Entscheidungsdatum: 29.11.2017
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 16. Mai 2017 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit einem Verstoß gegen Weisungen der Führungsaufsicht und wegen eines weiteren solchen Verstoßes unter Einbeziehung der Strafen aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die insoweit beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft richtet sich mit der Sachrüge gegen die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
Der nunmehr 67 Jahre alte Angeklagte stand nach Vollverbüßung einer vierjährigen Gesamtfreiheitsstrafe wegen verschiedener Sexualstraftaten seit Mitte 2014 unter Führungsaufsicht. Durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer wurde er unter anderem angewiesen, keinerlei Kontakt zu Kindern und Jugendlichen aufzunehmen, mit ihnen nicht zu verkehren, sie nicht zu beschäftigen oder zu beherbergen. In Kenntnis dieses Verbots nahm der Angeklagte im September 2014, nur drei Monate nach der Haftentlassung, den damals dreizehnjährigen P. mit zu sich nach Hause und trank gemeinsam mit ihm Alkohol. Er massierte den Jungen und führte anschließend den Analverkehr an ihm durch. Als der Junge sagte, dass er das nicht wolle, reagierte der Angeklagte „nicht sofort“, sondern ließ erst wenige Minuten später ab, nachdem er zum Samenerguss gekommen war.
Bis April 2015 sahen sich der Angeklagte und P. fast täglich in der Wohnung des Angeklagten. Für diese weiteren Treffen wurde der Angeklagte wegen 90 Verstößen gegen Weisungen der Führungsaufsicht (und wegen eines Diebstahls) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt; die Strafen aus diesem Urteil sind hier einbezogen worden. Am 15. April 2016 war der Angeklagte wieder mit P. und einem damals 12 Jahre alten Mädchen mindestens eine Stunde in seiner Wohnung.
Der Angeklagte ist umfangreich vorbestraft und hat über 30 Jahre Haft verbüßt. Bereits 1972 wurde er wegen Raubes und anderer Taten zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, 1984 wegen sexueller Nötigung sowie Verkehrsstraftaten zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Wegen einer Vergewaltigung erfolgte 1986 unter Einbeziehung des vorgenannten Erkenntnisses und einer weiteren Raubverurteilung eine Verurteilung zu fünf Jahren Gesamtfreiheitsstrafe. Sämtliche Strafen wurden vollständig vollstreckt. Nach Verbüßung weiterer, teils mehrjähriger Freiheitsstrafen wegen Diebstahlstaten und Verkehrsdelikten beging der Angeklagte nur wenige Monate nach seiner letzten Entlassung Ende 1998 und Anfang 1999 unter anderem fünf Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (Analverkehr mit 12 und 13 Jahre alten Jungen, Vaginalverkehr mit einem 13 Jahre alten Mädchen) und eine Vergewaltigung. Hierfür wurde er Anfang 2000 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Nach Vollverbüßung und einer weiteren Verurteilung wegen Nötigung (Freiheitsstrafe ein Jahr) erfolgte Anfang 2010 die nächste Verurteilung wegen sexueller Nötigung, sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person und weiterer Delikte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren; Opfer war ein 25 Jahre alter Mann. Diese Strafe verbüßte der Angeklagte bis Mitte Juni 2014 vollständig.
2. Bei dem Angeklagten liegt eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vor, zudem ein Abhängigkeitssyndrom von Alkohol. Beides hat bei Begehung der Taten nicht zu einer Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB geführt. Die Erfolgsaussicht einer Behandlung der Alkoholabhängigkeit in der Entziehungsanstalt konnte die Jugendkammer angesichts der Persönlichkeitsstörung nicht feststellen.
3. Die Jugendkammer hat - dem Sachverständigen folgend - angenommen, dass der Angeklagte einen Hang zur Begehung von Straftaten habe. Er begehe Straftaten, wenn sich die Gelegenheit dazu biete. Es bestehe eine andauernde Delinquenzbereitschaft. Er „neige einfach dazu, sich kriminell zu verhalten“ (UA S. 34). Deshalb bestehe das Risiko, dass er weiterhin straffällig werde.
