Entscheidungsdatum: 24.05.2011
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16. Juli 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtmittels, an eine andere Jugendschwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen –
Das Landgericht hat den Angeklagten C. wegen (gemeinschaftlicher) gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Verletzung der Fürsorgepflicht (durch Unterlassen) zu einer Jugendstrafe von neun Monaten verurteilt; die Angeklagte R. wurde wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit (gemeinschaftlicher) gefährlicher Körperverletzung und Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht (durch Unterlassen) zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Vollstreckung beider Jugendstrafen wurde zur Bewährung ausgesetzt. Mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, wendet sich die Staatsanwaltschaft dagegen, dass eine Verurteilung beider Angeklagter auch wegen versuchten Totschlags (durch Unterlassen) unterblieben ist, und macht im Übrigen Einwände gegen die Strafzumessung geltend. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Die am 6. August 1990 geborene Angeklagte R. wurde Mitte des Jahres 2007 schwanger und trennte sich „relativ bald“ von dem leiblichen Vater des ungeborenen Kindes. Sie lernte den am 1. Dezember 1987 geborenen Angeklagten C. kennen. Am 16. Mai 2008 gebar sie ihre normalgewichtige, gesunde Tochter L. M. . Im Juli 2008 bezog sie mit dem Angeklagten C. und dem Kind eine gemeinsame Wohnung. Der Angeklagte C. übernahm Vaterpflichten für das Kind.
Die Angeklagte R. , die „ohne Strukturen und Halt in den Tag hinein“ lebte, war bereits zuvor durch das Jugendamt betreut worden. Die Jugendamtsmitarbeiter und die Eltern der Angeklagten R. kamen zu der Einschätzung, dass diese mit der Betreuung und Versorgung eines Säuglings überfordert wäre. Die Angeklagte erklärte sich auf Drängen bereit, sozialpädagogische Familienhilfe in Anspruch zu nehmen, in deren Rahmen sie von der gesondert verfolgten Sozialpädagogin K. betreut wurde. Diese berichtete gegenüber dem Jugendamt, dass sich die Angeklagte in ihre Rolle gut eingefunden und zu L. M. eine liebevolle Beziehung aufgebaut habe; ärztliche Untersuchungen erledige sie selbstständig. Tatsächlich wurde L. M. aber nur zweimal im Juni (Dritte Vorsorgeuntersuchung – U3) und Juli 2008 einer Kinderärztin vorgestellt. Am Tag der U3 wog L. M. 4050 g. Weitere Vorsorgeuntersuchungen nahmen die Angeklagten „aus Gleichgültigkeit, Faulheit und Unerfahrenheit“ nicht mehr wahr.
In den ersten Lebensmonaten versorgten die Angeklagten L. M. noch hinreichend mit Flaschennahrung. „Ungefähr seit September/Oktober 2008, als es zur Umstellung der Ernährung des Babys durch das Angebot von säuglingstypischem Brei kam, wurden die Angeklagten den steigenden Anforderungen an die Versorgung und Ernährung ihres Kindes nicht mehr gerecht und gaben L. M. aus Gleichgültigkeit nicht mehr ausreichend Nahrung“ (UA S. 14). „Die Angeklagte suchte keine Hilfe und Unterstützung bei ihren Schwestern oder der Betreuerin K. , da sie ihnen, sich und dem übrigen Umfeld zeigen wollte, dass sie entgegen der Prognose des Jugendamtes in der Lage sei, ein Baby ohne deren Hilfe zu versorgen. Der Angeklagte unternahm hiergegen nichts“ (UA S. 15).
Im Dezember 2008 suchte die Betreuerin K. die Angeklagten in ihrer Wohnung auf. Obwohl schon zu diesem Zeitpunkt „für einen aufmerksamen Beobachter“ die Reduzierung des Unterhautfettgewebes im Gesicht des Kindes erkennbar war, gelangte sie zu dem unzutreffenden Ergebnis, dass L. M. ausreichend versorgt werde.
