Entscheidungsdatum: 28.04.2010
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 25. November 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO im Ausspruch über die Höhe der Jugendstrafe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten durch sein Rechtsmittel entstandene Kosten und Auslagen aufzuerlegen. Er hat jedoch die hierdurch den Nebenklägern entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in drei rechtlich zusammentreffenden Fällen und wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
a) Am 22. Juni 2008 gegen 1.20 Uhr verließen der Angeklagte, der ein Klappmesser bei sich führte, und die gesondert verfolgten B., K. U., N. U. und S. am Bahnhof Barmstedt die Bahn. Im Verlaufe des Abends hatte der Angeklagte über einen nicht mehr feststellbaren Zeitraum zusammen mit N. U. und B. eine Flasche Wodka gemischt mit einem Energy-Drink getrunken. Er fühlte sich dadurch angetrunken, wies aber keinerlei Ausfallerscheinungen auf. Bereits in der Bahn hatte der Angeklagte mit einem anderen Fahrgast Streit gesucht. Ein Zeuge, der schlichten wollte, geriet selbst mit dem Angeklagten in Streit, den wiederum S. schlichtete. Dieser hatte das Gefühl, dass der Angeklagte an dem Abend „auf Streitigkeiten aus war“.
Auf dem Weg vom Bahnhof aus durch Barmstedt traf die Gruppe um den Angeklagten den ebenfalls alkoholisierten Zeugen J. T., der von einer Party im „Spanischen Zentrum“ kam. Der gesondert verfolgte B. hegte aus vergangenen Schulzeiten einen Groll gegen J. T. und beschimpfte ihn. Es kam zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Zeuge T. von B. und dem Angeklagten jeweils einen Schlag ins Gesicht erhielt. Daraufhin rannte T. aufgebracht zurück zu seinen Freunden zum „Spanischen Zentrum“.
Gemeinsam mit den Zeugen Ne., M. T., W. und Wu., die ebenfalls alkoholisiert waren, wurde beschlossen, die Gruppe um den Angeklagten zur Rede zu stellen. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen beiden Gruppen, die binnen kürzester Zeit in eine körperliche überging. In deren Verlauf gelang es dem Zeugen Ne., der dem mit dem Angeklagten rangelnden J. T. zu Hilfe gekommen war, den Angeklagten zu Boden zu bringen und ihn dort kurzzeitig festzuhalten. Dieser zog nun sein Klappmesser und stach es dem Zeugen in den linken Oberarm und zweimal in den Bereich des linken Schulterblattes; schließlich versetzte er ihm noch einen Stich in das Gesäß.
Nachdem der Zeuge Ne. von ihm abgelassen hatte, geriet der Angeklagte in eine erneute körperliche Auseinandersetzung mit dem Zeugen J. T. Dessen Zwillingsbruder M. T. und der Zeuge W. mischten sich in die körperliche Auseinandersetzung ein. Im weiteren Verlauf stach der Angeklagte dem M. T. mit seinem Messer dreimal in den Rücken und dem J. T. zweimal in den Brustkorb sowie einmal in dessen rechten Unterarm. Dabei erkannte er die Gefahr eines tödlichen Ausgangs für beide und fand sich damit ab. Schließlich versetzte der Angeklagte dem Zeugen W. einen Stich ins Gesäß. M. T. erlitt einen linksseitigen Pneumothorax. Dass sich bei ihm kein akut lebensbedrohlicher Zustand entwickelte, war nur dem Eingreifen der später hinzugezogenen Notärztin geschuldet. J. T. kam aufgrund seiner Brustkorbverletzung zwar nicht in konkrete Lebensgefahr; jedoch war seine Verletzung aufgrund ihrer Lokalisation potentiell lebensgefährlich.
Nachdem sich das Geschehen etwas beruhigt und die Gruppen sich zunächst voneinander entfernt hatten, wurde aus der Gruppe um J. T. eine provozierende Äußerung gebrüllt. Dies veranlasste den Angeklagten, sich mit gezücktem Messer „schnellen Schrittes zu dieser Gruppe hin zu bewegen“ (UA S. 12). Auf die Zurufe seiner Freunde, die ihn zurückhalten wollten, reagierte er nicht. Dem Zeugen J., der den Angeklagten auf sich zukommen sah, gelang es zur Seite zu springen. Der Angeklagte stach den Zeugen Wu. kräftig in den linken Oberschenkel und kehrte dann zu seinen Freunden zurück.
