungen zugelassene Anklage aufgrund eines offensichtlichen Rechenfehlers von 159 Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern ausgeht.
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