Die Angeklagten bemerkten indes „spätestens seit dem 5. Dezember 2008“ (UA S. 19) die sich immer mehr verschlechternde körperliche Verfassung des Kindes und den immer deutlicher werdenden Verlust des Körperfettanteils. Spätestens seit diesem Zeitpunkt wussten sie, dass sie die Versorgung, Pflege und Ernährung ihres Babys nicht gewährleisteten. Dennoch versorgten sie das Kind weiterhin unzureichend. L. M. war ihnen gleichgültig.
Am Abend des 20. Februar 2009 verschlechterte sich der Zustand des Kindes, da es sich übergeben musste. Die Angeklagten erkannten „spätestens seit diesem Zeitpunkt“ aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes von L. M. , „der zum Teil faltigen eingefallenen Haut am Hals und Gesäß, ihrer körperlichen Schwäche, des zurückgebliebenen Wachstums, des viel zu geringen Gewichtes, welches nur unwesentlich das Geburtsgewicht überschritten hatte, und aufgrund des Erbrechens, dass L. M. lebensbedrohlich unterernährt und durch das Erbrechen zusätzlich geschwächt war“ (UA S. 26). Obwohl L. M. die letzten zwei Wochen vor ihrem Tod die Nahrung vermehrt verweigerte, gingen die Angeklagten mit ihr nicht zum Arzt. Sie nahmen in Kauf, dass das Kind an dem inzwischen lebensbedrohlich gewordenen Unterernährungszustand und der durch das Erbrechen bedingten weiteren Schwächung sterben könnte.
Am 3. März 2009 suchte die Betreuerin K. die Angeklagten das letzte Mal auf. Sie schlug vor, nach ihrer Urlaubsrückkehr gemeinsam einen Arztbesuch durchzuführen.
In der Nacht vom 10. auf den 11. März 2009 verstarb L. M. . Die Angeklagte R. , die am Morgen kurz vor 11.30 Uhr das schon tote Kind regungslos im Bett auf dem Bauch liegend vorgefunden hatte, rief den Angeklagten C. , der es hochnahm. Beide Angeklagten erkannten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass das Kind schon tot war, sondern glaubten, es könne noch gerettet werden. Der von ihnen herbeigerufene Notarzt nahm zunächst Reanimationsversuche vor und erkannte dann, dass schon Leichenflecke und eine beginnende Leichenstarre aufgetreten waren. Zum Todeszeitpunkt wog L. M. lediglich 4802 g, während das Normalgewicht eines Kindes dieses Alters bei 7,5 bis 10,6 kg liegt.
Nach den Erkenntnissen des gerichtsmedizinischen Sachverständigen, die sich die Jugendkammer zu eigen macht, war der Körperfettanteil des Kindes fast völlig aufgezehrt. Die über mehrere Monate andauernde Mangelernährung hatte zu einer Verzögerung des Längenwachstums, der Skelettreife und der Organentwicklung geführt. Dass die gravierende Unterernährung todesursächlich war, vermochten der Sachverständige und ihm folgend das Landgericht indes nicht festzustellen. Sie schlossen nicht aus, dass L. M. aufgrund eines von der Mangelernährung unbeeinflussten plötzlichen Kindstodes gestorben war.
b) Das Landgericht ist von einem bedingten Tötungsvorsatz beider Angeklagten ausgegangen. Es hat indes angenommen, dass diese wegen der von ihnen nach Todeseintritt entfalteten Rettungsbemühungen vom gemeinschaftlichen Versuch des Totschlags durch Unterlassen strafbefreiend zurückgetreten seien. Beweiswürdigend hat sich die Strafkammer nicht davon zu überzeugen vermocht, dass die Angeklagten zum Zeitpunkt ihrer Rettungsversuche den schon eingetretenen Tod des Kindes erkannten. Im Hinblick darauf, dass ihnen der Erfolgseintritt nicht zurechenbar sei, lägen die Voraussetzungen des „§ 24 Abs. 2 StGB“ vor.
2. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Zu Unrecht hat das Landgericht einen strafbefreienden Rücktritt der Angeklagten vom Tötungsversuch angenommen.
