Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 27.09.2018


BVerwG 27.09.2018 - 5 C 7/17

Unentgeltliche Beförderung von schwerbehinderten Menschen im Fährverkehr


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsdatum:
27.09.2018
Aktenzeichen:
5 C 7/17
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2018:270918U5C7.17.0
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend OVG Lüneburg, 31. August 2016, Az: 4 LC 217/14, Beschlussvorgehend VG Oldenburg (Oldenburg), 23. Juni 2014, Az: 13 A 1942/13, Urteil
Zitierte Gesetze
§ 228 Abs 1 SGB 9 2018
§ 229 Abs 1 S 1 SGB 9 2018
§ 230 Abs 1 SGB 9 2018
§ 145 Abs 1 SGB 9
§ 147 Abs 1 Nr 7 SGB 9
§ 1 Abs 2 Nr 4 UnBefG
§ 1 Abs 3 S 1 UnBefG

Leitsätze

1. Aus dem Schwerbehindertenrecht lässt sich nicht die Anforderung ableiten, dass öffentlicher Personenverkehr mit Wasserfahrzeugen im Linien-, Fähr- und Übersetzverkehr nur dann als Nahverkehr im Sinne von § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX (juris: SGB 9 2018) zu qualifizieren ist, wenn dabei (typischerweise) Verkehre entstehen, die der Beförderung von Personen dienen, um die im Alltag anfallenden Entfernungen zu bewältigen.

2. Durch einen stetigen, mehr als einmal am Tag durchgeführten Fährverkehr sind benachbarte Gemeinden jedenfalls dann im Sinne von § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SGB IX wirtschaftlich verbunden, wenn die Fährverbindung in einem wirtschaftlich nicht unbedeutenden Umfang von Gemeindeangehörigen und sonstigen Personen genutzt wird und zur Versorgung einer Gemeinde mit Wirtschaftsgütern beiträgt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger als schwerbehindertem Menschen gegenüber der Beklagten ein Anspruch zusteht, von dieser auf der Fährverbindung zwischen Em. und B. unentgeltlich befördert zu werden.

2

Der Kläger ist als Schwerbehinderter anerkannt und verfügt über einen Schwerbehindertenausweis, der das Merkzeichen "G" aufweist. Die Beklagte betreibt die Fährverbindung zwischen Em. und B.. Ihre Fähren verkehren dort mehrmals täglich in beide Richtungen und benötigen für die einfache Strecke eine Fahrzeit von 2 1/4 Stunden.

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Die vom Kläger erhobene Feststellungsklage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Eine nach den Regelungen des Schwerbehindertenrechts als unentgeltlich zu gewährende Beförderung im Nahverkehr liege nicht vor. Nahverkehr mit Wasserfahrzeugen sei nur dann gegeben, wenn es um die im Alltag anfallende Bewältigung von Entfernungen gehe, wie dies zum Beispiel der Fall sei für Fahrten zum Einkauf, zu Behörden, zur Arbeitsstätte, zu Verwaltungseinrichtungen sowie zu Gemeinschafts-, Kultur- oder Freizeitveranstaltungen. Dazu zähle die über zweistündige Fahrt mit der Fähre von Em. nach B. nicht, weil unter anderem schon aufgrund der Reisedauer eine Nutzung dieser Verbindung etwa zur täglichen Fahrt zur Arbeitsstätte oder zur Schule ausscheide.

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Das Oberverwaltungsgericht hat das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und der Klage stattgegeben. Der Fährverkehr von Em. nach B. sei Nahverkehr im Sinne des Gesetzes, weil er der Personenbeförderung in dem gesetzlich definierten Nachbarschaftsbereich diene. Es handle sich um einen stetigen, mehrmals täglich durchgeführten Verkehr, durch den die benachbarten Gemeinden wirtschaftlich und verkehrsmäßig verbunden seien. Für eine wirtschaftliche Verbindung zwischen Gemeinden genüge es, dass die Fähren sowohl von den Inselbewohnern als auch von Touristen, die die Insel B. kurzzeitig besuchen oder dort ihren Urlaub verbringen, genutzt werden und dass über diese Fährverbindung zur Versorgung der Insel erforderliche Waren und Güter transportiert werden. Die einschränkenden Voraussetzungen, die das Verwaltungsgericht mit dem Erfordernis des Alltagsverkehrs aufgestellt habe, seien dem Gesetz nicht zu entnehmen.

