Entscheidungsdatum: 12.12.2018
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger wird das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 23. März 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags (begangen an seiner Mutter) und des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (begangen an seiner Großmutter) freigesprochen und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Hiergegen wenden sich die jeweils auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger; diese machen auch einen Verfahrensfehler geltend. Die Revisionen haben umfassenden Erfolg.
I.
1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
Der im Tatzeitpunkt 30-jährige Angeklagte konsumiert seit vielen Jahren Drogen, insbesondere Cannabis. Bei ihm besteht ein Abhängigkeitssyndrom durch multiplen Substanzgebrauch. Am Abend vor der Tat hielt er sich im Haus seiner Eltern auf, in dessen Obergeschoss auch seine Großeltern, die Nebenkläger W. , wohnten. Er spielte mit seiner Mutter und seiner Großmutter ein Gesellschaftsspiel. Dabei nahm er Alkohol zu sich. Nach Beendigung des Spiels drehte er sich einen Joint und rauchte ihn zur Hälfte. Anstelle der üblichen beruhigenden Wirkung setzten nach kurzer Zeit Hitzewallungen und ein auffälliges Durstgefühl bei ihm ein und Panik stieg in ihm auf. Er erklärte seiner Mutter, sofort ins Krankenhaus fahren zu wollen. Diese versuchte, ihn zu beruhigen, woraufhin der Angeklagte etwas trank und sich ins Bett legte.
Nach kurzer Zeit stand der Angeklagte, der nach dem Cannabiskonsum in einen ausgeprägten Erregungszustand geraten war, wieder auf und ging ins Schlafzimmer seiner Eltern. Sein - nicht näher feststellbares - Verhalten veranlasste seine Mutter, um Hilfe zu rufen. Hierdurch wurde seine Großmutter, die Nebenklägerin, geweckt. Als sie das Schlafzimmer betrat, sprang der Angeklagte gerade auf seinen pflegebedürftigen, bewegungsunfähig im Bett liegenden Vater. Seine Mutter zog ihn weg. Der Angeklagte schubste sie und schlug mit Fäusten auf seine zu Boden gegangene Mutter ein. Die Nebenklägerin wollte vom Telefon in der Küche die Polizei rufen. Als sie an dem Angeklagten vorbeiging, sprang er von seiner Mutter auf und schlug der Nebenklägerin mit großer Wucht auf das rechte Auge, woraufhin seine Mutter rief: „A. , lass deine Oma, das ist deine Oma!“
Die vom Schlag benommene Nebenklägerin ging in die Küche. Es gelang ihr nicht, die Polizei anzurufen. Der Angeklagte ließ von seiner Mutter ab und begab sich ebenfalls in die Küche, wo er die Besteckschubladen öffnete und eine Geflügelschere ergriff. Seine Mutter konnte in der Zwischenzeit den Notruf wählen. Sie teilte der Rettungsleitstelle mit: „Bitte kommen Sie schnell! Mein Sohn, der ist total verrückt, der hat Drogen genommen! Er rastet hier total aus!“ Der Anruf endete mit einem Schmerzens- und Hilfeschrei.
Der Angeklagte stach in der Folgezeit mit der Geflügelschere auf Mutter und Großmutter ein. Seiner Mutter stach er mit Wucht unter anderem mehrfach in den Kopf, was zu eingedrückten Brüchen der äußeren Knochentafel bzw. des Stirnbeins führte. Ein Stich traf sie in den Hals. Mit weiteren Stichen verletzte er sie im Bereich des Brustkorbes. Einer dieser Stiche eröffnete den Herzbeutel und durchtrennte die große Körperschlagader. Die Mutter erlitt knapp 50 Verletzungen. Seine Großmutter verletzte der Angeklagte mit mindestens 20 Stichen.
