Entscheidungsdatum: 28.08.2012
Unterbliebener Gerichtsbeschluss bei Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens und Beruhen.
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 6. Dezember 2011 werden nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten A. wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen und wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und acht Monaten verurteilt. Die Angeklagten V. und J. O. hat es jeweils wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt. Gegen alle Angeklagten ist Wertersatzverfall angeordnet worden.
Die gegen dieses Urteil gerichteten, mit der Sachrüge und von A. zudem mit Verfahrensrügen begründeten Revisionen der Angeklagten sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Der Erörterung bedarf nur die auf die Verletzung des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO gestützte Verfahrensrüge des Angeklagten A. .
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Nachdem der Vorsitzende zunächst bekannt gegeben hatte, dass beabsichtigt sei, bestimmte - in einer Liste im Einzelnen bezeichnete - Wortprotokolle der überwachten Telefongespräche sowie Observationsberichte im Wege des Selbstleseverfahrens in die Hauptverhandlung einzuführen, widersprach der Verteidiger des Angeklagten A. der beabsichtigten Einführung der Protokolle aus den Erkenntnissen der Telefonüberwachung und kündigte mit spezifischen Einwänden gegen deren Aufnahmequalität „für den Fall der Anordnung des Selbstleseverfahrens Widerspruch an“. Nachdem der Vorsitzende den Prozessbeteiligten eine weitere Liste der Urkunden überreicht hatte, deren Einführung im Selbstleseverfahren beabsichtigt war, widersprach ein weiterer Verteidiger im Folgetermin gemäß § 249 Abs. 2 StPO ausdrücklich der Einführung der im Einzelnen benannten Urkunden im Selbstleseverfahren.
Ohne die Widersprüche zu bescheiden, wurde dann mit den Prozessbeteiligten erörtert, welche Urkunden im Selbstleseverfahren eingeführt werden sollten. Anschließend wurde festgestellt, dass die Angeklagten, die Verteidiger und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft Gelegenheit hatten, die in den Anlagen näher bezeichneten Urkunden und Schriftstücke zu lesen. Die Schöffen und Berufsrichter erklärten ausdrücklich, dass sie diese Urkunden und Schriftstücke bereits gelesen hätten. Sodann erging die Verfügung des Vorsitzenden, dass hinsichtlich dieser Urkunden auf die Verlesung verzichtet und gemäß § 249 Abs. 2 StPO das Selbstleseverfahren angeordnet werde. Nachdem anschließend festgestellt worden war, dass der Angeklagte V. O. tatsächlich noch keine Gelegenheit gehabt hatte, die Urkunden zu lesen, wurde die Aushändigung der Urkunden an ihn veranlasst. Im nächsten Hauptverhandlungstermin wiederholte der Vorsitzende die Feststellung und ordnete in der gleichen Weise wie bereits am vorangegangenen Verhandlungstag nochmals das Selbstleseverfahren an. Eine Entscheidung über den Widerspruch der Verteidigung des Angeklagten A. gegen die Durchführung des Selbstleseverfahrens erging bis zur Urteilsverkündung nicht.
2. Die zulässige Rüge hat in der Sache letztlich keinen Erfolg. Gegenstand dieser Rüge ist nicht etwa die Frage eines Vorrangs der Augenscheinseinnahme bezogen auf abgehörte Gespräche vor deren Einführung durch Urkundenverlesung, sondern allein die Art und Weise der Einführung durch Urkundenbeweis.
a) Der Beschwerdeführer beanstandet mit Recht einen Verstoß bei der Anordnung des Selbstleseverfahrens. Über den Widerspruch des Verteidigers ist nicht durch Gerichtsbeschluss entschieden worden. Dies war nach § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO geboten, und zwar ungeachtet dessen, dass der Widerspruch hier bereits vor der eigentlichen Vorsitzendenanordnung, indes nach deren ausdrücklicher Ankündigung erhoben worden ist. Dies gilt jedenfalls angesichts der strukturell allzu spät erst nach Feststellung der Selbstlesemodalitäten getroffenen ausdrücklichen Vorsitzendenanordnung.
