Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 19.02.2013


BGH 19.02.2013 - 5 StR 620/12

Vorbehalt der Sicherungsverwahrung im Übergangsfall: Anforderungen an die Urteilsbegründung bei Feststellung eines Hangs


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
5. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
19.02.2013
Aktenzeichen:
5 StR 620/12
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Neuruppin, 9. August 2012, Az: 21 KLs 4/12
Zitierte Gesetze

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 9. August 2012 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen und schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen – unter Freispruch im Übrigen – zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat im Umfang der Beschlussformel Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

1. Nach den Feststellungen nahm der vielfach, indes nicht wegen Sexualdelikten vorbestrafte Angeklagte seit dem Sommer 1995 bis zum 14. Geburtstag der Geschädigten im Juni 2004 in zahlreichen Fällen vaginalen Geschlechtsverkehr an seiner Stieftochter         A.     vor. Die Strafkammer vermochte insoweit lediglich vier Taten mit der notwendigen Bestimmtheit festzustellen, unter anderem die erste Tat (Durchführung vaginalen Geschlechtsverkehrs an dem damals fünfjährigen, vor Schmerzen schreienden Mädchen). Nachdem es im Jahr 2005 zur Trennung von seiner – schon zu Beginn der Missbrauchstaten – alkoholkranken Ehefrau gekommen war, lebte der Angeklagte mehrere Jahre ohne feste Partnerschaft. Im September 2010 ging er eine Beziehung mit      S.          ein, die den Angeklagten häufiger in dessen Wohnung besuchte und mit ihren beiden Kindern dort übernachtete. In der bis zum Einzug in eine gemeinsame Doppelhaushälfte im Juli 2011 währenden Zeit der besuchsweisen Aufenthalte kam es zu drei sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf die damals neunjährige Tochter seiner Partnerin, die Nebenklägerin       Sc.        (Reiben seines Geschlechtsteils am unbedeckten Geschlechtsteil des Kindes; Massieren des Geschlechtsteils des Kindes; Masturbieren bis zum Samenerguss vor dem Kind).

3

Das sachverständig beratene Landgericht hat „definitiv festgestellt, dass der Angeklagte zur Zeit als gefährlich für die Allgemeinheit zu gelten hat, da jederzeit bei ähnlichen Fallkonstellationen damit zu rechnen ist, dass er sich sexuell wieder an Kindern vergreift“ (UA S. 26). Es sei nach Auffassung des Sachverständigen indes „sehr gut möglich“, dass sich die Sozialprognose nach einer sozialtherapeutischen Behandlung deutlich bessere, so dass „heute noch nicht gesagt werden könne, ob der Angeklagte zum Entlassungszeitpunkt tatsächlich noch gefährlich sein werde“ (UA S. 27). Gestützt auf diese Erwägungen, hat das Landgericht die Sicherungsverwahrung vorbehalten.

4

2. Der Ausspruch über den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung hat keinen Bestand. Mangels Beschwer des Angeklagten kommt es hierfür zwar nicht darauf an, dass auf der Grundlage der auf den Urteilszeitpunkt bezogenen Gefährlichkeitsprognose (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 2005 – 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188) anstelle des Vorbehalts der Sicherungsverwahrung unter Umständen sogar deren Anordnung in Frage kam. Jedoch darf auch der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung wegen deren derzeit noch verfassungswidriger Ausgestaltung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326, 405 f.) nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angeordnet werden (vgl. auch BVerfG NJW 2012, 3357 Rn. 137). Den danach zu stellenden Anforderungen genügt die sehr knappe Begründung im Urteil nicht.

5

a) Das Landgericht ist – angesichts fehlender näherer zeitlicher Einordnung der Taten zum Nachteil der Nebenklägerin Sc.        im Tatzeitraum im Ergebnis rechtsfehlerfrei (vgl. Art. 316e Abs. 1 Satz 1 EGStGB) – bei dem Vorbehalt der Sicherungsverwahrung von der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung des § 66a StGB ausgegangen. Es hat indes nicht das Vorliegen eines Hangs des Angeklagten im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB geprüft, der nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Voraussetzung auch des Ausspruchs eines Vorbehalts nach § 66a StGB aF ist (vgl. BGH aaO; zu § 66a Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 Nr. 3 StGB nF, vgl. BT-Drucks. 17/3403, S. 15, 25 ff.). Dies hat angesichts der strengen Bedingungen, die an die Anwendung der Vorschrift derzeit zu stellen sind, grundsätzlich durch das Tatgericht ausdrücklich zu geschehen. Insoweit möglicherweise relevante Ausführungen im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung schaffen keinen Ersatz.

6

b) Das Landgericht hat es zudem unterlassen, eine einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung nach den Maßstäben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durchzuführen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. August 2011 – 3 StR 208/11, BGHR StGB § 66 Strikte Verhältnismäßigkeit 1, und vom 24. Januar 2012 – 5 StR 535/11; Urteile vom 4. August 2011 – 3 StR 175/11, NStZ 2011, 692, und vom 25. September 2012 – 1 StR 160/12, jeweils mwN).

7

Für den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung bedarf es dafür einer erheblichen, naheliegenden Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer schwerer Sexualstraftaten, die aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Angeklagten ableitbar sein muss. Dass das Landgericht dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit „definitiv festgestellt“ hat, ersetzt die danach erforderliche Prüfung der konkreten Umstände des Falles nicht. Das Landgericht hätte sich hier insbesondere damit auseinandersetzen müssen, dass zwischen der ersten und der zweiten Tatserie eine erhebliche zeitliche Lücke klafft. In dieser Zeit hat der Angeklagte „ohne feste Beziehung“ gelebt. Inwieweit er danach strebt, Beziehungskonstellationen zum Zweck des Kindesmissbrauchs aktiv herzustellen, oder ob er lediglich sich ergebende Gelegenheiten nutzt, ist für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer schwerer Sexualstraftaten jedenfalls nicht ohne Bedeutung. In diesem Zusammenhang fehlt auch eine Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass die Taten zum Nachteil der Nebenklägerin Sc.       gegenüber denjenigen zum Nachteil der Nebenklägerin A.      von vergleichsweise geringerem Gewicht sind und der Angeklagte – soweit ersichtlich – nach Einzug mit seiner Lebensgefährtin und ihren Kindern in das gemeinsam bewohnte Haus bis zur Aufdeckung der Taten im Januar 2012 keine sexuellen Übergriffe zulasten der Nebenklägerin Sc.       mehr begangen hat.

8

3. Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung bedarf daher erneuter tatgerichtlicher Prüfung auf der Grundlage insoweit neu zu treffender Feststellungen. An der Anordnung vorbehaltloser Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB ist das neue Tatgericht durch das Verschlechterungsverbot (§ 358 Abs. 2 StPO) gehindert.

Basdorf                     Sander                       Schneider

                 Dölp                       König