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Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der im Streit stehenden schwerbehindertenrechtlichen Regelung zum Begriff des Nahverkehrs (§ 147 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX a.F.; nunmehr § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX). Das vom Oberverwaltungsgericht zugrunde gelegte Verständnis dieser Bestimmung werde weder ihrem Wortlaut, ihrer Systematik noch ihrem Sinn und Zweck gerecht. Mit der gesetzlichen Formulierung des Nachbarschaftsbereichs werde darauf abgestellt, dass zwischen den Gemeinden Verkehre bestehen müssten, die in ihrer Ausgestaltung und Qualität sowie in ihrem Anlass den Verkehren in einem Ortsbereich vergleichbar seien. Eine wirtschaftliche und verkehrsmäßige Verbundenheit zwischen Gemeinden sei nur anzunehmen, wenn es sich dabei um einen Verkehr handle, der der Beförderung von Personen diene, um die im Alltag anfallenden Verkehre zu bewältigen. Denn solche "Bedarfsverkehre" entstünden typischerweise im Orts- und Nahverkehr. Eine solche Verbindung bestehe zwischen B. und Em. nicht. Unter anderem gebe es auf dieser Fährstrecke weder Berufspendler noch fänden tägliche Schülerbeförderungen statt. Die Orte seien auch nicht durch eine gemeinsame Raum- oder Fachplanung verbunden.

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Der Kläger und der Vertreter des Bundesinteresses verteidigen den angegriffenen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts.

Entscheidungsgründe

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Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Der angefochtene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts steht mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) in Einklang. Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass der Kläger als schwerbehinderter Mensch gegen das Vorzeigen des mit dem Merkzeichen "G" gekennzeichneten Schwerbehindertenausweises mit gültiger Wertmarke von der Beklagten auf der Fährverbindung zwischen B. und Em. unentgeltlich zu befördern ist. Denn bei dieser Fährverbindung handelt es sich entgegen der Ansicht der Beklagten um Nahverkehr im Sinne des § 228 Abs. 1 i.V.m. § 230 Abs. 1 Nr. 7 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - (SGB IX) in der Fassung, die dieses Gesetz durch das am 1. Januar 2018 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) erhalten hat.

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1. Zwar hatte das Oberverwaltungsgericht noch die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung und bis zum 31. Dezember 2017 geltende Bestimmung des § 145 Abs. 1 i.V.m. § 147 Abs. 1 Nr. 7 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch i.d.F. vom 19. Juni 2001 (BGBl. I S. 1046, 1047), zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes vom 22. Dezember 2011 (BGBl. I S. 3057, bereinigt durch BGBl. 2012 I S. 670) - SGB IX a.F. - heranzuziehen. Der Senat hat jedoch für die Revisionsentscheidung die - wenn auch im Wesentlichen inhaltsgleichen - Bestimmungen der seit 1. Januar 2018 geltenden Gesetzesfassung zugrunde zu legen. Denn das Revisionsgericht hat Rechtsänderungen, die während des Revisionsverfahrens eintreten, im gleichen Umfang zu beachten, wie sie die Vorinstanz berücksichtigen müsste, wenn sie jetzt anstelle des Revisionsgerichts zu entscheiden hätte (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 23. Februar 1993 - 1 C 45.90 - BVerwGE 92, 116 <128>, vom 12. März 2002 - 5 C 45.01 - BVerwGE 116, 119 <120> und vom 23. Januar 2018 - 5 C 9.16 - NVwZ-RR 2018, 621 Rn. 6 m.w.N.). Dies gilt auch für die Entscheidung über Feststellungsbegehren (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. November 2003 - 9 C 6.02 - BVerwGE 119, 245 <248>). Da der Feststellungsantrag des Klägers zukunftsgerichtet ist, hätte das Oberverwaltungsgericht, wenn es aktuell zur Entscheidung berufen wäre, die nunmehr geltende Fassung des Gesetzes anzuwenden.