Die Beweiswürdigung hält – eingedenk deren eingeschränkter revisionsrechtlicher Überprüfbarkeit – materiell-rechtlicher Nachprüfung jedenfalls insoweit nicht stand, als die Jugendkammer zugunsten der Angeklagten angenommen hat, diese hätten zum Zeitpunkt ihrer Rettungsbemühungen den Tod des Kindes nicht erkannt. Insoweit hat der Generalbundesanwalt in seiner Stellungnahme vom 11. Januar 2011 zutreffend ausgeführt:
„Hier hat die Jugendkammer den Grundsatz 'in dubio pro reo' ohne verlässliche Tatsachengrundlage angewandt (vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 2008 - 1 StR 292/08 -). Den Urteilsfeststellungen lässt sich schon nicht entnehmen, dass die Angeklagten - die sich in der Hauptverhandlung nicht eingelassen haben - in ihren polizeilichen Vernehmungen behauptet hätten, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Rettungsbemühungen davon ausgingen, dass das Kind noch lebte. Ausweislich der Urteilsgründe hat der Angeklagte vielmehr bekundet, dass die Angeklagte ihm gesagt habe, das Kind lebe nicht mehr bzw. es sei leblos. Weshalb dem Landgericht vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung dessen, dass die Angeklagte hinsichtlich ihrer Wahrnehmungen um 11:00 Uhr nachweislich gelogen hat, eine Überzeugungsbildung nicht möglich war, erschließt sich nicht. Dies gilt auch, soweit das Landgericht unterstellt, die Leichenflecken im Gesicht des Opfers hätten mit einer durch Sauerstoffmangel verursachten Verfärbung verwechselt werden können. Selbst bei wohlwollender Lektüre des Urteils ist diesem eine dahingehende Behauptung der Angeklagten nicht zu entnehmen.“
3. Auch wenn jedenfalls die Feststellungen zum objektiven Geschehen für den Zeitraum vor dem Tod des Kindes und zur Todesursache von den aufgezeigten Rechtsfehlern nicht betroffen sind, hebt der Senat alle Feststellungen auf, um eine neue tatgerichtliche Prüfung des gesamten angeklagten Tatgeschehens zu ermöglichen. Dies ist für die erneute Feststellung des Tötungsvorsatzes geboten, welche die Angeklagten nicht zur revisionsgerichtlichen Überprüfung stellen konnten, weil sie im Hinblick auf den angenommenen Rücktritt nicht wegen eines versuchten Tötungsdelikts schuldig gesprochen worden sind. Naheliegend unter Hinzuziehung eines pädiatrischen Sachverständigen wird ferner die komplizierte Frage einer Zurechnung des Todeserfolges zu prüfen sein. Hierfür würde eine Förderung der bislang nicht ausgeschlossenen, jedoch eher ungewöhnlichen Todesursache des „plötzlichen Kindstodes“ durch die Folgen der in vielfältiger Weise unzureichenden Versorgung des Kindes genügen.
4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Selbst wenn das nunmehr entscheidende Tatgericht zur Frage der Todesverursachung, zum Tötungsvorsatz und zum Vorstellungsbild der Angeklagten im Zeitpunkt der objektiv sinnlosen Rettungsbemühungen zu denselben Feststellungen wie das angefochtene Urteil gelangen sollte, kann ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht angenommen werden (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 1997 – 5 StR 127/97, BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, beendeter 11; siehe auch BGH, Beschlüsse vom 10. März 2000 – 1 StR 675/99, NJW 2000, 1730, vom 29. Oktober 2002 – 4 StR 281/02, NStZ 2003, 252, und vom 20. Dezember 2002 – 2 StR 251/02, BGHSt 48, 147, 149). Überdies ist in Bedacht zu nehmen, dass der Versuch – anders als bei dem dem Urteil des Senats vom 15. Mai 1997 (aaO) zugrunde liegenden Sachverhalt – vorliegend nicht untauglich, sondern bereits über zwei Wochen hinaus in vollendungstauglicher Weise fortentwickelt war, als L. M. nach der Bewertung des Landgerichts nicht ausschließbar an einem von ihrem überaus schlechten körperlichen Zustand unbeeinflussten „plötzlichen Kindstod“ verstarb. Den Täter eines tauglichen Unterlassungsdelikts trifft das volle Erfolgsabwendungsrisiko (vgl. BGH, Beschluss vom 10. März 2000 aaO; Weigend in LK, 12. Aufl., § 13 Rn. 81; siehe auch Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 24 Rn. 22a). Dem entspricht es, dass der Gesetzgeber mit den Regelungen in § 24 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 StGB in erster Linie das Anliegen verfolgt hat, dem Täter – anders als nach vormaligem Recht – bei „ungefährlichen“ Versuchen die Möglichkeit des Rücktritts einzuräumen (BT-Drucks. IV/650 S. 146). Ein solcher lag hier offensichtlich nicht vor.