Dass der klar und unbedingt, nicht etwa nur vorläufig erklärte und später ausweislich des Revisionsvorbringens weder in Frage gestellte noch gar zurückgenommene Widerspruch nach Erlass der schließlich allein vom Vorsitzenden getroffenen Anordnung des Selbstleseverfahrens nicht wiederholt worden ist, begründet bei dem hier gegebenen Verfahrensablauf nicht etwa einen Verlust der Revisionsrüge.
b) Der durch das Unterbleiben eines Gerichtsbeschlusses trotz Widerspruchs gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens begründete Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO kann grundsätzlich mit der Revision gerügt werden. Entgegen einer verbreiteten Ansicht im Schrifttum (vgl. etwa Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 249 Rn. 31; Mosbacher in LR-StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 110; Frister in SK-StPO, 4. Aufl., § 249 Rn. 116; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 7. Aufl., Rn. 2069) ist auch nicht regelmäßig auszuschließen, dass das Urteil auf einem solchen Verstoß beruht. Vielmehr ist stets die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass aufgrund des Gerichtsbeschlusses vom Selbstleseverfahren Abstand genommen worden wäre. Da der gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO erhobene Widerspruch lediglich das Absehen von der Verlesung - mithin die Art der Beweiserhebung und nicht die Verwertung der Urkunden als solche - betrifft, ist mit dem Revisionsvortrag bei der Beruhensprüfung darauf abzustellen, ob ausgeschlossen werden kann, dass für den Fall alternativer Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO der in dem mangelhaft angeordneten Selbstleseverfahren eingeführten Urkunden ein abweichendes Beweisergebnis denkbar wäre, und zwar namentlich infolge hierbei erhobener erheblicher Einwände von Verfahrensbeteiligten. Eine derartige Prüfung vermag nicht ohne weiteres stets einen Ausschluss des Beruhens des Urteils auf dem Verstoß zu rechtfertigen. Bereits aus dem unter anderem in §§ 250, 261, 264 StPO zum Ausdruck kommenden Prinzip der Mündlichkeit der Beweisaufnahme, das auch gewährleisten soll, dass der Prozessstoff den Beteiligten zur Kenntnis gebracht und zur Diskussion gestellt wird (vgl. hierzu etwa Pfeiffer/Hannich in KK-StPO, 6. Aufl., Einl. Rn. 8), lässt sich der Ausnahmecharakter des Selbstleseverfahrens - gegenüber dem Regelfall der Urkundenverlesung in der Hauptverhandlung gemäß § 249 Abs. 1 StPO - ableiten. Dieser findet in der speziell für das Selbstleseverfahren als besondere Form der Einführung von Urkunden geregelten Widerspruchsmöglichkeit und dem durch den Widerspruch begründeten Erfordernis eines Gerichtsbeschlusses seinen gesetzlichen Ausdruck.
Vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen Wertung ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Verlesung jenseits prozessökonomischer Erwägungen die im Vergleich zum Selbstleseverfahren vorzugswürdige Methode der Einführung von Beweisstoff in die Hauptverhandlung darstellt. Dies dürfte letztlich auch der Vorstellung des historischen Gesetzgebers entsprechen. Zwar war das Selbstleseverfahren im Gesetzgebungsverfahren, wonach unter anderem die bis dahin geltende Voraussetzung des Verzichts aller Prozessbeteiligten auf die Urkundenverlesung gestrichen wurde, ursprünglich als gleichwertige Alternative zu der Verlesung in der Hauptverhandlung konzipiert (vgl. Regierungsentwurf BT-Drucks. 10/1313 S. 28). In der Begründung der dann Gesetz gewordenen Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, durch die die Widerspruchsmöglichkeit in den Entwurf eingebracht wurde, wird jedoch darauf abgestellt, dass „der Staatsanwaltschaft, dem Angeklagten und dem Verteidiger eine formalisierte Einflussnahme auf die Entscheidung darüber, ob von der Verlesung abgesehen werden soll, weiterhin ermöglicht werden sollte“ (BT-Drucks. 10/6592 S. 22). Mit der Einfügung des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO in den ursprünglichen Entwurf hat der Gesetzgeber somit am Ausnahmecharakter des Selbstleseverfahrens festgehalten und einer mit ihm verbundenen gewissen Beeinträchtigung der Teilhaberechte von Verfahrensbeteiligten Rechnung getragen. Dementsprechend hat auch der Bundesgerichtshof schon zum Ausdruck gebracht, dass mit dem Selbstleseverfahren potentielle Einbußen der Qualität des Urkundenbeweises verbunden sind, die der Gesetzgeber allerdings in Kauf genommen hat und die daher von den Verfahrensbeteiligten prinzipiell zu akzeptieren sind (BGH, Beschluss vom 14. September 2010 - 3 StR 131/10, Rn. 13, NStZ-RR 2011, 20).