Es fehle jedoch an der Gefahr der Begehung erheblicher Straftaten, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt würden. Bei der Anlasstat sei zu berücksichtigen, dass der Angeklagte auf die Aufforderung des Kindes sein Verhalten alsbald beendet habe und es später nicht mehr zu Übergriffen gegenüber P. gekommen sei. Die Tat habe keine Traumatisierung des Kindes nach sich gezogen. Bei den Taten, die den letzten beiden Vorverurteilungen zugrunde gelegen hätten, sei der Angeklagte zwar gewalttätig gewesen, es gebe aber keine Steigerung von Intensität und Gefährlichkeit. Zudem sei zu berücksichtigen, dass der Angeklagte nach Haftentlassung 70 Jahre alt sein werde und „das von ihm ausgehende Gewalt- und Gefährdungspotential mutmaßlich mit zunehmendem Alter weiterhin nachlassen dürfte“ (UA S. 43).
II.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.
1. Die Revision ist wirksam auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkt (vgl. BGH, Urteil vom 8. August 2017 - 5 StR 99/17, NStZ-RR 2017, 310 mwN).
2. Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Die formellen Voraussetzungen der Verhängung von Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB liegen vor, wie die Strafkammer zutreffend ausgeführt hat.
b) Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine hangbedingte Gefährlichkeit des Angeklagten verneint hat, erweisen sich in mehrfacher Hinsicht als unzureichend.
aa) Das Landgericht ist von einem falschen rechtlichen Ansatz ausgegangen, indem es seinen Blick auf die durch die Anlasstat verursachten Folgen verengt hat (vgl. BGH, Urteil vom 7. Februar 2017 - 5 StR 471/16). Die in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB als materielle Anordnungsvoraussetzung benannte Gefährlichkeit eines Angeklagten für die Allgemeinheit liegt vor, wenn infolge eines bei ihm bestehenden Hanges die bestimmte Wahrscheinlichkeit besteht, dass er auch in Zukunft Straftaten begehen wird, die eine erhebliche Störung des Rechtsfriedens darstellen. Als wesentlichen Anhaltspunkt für die Beurteilung der Erheblichkeit zu erwartender Straftaten nennt das Gesetz eine schwere seelische oder körperliche Schädigung der Opfer. Bezugspunkt sind demnach die wahrscheinlichen Folgen der zu erwartenden Straftaten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist mit Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern typischerweise die Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden verbunden; sie wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass aufgrund der Anlasstaten solche Schäden (zufällig) nicht eingetreten sind (vgl. BGH aaO mwN). Andere Umstände, die dafür sprechen könnten, dass sich die Gefahr bei künftigen entsprechenden Taten des Angeklagten nicht realisieren werde, sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen.
bb) Die Gefährlichkeitsprognose ist auch lückenhaft, weil das Landgericht nicht mitteilt, welche Straftaten konkret von dem Angeklagten zu erwarten sind. Der Sachverständige, dem das Gericht gefolgt ist, hat insoweit ausgeführt, der Angeklagte begehe Straftaten, wenn sich die Gelegenheit dazu biete. Auf Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Kindern ist dieser Befund ersichtlich nicht beschränkt, wie auch die bisherigen Vorstrafen des Angeklagten belegen. Deshalb ist nicht nachvollziehbar, dass die Strafkammer bei ihrer Prognose lediglich zu erwartende Straftaten nach §§ 176, 176a StGB in den Blick nimmt. Die in diesem Zusammenhang angestellte Erwägung, bei dem Angeklagten habe sich erst in fortgeschrittenem Lebensalter eine Sexualdelinquenz entwickelt, steht zudem in Widerspruch zu der Feststellung, dass er bereits 1984 wegen einer sexuellen Nötigung und 1986 wegen einer Vergewaltigung zu erheblichen Freiheitsstrafen verurteilt werden musste.
cc) Soweit das Landgericht erwägt, die Gefährlichkeit des Angeklagten könne wegen seines fortgeschrittenen Alters nach Haftentlassung gesunken sein, beschreibt es angesichts der bisherigen Delinquenz nur eine theoretische Möglichkeit, die im Rahmen der Prüfung des § 66 Abs. 1 StGB nicht durchschlägt. Derartige Veränderungen sind im Verfahren nach § 67c Abs. 1 Satz 1 StGB zu prüfen. Für die Gefährlichkeitsprognose kommt es auf den Zeitpunkt der Verurteilung an (§ 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB). Hinsichtlich der Anordnung der Sicherungsverwahrung steht dem Tatgericht auch kein Ermessen zu, in dessen Rahmen eine zu erwartende Haltungsänderung oder Alterungsprozesse berücksichtigt werden könnten. Etwaige ernsthafte Erkrankungen des Angeklagten, die - wie die Revision vorträgt - nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils ausgebrochen sind, wird das neue Tatgericht im Rahmen seiner Gefährlichkeitsprognose zu berücksichtigen haben.
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