b) Die sachverständig beratene Strafkammer ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat voll schuldfähig war. Nach den Erkenntnissen des Sachverständigen liege bei ihm ein „Schwachsinn im engeren Sinne“ (IQ 55 bis 75) vor, der seine gesamte Persönlichkeitsstruktur bestimme. Indes seien die vorhandenen Kompetenzen des Angeklagten bei der Alltagsbewältigung, insbesondere seine „sogenannte Straßenkompetenz“ (UA S. 22), zu berücksichtigen, angesichts derer sein diagnostizierter Schwachsinn in seinem Schweregrad für sich genommen nicht ausreiche, um eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit zu begründen. Die außerdem festgestellte Impulskontrollschwäche erfülle als Ausprägung der Persönlichkeit des Angeklagten nicht das Kriterium der schweren anderen seelischen Abartigkeit (§ 20 StGB). Auch in der Gesamtschau reichten die festgestellte Debilität und die Impulskontrollschwäche nicht zur Bejahung der Voraussetzungen des § 21 StGB aus. Nach den weiteren Ausführungen des Sachverständigen könne aber eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit vorgelegen haben, sofern zur Tatzeit zusätzlich eine Alkoholisierung mit enthemmender Wirkung bestanden haben sollte. Die Strafkammer geht nach eigener Würdigung davon aus, dass auch die festgestellte Alkoholisierung des Angeklagten im Tatzeitraum nicht zu einer erheblichen Verminderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten geführt habe.
2. Während der Schuldspruch und die Verhängung von Jugendstrafe rechtsfehlerfrei sind, kann der Ausspruch über die Höhe der Jugendstrafe nicht bestehen bleiben.
a) Angesichts der Besonderheiten des Falles, insbesondere der Persönlichkeit des Angeklagten, genügen die Ausführungen, mit denen das Landgericht die Voraussetzungen des § 21 StGB ausgeschlossen hat, nicht den rechtlichen Anforderungen. Sie sind unklar und enthalten Widersprüche.
aa) Schon die Darlegungen des Sachverständigengutachtens im Urteil sind für das Revisionsgericht nicht in allen Punkten nachvollziehbar. Sie stellen wesentlich auf die „Straßenkompetenz“ des Angeklagten ab, angesichts derer keine erhebliche Verminderung seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit vorliege. Der Begriff der „Straßenkompetenz“ wird indes lediglich dahingehend erläutert, dass der Angeklagte imstande sei, seine Interessen zu formulieren und zu verfolgen, einfache soziale Regeln zu verstehen und einzuhalten sowie zwischen Recht und Unrecht „in überschaubaren Alltagssituationen“ zu unterscheiden (UA S. 22). Indes ist zweifelhaft, ob der Angeklagte seine Taten angesichts der Turbulenz des Gesamtgeschehens in einer für ihn überschaubaren Alltagssituation begangen hat. Die wiedergegebene Äußerung des Sachverständigen, in der Tatsituation wirke sich der Schwachsinn angesichts der „Straßenkompetenz“ des Angeklagten nicht aus, steht im Widerspruch zu seiner Äußerung, „durch die niedrige intellektuelle Leistungsfähigkeit und einen festgestellten Mangel an Empathie verhalte sich der Angeklagte in Belastungssituationen impulsiv und unüberlegt und versuche seinen Willen massiv durchzusetzen, vor allem unter Alkoholeinwirkung“ (UA S. 21). Unberücksichtigt bleibt auch, dass die Tatsituation gruppendynamisch geprägt war und – aus Sicht des Angeklagten – die von ihm zu beachtenden strafrechtlichen Regeln durch ihnen widerstreitende aktuelle „Gruppenregeln“ überlagert wurden. Nicht zuletzt hatte auch die Geschädigtengruppe nicht die soziale Regel eingehalten, sich nicht auf körperliche Auseinandersetzungen einzulassen.
bb) Rechtlichen Bedenken begegnet auch die Bewertung der Alkoholisierung des Angeklagten im Urteil.
Auf der Grundlage der Angaben des Angeklagten durfte das Landgericht nicht ohne weiteres von einer Berechnung der Blutalkoholkonzentration absehen. Von ihr ist ein Tatgericht nicht schon dann entbunden, wenn die Angaben des Angeklagten zum konsumierten Alkohol nicht exakt sind (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 23). Vielmehr ist eine Berechnung der Blutalkoholkonzentration aufgrund von Schätzungen unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes auch dann vorzunehmen, wenn die Einlassung des Angeklagten sowie gegebenenfalls die Bekundungen von Zeugen – insoweit enthält das Urteil keine Ausführungen – zwar keine sichere Berechnungsgrundlage ergeben, jedoch eine ungefähre zeitliche und mengenmäßige Eingrenzung des Alkoholkonsums ermöglichen (BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 29; BGH StV 1993, 519). Die durch die Strafkammer mitgeteilte Einlassung des Angeklagten war als Berechnungsgrundlage nicht offensichtlich ungeeignet. Er hatte Art und Gesamtmenge des gemeinsam mit N. U. und B. getrunkenen Alkohols sowie eine noch eingrenzbare Konsumzeit („im Verlaufe des Abends“) angegeben.