Er setzte sich auf seine in einer Blutlache liegende Mutter und gab kund, er würde sie jetzt gern „vögeln“, das müsse wunderschön sein in dem Blut, er werde jetzt ein „Muttermörder“. Seine Großmutter, die inzwischen eine Bratpfanne geholt hatte, nutzte diese Gelegenheit und schlug ihm die Pfanne mit Wucht auf den Kopf.
Die Mutter des Angeklagten starb noch am Tatort an ihren schweren Verletzungen. Seine Großmutter wäre ohne medizinische Versorgung ebenfalls ihren Verletzungen erlegen. Der Schlag auf ihr Auge führte zu Brüchen der Augenhöhlenwand und des Jochbogens. Es kam zu einer Lähmung der die Augenbewegung steuernden Nerven und einer Rückbildung des Sehnervs. Die Nebenklägerin kann mit diesem Auge nur noch Hell und Dunkel wahrnehmen.
2. In seiner rechtlichen Würdigung ist das Landgericht zu dem Schluss gekommen, dass der Angeklagte zwei rechtswidrige Taten (§ 53 StGB) begangen habe, von denen die Tat zum Nachteil seiner Mutter den Tatbestand des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB), die Tat zum Nachteil seiner Großmutter die Tatbestände des versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerer und mit gefährlicher Körperverletzung (§ 212 Abs. 1, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 5, § 226 Abs. 1 Nr. 1, §§ 22, 23, 52 StGB) erfülle; er sei jedoch zur Tatzeit aufgrund eines atypischen Rausches schuldunfähig gewesen (§ 20 StGB). Er sei auch nicht wegen Vollrausches (§ 323a StGB) strafbar, da er mit der Möglichkeit eines atypischen Verlaufs eines Cannabisrausches und dem sich anschließenden Geschehen nicht habe rechnen können. Daher sei er freizusprechen.
Mit Blick auf den Hang des Angeklagten, Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, hat die Strafkammer seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Nachdem es schon im Jahr 2015 zu psychischen Auffälligkeiten nach Drogenkonsum bei ihm gekommen sei und er jetzt im Rauschzustand schwerste Straftaten begangen habe, bestehe ohne eine Therapie die Gefahr weiterer erheblicher rechtswidriger Taten. Die erforderliche Erfolgsaussicht sei zu bejahen.
II.
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger sind begründet. Das Urteil ist bereits auf die von den Revisionsführern jeweils erhobene Sachrüge aufzuheben. Auf die Verfahrensrüge der Nebenkläger kommt es deshalb nicht an.
1. Die Annahme des Landgerichts, dem Angeklagten habe zum Zeitpunkt der Tat infolge eines atypisch verlaufenden Rausches die Unrechtseinsicht gefehlt, begegnet durchgreifenden Bedenken.
a) Ob bei der Begehung der Tat Schuldunfähigkeit vorlag, ist eine Rechtsfrage, die das Gericht zu beantworten hat (BGH, Urteil vom 8. März 1955 - 5 StR 49/55, BGHSt 7, 238; Beschluss vom 14. Juli 2010 - 2 StR 278/10). Reicht bei Auftreten von Besonderheiten die richterliche Sachkunde für die Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht aus, muss es hierfür einen Sachverständigen hinzuziehen (BGH, Beschluss vom 23. Februar 2011 - 5 StR 24/11 mwN). Auch dann ist die Frage, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung aufgrund einer festgestellten Störung im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert oder im Sinne des § 20 StGB aufgehoben war, eine Rechtsfrage, die das Tatgericht unter Darlegung der fachwissenschaftlichen Beurteilung durch den Sachverständigen, letztlich aber ohne Bindung an dessen Ausführungen, in eigener Verantwortung zu entscheiden hat (BGH, Beschlüsse vom 11. Februar 2016 - 2 StR 512/15 und vom 27. Oktober 2009 - 3 StR 369/09).