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2. Dem Kläger steht ein Anspruch auf die begehrte Feststellung aus § 228 Abs. 1 i.V.m. § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX zu.

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Nach § 228 Abs. 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 152 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr im Sinne des § 230 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert, soweit der Ausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen ist. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, zurückzulegen vermag (§ 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).

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a) Die Beteiligten gehen mit den Vorinstanzen zu Recht davon aus, dass der Kläger die zuvor genannten persönlichen Voraussetzungen des § 228 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erfüllt. Denn er ist nach den bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) zum Zeitpunkt der letzten Entscheidung in der Tatsacheninstanz als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 80 v.H. anerkannt gewesen und hat über den nach § 152 Abs. 5 SGB IX erforderlichen Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen "G" verfügt, so dass ihm bei Vorlage seines Schwerbehindertenausweises, sofern dieser mit einer gültigen Wertmarke versehen ist, ein Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr zusteht.

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b) Die sachliche Anspruchsvoraussetzung des § 228 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX ist ebenfalls erfüllt. Denn die Fährverbindung zwischen Em. und B. ist als Nahverkehr im Sinne dieser Bestimmungen zu qualifizieren. Nahverkehr ist der öffentliche Personenverkehr mit Wasserfahrzeugen im Linien-, Fähr- und Übersetzverkehr, wenn dieser der Beförderung von Personen im Orts- und Nachbarschaftsbereich dient und Ausgangs- und Endpunkt innerhalb dieses Bereiches liegen (§ 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 1 SGB IX).

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Dabei steht zwischen den Beteiligten zu Recht nicht im Streit, dass es sich bei der genannten Verbindung um öffentlichen Personenverkehr mit Wasserfahrzeugen im Fährverkehr handelt, dessen Ausgangs- und Endpunkt in Em. bzw. B. liegt.

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Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht auch zutreffend angenommen, dass die von ihr betriebene Fährverbindung der Beförderung von Personen im Nachbarschaftsbereich dient. Nach der gesetzlichen Definition des § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SGB IX ist Nachbarschaftsbereich der Raum zwischen benachbarten Gemeinden, die, ohne unmittelbar aneinandergrenzen zu müssen, durch einen stetigen, mehr als einmal am Tag durchgeführten Verkehr wirtschaftlich und verkehrsmäßig verbunden sind. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

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aa) Zu Recht unstreitig ist dabei, dass der Fährverkehr zwischen B. und Em. einen stetigen, mehr als einmal am Tag durchgeführten Verkehr im Sinne des § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SGB IX darstellt. Hierzu hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass die Fähren zwischen den in Rede stehenden Orten mehrmals täglich in beide Richtungen verkehren.

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Soweit die Beklagte im Revisionsverfahren erstmals vorgebracht hat, der Nachbarschaftsbereich erfasse nach dem Gesetzeswortlaut nur den Verkehr im Raum zwischen benachbarten Gemeinden, so dass dies auf eine Fährverbindung nicht zutreffe, die - wie hier - ihren Ausgangs- und Endpunkt in der jeweiligen Gemeinde habe, greift dieses Argument ersichtlich nicht durch. Das Wort "zwischen" ist nicht isoliert zu betrachten, sondern steht im Sinnzusammenhang damit, dass benachbarte Gemeinden durch den im Raum zwischen ihnen stattfindenden (Fähr-)Verkehr verbunden sein können und müssen. Dieser Zwecksetzung könnte eine Verbindung von vornherein nicht gerecht werden, wenn sie nicht in den jeweiligen Ortsbereich hineinreichen dürfte, sondern an der Gemeindegrenze enden müsste.