Die vom Landgericht vorgenommene Würdigung psychodiagnostischer Faktoren lässt besorgen, dass es von unzutreffenden Maßstäben ausgegangen ist. Es war nicht erforderlich, dass der Grad der Alkoholisierung für sich genommen bereits eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten begründete. Vielmehr war nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens, dem sich das Landgericht anschließt, lediglich eine zu dem festgestellten Schwachsinn und der Impulskontrollschwäche hinzutretende „Alkoholisierung mit enthemmender Wirkung“ (UA S. 22) erforderlich, um zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit zu führen. Das Landgericht selbst geht davon aus, dass die festgestellte Alkoholisierung des Angeklagten zu einer „gewissen Enthemmung“ (UA S. 23) geführt habe. Die im Urteil angeführten psychodiagnostischen Merkmale belegen lediglich, dass er „noch alles mitbekam“ (UA S. 23) und „die Situation, in der er sich befand, zutreffend einschätzen konnte“ (UA S. 24), also nicht „sinnlos“ betrunken war. Dass sich das bereits im Vorfeld der Tat provozierende, Streit suchende Verhalten des Angeklagten auch mit seiner Impulskontrollstörung vereinbaren lässt, bedeutet nicht, dass es nicht daneben auch Ausdruck einer erheblichen alkoholischen Enthemmung ist. Hierzu hätte es weiterer Erwägungen bedurft.
b) Darüber hinaus hat das Landgericht es versäumt, sich bei der Zumessung der ausgesprochenen Jugendstrafe in der gebotenen Weise mit der Bedeutung des Urteils des Amtsgerichts Elmshorn vom 20. November 2007 auseinanderzusetzen. Darin war der Angeklagte wegen Diebstahls, Körperverletzung und versuchter räuberischer Erpressung unter Einbeziehung dreier weiterer Entscheidungen zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt worden. Zur Vollstreckung dieses Urteils wurde die in dem vorliegenden Verfahren angeordnete Untersuchungshaft am 27. Juni 2008 unterbrochen. Ob der Angeklagte diese Strafe vor Abschluss der Hauptverhandlung in der vorliegenden Sache am 25. November 2009 bereits vollständig verbüßt hatte, teilt das Urteil nicht mit. Soweit dies nicht der Fall war, hätte sich das Landgericht mit § 31 JGG auseinandersetzen müssen. Bei vollständiger Erledigung der Strafe hätte es prüfen müssen, inwieweit der Angeklagte hierdurch bereits eine positive erzieherische Einwirkung erfahren hat, die seinen Erziehungsbedarf vermindert. Zwar wurde in der Hauptverhandlung ein Bericht der Jugendstrafanstalt über den bisherigen Vollzugsverlauf verlesen. Aus den sich daraus ergebenden „katastrophalen Hinweisen dahingehend, dass er nicht in der Lage bzw. nicht Willens sei, minimalste Hygiene- und Ordnungsstandards einzuhalten“ (UA S. 21), lässt sich indes nicht ohne weiteres ableiten, dass Erziehungserfolge im Hinblick auf ein künftiges rechtstreues Verhalten des Angeklagten bislang nicht erzielt wurden. Derartige Erfolge hätten mit Blick auf den das Jugendstrafrecht beherrschenden Erziehungsgedanken einen für den Angeklagten vorteilhaften Einfluss auf die Dauer seiner erforderlichen weiteren Erziehung und damit die Strafhöhe (§ 18 Abs. 2 JGG). Zudem stellt der Umstand, dass die an sich rechtlich gebotene Einbeziehung des amtsgerichtlichen Urteils wegen der vollständigen Verbüßung der dort erkannten Jugendstrafe gegebenenfalls nicht mehr zulässig war (§ 31 Abs. 2 Satz 1 JGG), für den Angeklagten einen Nachteil dar, der angesichts der bei der Festsetzung der Höhe der Jugendstrafe – namentlich bei ihrer Verhängung wegen Schwere der Schuld – jedenfalls unbeachtlichen Belange des Schuldausgleichs zu Gunsten des Angeklagten hätte Berücksichtigung finden müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2006 – 3 StR 136/06).
c) Der Senat schließt aus, dass der Angeklagte die Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hat. Da wegen der Schwere der Tat hinsichtlich der Gebotenheit einer Jugendstrafe kein Zweifel besteht, hebt er das angefochtene Urteil nur im Ausspruch über deren Höhe auf.
Das neue Tatgericht wird sich – unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Satz 2 StPO) – auch mit der Frage auseinanderzusetzen haben, ob angesichts des auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens festgestellten schädlichen Gebrauchs von Alkohol (ICD 10: F 10.1) und Haschisch (ICD 10: F 12.1) ein Hang im Sinne des § 64 StGB vorliegt, und gegebenenfalls die weiteren Voraussetzungen einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu prüfen haben.
3. In Anbetracht der Bestätigung des Schuldspruchs kann der Senat trotz der Zurückverweisung der Hauptsache die auf § 74 JGG und § 473 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Kostenentscheidung bereits jetzt treffen (BGHR JGG § 74 Kosten 3). Dies hindert für den Fall eines maßgeblichen Revisionserfolgs nicht die Anordnung der Erstattung eines Teils der dem Angeklagten durch das Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen.
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