Neben normativen Überlegungen streiten auch rein tatsächliche Erwägungen dafür, ein Beruhen des Urteils auf einem Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht von vornherein als ausgeschlossen anzusehen. Eine Verlesung in der Hauptverhandlung kann den Verfahrensbeteiligten eine Chance geben, eher zu erkennen, welchen Urkunden oder Urkundeninhalten das Gericht besondere Bedeutung beimisst. Insbesondere ergibt sich durch die Verlesung die Gelegenheit für Erörterungen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einführung des jeweiligen Beweismittels (vgl. Krahl, GA 1998, 329, 336). Schwächen des Selbstleseverfahrens werden auch nicht etwa durch - jenseits des freilich in vielen Umfangsverfahren besonders wichtigen Gesichtspunkts der Prozessökonomie - denkbare Vorteile gegenüber dem Verlesen in der Hauptverhandlung ausgeglichen. Denn es bleibt neben den Richtern auch dem Staatsanwalt, dem Verteidiger und dem Angeklagten in der Regel unbenommen, in der Hauptverhandlung verlesene Urkunden selbst noch einmal zu lesen.
c) Im zu entscheidenden Fall kann gleichwohl ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf dem gerügten Verstoß beruht. Dies kann zwar nicht schon daraus gefolgert werden, dass in der Revisionsbegründung nicht angegeben ist, in welcher Weise sich die Art der Beweiserhebung, also die Einführung der dem Urteil zugrunde liegenden Urkunden im Selbstleseverfahren statt durch Verlesung, auf das Beweisergebnis ausgewirkt hat und welche anderweitigen Erkenntnisse im Fall des Verlesens zu gewinnen gewesen wären (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2010 - 1 StR 587/09, Rn. 28, StV 2012, 74). In Anbetracht der im Urteil der Beweiswürdigung zugrunde gelegten Urkundeninhalte ist indessen nicht ansatzweise ersichtlich, wie eine Verlesung in der Hauptverhandlung zu einer anderen Bewertung der eingeführten Telefongespräche und Observationsberichte hätte führen sollen. Insbesondere angesichts der Vielzahl der aus diesen gewonnenen Indizien, für die es durchweg auf Formulierungsdetails nicht angekommen ist, ist nicht vorstellbar, dass diese seitens der Strafkammer nach Verlesung in der Hauptverhandlung anders als geschehen hätten bewertet werden können oder dass der Angeklagte durch Aufdeckung von Missverständnissen oder die Abgabe von entlastenden Erklärungen für das dokumentierte Verhalten die Schlussfolgerungen der Strafkammer ernsthaft hätte in Frage stellen können. Insoweit fällt zusätzlich ins Gewicht, dass die durch die im Selbstleseverfahren eingeführten Urkunden gewonnenen Erkenntnisse zu einem erheblichen Teil durch Zeugenaussagen, im Fall II.4 der Urteilsgründe auch durch objektive Beweismittel maßgeblich gestützt werden.
Basdorf Raum Schaal
Dölp Bellay