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bb) Die benachbarten Gemeinden Em. und B. sind durch den Fährverkehr der Beklagten auch wirtschaftlich und verkehrsmäßig verbunden im Sinne des § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SGB IX.

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Dabei ist die Anforderung der verkehrsmäßigen Verbindung zwischen Gemeinden bereits dann erfüllt, wenn zuvor - wie auch hier - festgestellt worden ist, dass zwischen den Gemeinden eine stetige und mehr als einmal am Tag durchgeführte Fährverbindung besteht. Bei der verkehrsmäßigen Verbindung handelt es sich entsprechend dem klaren Wortsinn dieser Bestimmung um eine weitere Beschreibung des Gesetzgebers für den zuvor genannten Umstand. Aus dem Bestehen einer stetigen und mehrmals täglich durchgeführten Fährverbindung zwischen Gemeinden folgt notwendig, dass diese damit verkehrsmäßig verbunden sind.

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Es kann dahinstehen, ob aus dem Bestehen einer solchen stetigen Fährverbindung zwischen Gemeinden ebenfalls bereits folgt, dass zwischen diesen Gemeinden - zumindest in aller Regel - auch eine wirtschaftliche Verbindung im Sinne von § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SGB IX besteht. Denn durch einen stetigen, mehr als einmal am Tag durchgeführten Fährverkehr sind benachbarte Gemeinden jedenfalls dann im Sinne dieser Vorschrift wirtschaftlich verbunden, wenn - wie hier - die Fährverbindung in einem wirtschaftlich nicht unbedeutenden Umfang von Gemeindeangehörigen und sonstigen Personen genutzt wird und zur Versorgung einer Gemeinde mit Wirtschaftsgütern beiträgt. Dies erschließt sich im Wege der Auslegung des § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX. Demgegenüber lässt sich aus dem Schwerbehindertenrecht nicht die von der Beklagten vertretene Anforderung ableiten, dass öffentlicher Personenverkehr mit Wasserfahrzeugen im Linien-, Fähr- und Übersetzverkehr nur dann als Nahverkehr im Sinne von § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX zu qualifizieren ist, wenn dabei (typischerweise) Verkehre entstehen, die der Beförderung von Personen dienen, um die im Alltag anfallenden Entfernungen zu bewältigen.

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(1) Der Wortlaut des § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SGB IX bietet für die zuletzt genannte Eingrenzung keine Anhaltspunkte. Er deutet vielmehr in gewichtiger Weise darauf hin, dass der Gesetzgeber eine Begrenzung auf den Alltagsverkehr nicht vorgenommen hat. Die Vorschrift setzt ihrem allgemeinen Wortsinn nach weder eine enge noch eine wirtschaftlich besonders bedeutsame Verbindung - etwa im Sinne einer gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit - zwischen den benachbarten Gemeinden voraus, sondern lässt es genügen, wenn die Gemeinden durch den Personenverkehr - hier mit Fähren - wirtschaftlich verbunden sind. Es bedarf deshalb auch nicht einer bereits unabhängig von dem Fährverkehr bestehenden (engen) wirtschaftlichen oder etwa einer - wie die Beklagte meint - (raum-)planerischen Verbindung der benachbarten Gemeinden oder eines täglichen Pendlerverkehrs von Gemeindeangehörigen zu Arbeitsstätten oder Schulen. Ihrem Wortsinn nach besteht eine durch einen Fährverkehr bedingte wirtschaftliche, d.h. nach allgemeinem Sprachgebrauch die Produktion oder den Konsum von Wirtschaftsgütern betreffende (vgl. Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 8. Aufl. 2015, S. 2032) Verbindung zwischen benachbarten Gemeinden schon dann, wenn der Fährverkehr für diese von nicht ganz untergeordneter ökonomischer Bedeutung ist, weil dadurch in nicht völlig unbedeutendem Maße Personen und Wirtschaftsgüter befördert werden.