Hat das Tatgericht ein solches Gutachten eingeholt, ist es zwar nicht gehindert, von diesem abzuweichen, da es stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein kann. Auch muss das Tatgericht nicht in jedem Fall, in dem es von dem Gutachten des in der Hauptverhandlung gehörten Sachverständigen abweichen will, einen weiteren Sachverständigen hinzuziehen. Vor-aussetzung ist aber, dass es die für die abweichende Beurteilung erforderliche Sachkunde besitzt, selbst wenn es erst durch das Gutachten genügend sachkundig geworden ist, um die Beweisfrage beurteilen zu können (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Januar 2008 - 4 StR 542/07, StraFo 2008, 334 - 335, und vom 10. Januar 2000 - 5 StR 638/99, NStZ 2000, 437).
b) Insofern ist dem Urteil zum einen zu entnehmen, dass der psychiatrische Sachverständige aufgrund eines Affektzustandes beim Angeklagten zur Tatzeit von einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung ausgegangen sei, die geeignet gewesen sei, „die Fähigkeit des Angeklagten, andrängende aggressive Impulse ausreichend zu steuern, in schwerwiegendem Maße zu beeinträchtigen“ (UA S. 17); eine Mischintoxikation habe dagegen nicht vorgelegen, da lediglich ein inaktives Abbauprodukt von Kokain nachgewiesen worden sei (UA S. 21). Zum anderen habe ein weiter erholtes Gutachten einer Toxikologin in Verbindung mit ergänzenden rechtsmedizinischen Untersuchungen ergeben, dass Blut und Urin des Angeklagten neben Alkohol, THC, THC-OH und THC-COOH sowie Kokainabbauprodukten unter anderem auch Lidocain und Pseudoephedrin enthalten habe (UA S. 22 f.); zur Tatzeit dürfte deshalb ein akuter Rauschzustand vorgelegen haben und es sei insbesondere wegen der „unkalkulierbaren“ Wirkung des THC-OH sowie nachwirkenden Kokains und der Wirkung des Pseudephedrins und des Lidocains „gut möglich“, dass der Cannabisrausch vom Angeklagten „anders als üblich im Sinne eines atypischen Rauschverlaufs erlebt worden sei“ (UA S. 23). Eine Stellungnahme des psychiatrischen Sachverständigen zu diesem Befund teilt das Urteil nicht mit; insofern ist vielmehr lediglich ausgeführt, dass ihm die Möglichkeit eines derartigen atypischen Verlaufs eines Cannabisrausches „nicht geläufig“ gewesen sei (UA S. 24).
c) Vor diesem Hintergrund begegnet die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei aufgrund einer akuten Drogenintoxikation unfähig gewesen, das Unrecht seiner Tat einzusehen, durchgreifenden Bedenken.
Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt mehrstufig. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss seine psychische Funktionsfähigkeit bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein; es muss also festgestellt werden, in welcher Weise sich die psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteil vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 399/16; vgl. zudem Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, NStZ 2005, 57, 58).
Die Beurteilung, ob und inwiefern die Auswirkungen einer hier zumindest in Betracht kommenden Mischintoxikation im konkreten Fall zu einer relevanten psychischen Störung geführt und die psychische Funktionsfähigkeit beeinträchtigt haben, unterfällt nicht dem Fachgebiet eines Toxikologen. Zur Vermittlung der medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen im Hinblick auf die Diagnose einer psychischen Störung, deren Schweregrad und deren innerer Beziehung zur Tat wird das Gericht grundsätzlich vielmehr auf die sachverständige Hilfe eines Psychiaters angewiesen sein, für dessen Beurteilung Befunde eines Toxikologen eine - wichtige oder gar unentbehrliche - Grundlage bilden können; sie vermögen diese aber nicht zu ersetzen.