b) Zu der im angefochtenen Urteil vorgenommenen Strafzumessung ist zu bemerken:
aa) Die Anwendung von Jugendstrafrecht auf die Tat des am 1. Dezember 2008 erwachsen gewordenen Angeklagten C. (§ 105 Abs. 1 i.V.m. § 32 JGG) begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Das Landgericht sieht das Schwergewicht der Tat bei den Straftatanteilen, die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären. Dabei ist es davon ausgegangen, „dass die Fürsorgepflichtverletzungen im Oktober und November 2008 auslösende und ursächliche Bedeutung für die im Dezember 2008 im Erwachsenenalter tateinheitlich begangene gefährliche Körperverletzung hatten“ (UA S. 67). Indes haben die Angeklagten nach den Feststellungen des Landgerichts erst „spätestens seit dem 5. Dezember 2008“ (UA S. 19) gewusst, dass sie die Versorgung, Pflege und Ernährung ihres Säuglings nicht gewährleisteten. Konsequenterweise wäre erst ab diesem Zeitpunkt, zu dem der Angeklagte bereits erwachsen war, ein Vorsatz auch hinsichtlich der Verletzung der Fürsorgepflicht zu erwägen.
Auch wenn aber ein früherer Tatbeginn – mit den Ausführungen des Landgerichts in der rechtlichen Würdigung (UA S. 55), insoweit letztlich sogar zugunsten des Angeklagten – in Betracht gezogen wird, ist die Anwendung von Jugendstrafrecht rechtsfehlerhaft: Nicht nur das zeitliche Schwergewicht der Dauer der Mangelernährung, sondern insbesondere die immer deutlichere Verschlechterung des Zustands des Kindes lagen in einem Zeitraum, in dem der Angeklagte das 21. Lebensjahr bereits vollendet hatte; den Beginn des Tötungsversuches, mit dem das Unterlassen der Angeklagten eine neue Unrechtsdimension erreichte, datiert das Landgericht – insoweit rechtsfehlerfrei – auf den 21. Februar 2009 (UA S. 63), nachdem das Kind erbrochen hatte. Mangelnde Erfahrung in der Säuglingspflege, die schon seit der Umstellung der Nahrung im Oktober 2008 eine viel zu geringe Nahrungszufuhr zur Folge hatte und die das Landgericht als „Ursache für das Leiden des Kindes“ (UA S. 67) ansieht, kann gegenüber der immer deutlicher – bis zur Dramatik im Februar 2009 – hervortretenden Dringlichkeit von Rettungsbemühungen nicht als lediglich „fortgeschriebener“ Auslöser für ein im Erwachsenenalter fortgesetztes Verhalten des Angeklagten bewertet werden.
bb) Hinsichtlich der Strafzumessung bezüglich der Angeklagten R. weist der Senat auf die Ausführungen in der Stellungnahme des Generalbundesanwalts vom 11. Januar 2011 hin, denen er sich anschließt. Die Schwere ihrer Tat und ihr hoher Erziehungsbedarf sind bei der Bemessung der Jugendstrafe grob unterschätzt worden.
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