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Etwas anderes lässt sich auch aus einem etwaigen gesetzesübergreifenden Fachsprachgebrauch nicht entnehmen. Es kann an dieser Stelle dahinstehen, ob es - wovon die Beklagte ausgeht - einen den Alltagsverkehr als Merkmal aufweisenden allgemeinen Begriff des Personennahverkehrs, der anderen Gesetzen zugrunde liegen soll, überhaupt gibt. Denn jedenfalls hat sich der Gesetzgeber mit der schwerbehindertenrechtlichen Regelung des § 230 Abs. 1 SGB IX nicht dafür entschieden, den Nahverkehrsbegriff anderer Gesetze vollständig zu übernehmen oder darauf zu verweisen. Vielmehr hat er in dieser Regelung ausdrücklich den Nahverkehr "im Sinne dieses Gesetzes" eigens definiert und in den verschiedenen Ziffern der Vorschrift eigenständig konkretisiert. Dabei hat er für den hier betroffenen Fährverkehr mit Wasserfahrzeugen allein die spezielle Regelung des § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX vorgesehen und den hier im Streit stehenden Begriff des Nachbarschaftsbereichs im zweiten Halbsatz legal definiert.

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Der Beklagten ist auch nicht zu folgen, soweit sie aus dem Wortlaut des § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 1 SGB IX, wonach der Verkehr mit Wasserfahrzeugen der Beförderung von Personen im "Orts- und Nachbarschaftsbereich" dienen muss, die Schlussfolgerung ziehen möchte, der Nachbarschaftsbereich sei nur einschlägig, wenn der dortige Verkehr demjenigen im Ortsbereich entspreche und sich typischerweise als Alltagsverkehr darstelle. Aus dem Umstand, dass § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SGB IX den Begriff des Nachbarschaftsbereichs legal definiert, ist vielmehr zu folgern, dass sich dieser Verkehr von demjenigen im Ortsbereich unterscheidet und als gesondertes Merkmal neben diesem selbständig zum Tragen kommen soll.

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(2) Aus der Gesetzessystematik lassen sich keine Schlüsse ziehen, die dem im Wege der grammatischen Auslegung ermittelten Auslegungsergebnis entgegenstehen. Vielmehr sprechen insbesondere binnensystematische Erwägungen dagegen, eine durch einen Fährverkehr erzeugte wirtschaftliche Verbindung zwischen benachbarten Gemeinden im Sinne von § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SGB IX nur dann anzunehmen, wenn dieser Verkehr der Bewältigung der im Alltag erforderlichen Verkehre der Gemeindeangehörigen dient. Denn keinem der sonstigen in § 230 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 SGB IX legal definierten Tatbestände des Nahverkehrs lässt sich entnehmen, dass die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen auf diejenigen Verkehrsverbindungen beschränkt worden ist, die der Bewältigung von Alltagsentfernungen dienen.

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So sehen etwa die Bestimmungen über die schienen- bzw. oberleitungsgebundenen Verkehrsmittel der Nahverkehrsformen des § 230 Abs. 1 Nr. 1 und 3 SGB IX - Straßenbahnen, Obusse und S-Bahnen - keine Beschränkungen hinsichtlich der Beförderungsdauer, der Beförderungsstrecke oder des Beförderungszwecks vor. § 230 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX eröffnet allgemein eine Freifahrtberechtigung auf Eisenbahnstrecken im Nahverkehrsbund. Diese erstreckt sich unabhängig vom Wohnort des einzelnen Schwerbehinderten auf das gesamte Verbundstreckennetz und räumt den von der Anspruchsnorm des § 228 Abs. 1 SGB IX erfassten schwerbehinderten Menschen unabhängig von der Länge der Beförderungsstrecke ein Recht auf unentgeltliche Beförderung ein (vgl. etwa Masuch, in: Hauck/Noftz, SGB IX, § 230 Rn. 13, Stand August 2017; Vogl, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 230 Rn. 30). Insoweit wird diesen schwerbehinderten Menschen im Verbundverkehr ein Anspruch auf unentgeltliche Beförderung über erhebliche Distanzen gewährt, der nicht daran gebunden ist, dass damit die Besorgung alltäglicher Angelegenheiten bewältigt wird. Vielmehr kann der Verbundverkehr auch zu anderen (weitergehenden) Zwecken von ihnen genutzt werden. Selbst wenn - wie die Beklagte ohne hinreichende Substantiierung vorbringt - der Gesetzgeber den Verbundverkehr und den S-Bahn-Verkehr für die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen gerade in der Vorstellung eröffnet hätte, dass hiermit die Bewältigung von im Alltag anfallenden Entfernungen erleichtert werden sollte, folgte aus diesem Motiv noch keine tatbestandliche Begrenzung, welche die Freifahrtberechtigung allein auf den Bereich des Alltagsverkehrs erstreckt. Denn eine solche Einschränkung hätte jedenfalls keinen Eingang in die Nahverkehrsdefinitionen des § 230 Abs. 1 Nr. 3 und 4 SGB IX gefunden.