Auch stellen die Auswirkungen von Cannabis in Wechselwirkung mit weiteren chemischen Substanzen regelmäßig spezifisches Fachwissen dar, das nicht typischerweise Allgemeingut von Richtern ist (vgl. BGH, Beschluss vom 26. April 2000 - 3 StR 152/00, NStZ-RR 2000, 332). Dass die Strafkammer gleichwohl die für die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten erforderliche Sachkunde besaß, belegt das Urteil nicht. Insbesondere erscheint ausgeschlossen, dass sie insofern durch das psychiatrische Gutachten genügend sachkundig geworden ist, um diese Frage beurteilen zu können; denn sie hat die Sachkunde des von ihr beigezogenen Psychiaters hinsichtlich eines atypischen Rauschverlaufs gerade in Zweifel gezogen. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei aufgrund einer akuten Drogenintoxikation unfähig gewesen, das Unrecht seiner Tat einzusehen, ist daher nicht tragfähig belegt.
2. Einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten hat die Überprüfung des Urteils nicht ergeben (§ 301 StPO).
3. Die Sache bedarf demnach neuer Verhandlung und Entscheidung, womöglich unter Hinzuziehung eines anderen forensisch-psychiatrischen Sachverständigen. Um dem neuen Tatgericht widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen, hebt der Senat die bisherigen insgesamt auf.
4. Für den Fall, dass das neue Tatgericht wiederum zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass der Angeklagte die Taten - gegebenenfalls nicht ausschließbar - im Zustand rauschbedingter Schuldunfähigkeit begangen hat, wird es im Rahmen der dann erforderlichen erneuten Erörterung einer Strafbarkeit nach § 323a StGB Folgendes zu bedenken haben:
Einer konkreten Vorhersehbarkeit der Rauschtat bedarf es grundsätzlich nicht. Denn der Gesetzgeber hat das Sich-in-einen-Rausch-Versetzen in § 323a StGB im Hinblick auf die allgemeine Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit des schwer Berauschten als ein selbständiges, rechtlich fassbares sanktionswürdiges Unrecht bewertet. Er hat die Strafbarkeit indes davon abhängig gemacht, ob bzw. in welchem Umfang sich die für die Rechtsgüter Dritter oder die Allgemeinheit gesteigerte Gefahr, die von einem Berauschten ausgeht, tatsächlich in einer konkreten rechtswidrigen Tat niedergeschlagen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 2017 - GSSt 3/17, BGHSt 62, 247, 268 f.). Ein „folgenloser“ Rausch soll keine Sanktion nach sich ziehen; demgegenüber wird derjenige wegen der Berauschung mit Strafe oder Geldbuße sanktioniert, der in diesem Zustand in rechtswidriger Weise einen Straftatbestand verwirklicht und hierfür nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig war oder dies zumindest nicht auszuschließen ist (vgl. auch BGH, Urteile vom 12. April 1951 - 4 StR 78/50, BGHSt 1, 124, 125; vom 2. Mai 1961 - 1 StR 139/61, BGHSt 16, 124, 125 f.; vom 1. Juni 1962 - 4 StR 88/62, BGHSt 17, 333, 334; vom 26. Oktober 1965 - 1 StR 394/65, BGHSt 20, 284, 285; vom 22. August 1996 - 4 StR 217/96, BGHSt 42, 235, 242 f.; Beschlüsse vom 18. August 1983 - 4 StR 142/82, BGHSt 32, 48, 55 f.; vom 17. Oktober 1991 - 4 StR 465/91, BGHR StGB § 323a Abs. 2 Strafzumessung 5). In seinem Urteil vom 7. Mai 1957 (5 StR 127/57, BGHSt 10, 247), auf das sich das angefochtene Urteil zur Begründung seiner Ablehnung einer Strafbarkeit des Angeklagten wegen Vollrauschs der Sache nach wohl bezieht, hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs zwar verlangt, dass der Täter weiß oder wissen muss, er könne im Rausch „irgendwelche Ausschreitungen strafbarer Art begehen“ (BGH aaO, 251); eine solche Voraussicht verstehe sich jedoch in aller Regel von selbst.
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