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Gleiches gilt für die Begriffsbestimmungen des § 230 Abs. 1 Nr. 2 und 6 SGB IX. Die dort dem Nahverkehrsbegriff des Neunten Buches Sozialgesetzbuch unterworfenen Verkehrsformen des Linienverkehrs mit Kraftfahrzeugen und des sonstigen insbesondere privaten Eisenbahnverkehrs unterliegen zwar nur dann der Pflicht zur unentgeltlichen Beförderung, wenn die Mehrzahl der Beförderungen eine Strecke von 50 Kilometern nicht übersteigt bzw. überschreitet. Dieser längenmäßigen Beschränkung der Beförderungsstrecke lässt sich jedoch gleichwohl nicht entnehmen, dass damit die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen auf diejenigen Verkehrsverbindungen beschränkt werden sollte, die der Bewältigung von Alltagsentfernungen dienen. Denn zum einen hat der Gesetzgeber die Freifahrtberechtigung nicht auf den unmittelbaren Umkreis um den Lebensmittelpunkt der Berechtigten begrenzt, sondern darüber hinaus weite Teile des Verkehrs im näheren und mittleren Nahbereich der Pflicht der Beförderungsunternehmen zur unentgeltlichen Beförderung unterworfen. Schwerbehinderte Menschen, welche die persönlichen Voraussetzungen des § 228 Abs. 1 i.V.m. § 229 SGB IX erfüllen, können die Nahverkehrssysteme nicht nur im Umfeld ihres Wohnsitzes, sondern im gesamten Anwendungsbereich des Gesetzes unentgeltlich nutzen. Zum anderen finden auch innerhalb einer Strecke von 50 Kilometern Nutzungen statt, die über den Zweck der Bewältigung von Alltagsentfernungen hinausgehen können und dürfen.

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Dies gilt auch, soweit der Begriff des Nahverkehrs in anderen Gesetzen definiert worden ist und dort Beschränkungen der Streckenlänge aufgenommen worden sind. Aussagekräftige systematische Hinweise darauf, dass § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX eine Zweckbegrenzung auf einen Alltagsverkehr beinhaltet, lassen sich entgegen der Rechtsansicht der Beklagten weder dem Nahverkehrsbegriff des § 2 des Gesetzes zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs (Regionalisierungsgesetz - RegG) vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378), zuletzt geändert durch Art. 19 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234), noch dem des § 8 Abs. 1 des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 8. August 1990 (BGBl. I S. 1690), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2808), entnehmen. Nach diesen Vorschriften ist öffentlicher Personennahverkehr im Sinne des jeweiligen Gesetzes die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Verkehrsmitteln im Linienverkehr (§ 2 Satz 1 RegG) bzw. mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr (§ 8 Abs. 1 Satz 1 PBefG), die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen, was wiederum im Zweifel der Fall ist, wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle eines Verkehrsmittels die gesamte Reiseweite 50 Kilometer oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nicht übersteigt.

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Zum einen ist es bereits zweifelhaft, ob diesen Nahverkehrsbegriffen die von der Beklagten angenommene Zweckbegrenzung überhaupt zu entnehmen ist. Dagegen spricht, dass die vom Begriff des Regionalverkehrs erfassten Verkehre deutlich über die Bewältigung von Alltagsentfernungen hinausgehen. Auch die zuletzt genannte Zweifelsregelung über die Reiseweite und Reisezeit gibt keine starre Grenze vor und kann insbesondere als Hilfsmittel für die Abgrenzung von Regionen von nur begrenztem Nutzen sein (vgl. dazu Oebbecke, NVwZ 2017, 1084 <1087 f.>). Zum anderen könnten selbst dann, wenn der jeweilige Gesetzgeber bei der Schaffung der vorgenannten Regelungen von dem Verständnis ausgegangen sein sollte, dass sich der dort jeweils definierte Nahverkehr als ein Verkehr darstellt, der sich (zumindest typischerweise) in der Zwecksetzung der Bewältigung von Alltagsentfernungen erschöpft, aus diesem Umstand nicht ohne Weiteres Folgerungen für den gesetzlichen Begriff des Nahverkehrs im Sinne des Neunten Buches Sozialgesetzbuch gezogen werden. Denn sie dienen anderen Zwecken als das Schwerbehindertenrecht und der Gesetzgeber hat nicht nur die Freiheit, sondern auch davon Gebrauch gemacht, in § 230 Abs. 1 SGB IX einen - wie oben bereits dargelegt - eigenständigen Nahverkehrsbegriff ("im Sinne dieses Gesetzes") zu definieren.

28

(3) Auch aus der Gesetzgebungsgeschichte und den Gesetzesmaterialien lassen sich keine aussagekräftigen Hinweise dafür entnehmen, dass der Begriff des Nahverkehrs im Sinne von § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 1 SGB IX und insbesondere die hier im Streit stehende Voraussetzung einer durch einen stetigen Fährverkehr zwischen benachbarten Gemeinden bewirkten wirtschaftlichen Verbindung im Sinne des § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SGB IX nur erfüllt ist, wenn dieser Verkehr der Bewältigung von im Alltag anfallenden Verkehren dient.

29

Historische Vorgänger der §§ 228 ff. SGB IX, die erstmals eine Freifahrtberechtigung schwerbehinderter Menschen im Nahverkehr vorsahen, fanden sich ursprünglich in der Verordnung über Vergünstigungen für Kriegsbeschädigte im öffentlichen Personenverkehr vom 23. Dezember 1943 (RGBl. 1944 I S. 5). In dem Gesetz über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie von anderen Behinderten im Nahverkehr vom 27. August 1965 (BGBl. I S. 978) - UnBefG 1965 - ist erstmals das Recht auf eine unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr mit Wasserfahrzeugen aufgenommen worden. Im Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz - SchwbG) i.d.F. vom 29. April 1974 (BGBl. I S. 1006) waren die Bestimmungen über die unentgeltliche Beförderung zunächst noch nicht enthalten. Sie wurden jedoch durch das Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom 9. Juli 1979 (BGBl. I S. 989) - UnBefG 1979 - in die Neufassung des Schwerbehindertengesetzes (BGBl. 1979 I S. 1650) integriert. Das Schwerbehindertengesetz ist später durch Gesetz vom 19. Juni 2001 als das Neunte Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) (BGBl. I S. 1046, 1047) in das Sozialgesetzbuch übernommen worden.

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Im Hinblick auf die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen im Orts- und Nachbarortslinienverkehr mit Obussen und Kraftfahrzeugen definierte § 1 Abs. 3 Satz 1 UnBefG 1965 zwar den Nachbarortslinienverkehr als den "zugelassene[n] Linienverkehr zwischen benachbarten Gemeinden, die zwar nicht unmittelbar aneinandergrenzen müssen, aber wirtschaftlich und verkehrsmäßig eng miteinander verbunden sind, wenn der Verkehr entsprechend dem öffentlichen Verkehrsbedürfnis nach Häufigkeit und Tarifgestaltung einem Ortslinienverkehr vergleichbar ist und Ausgangs- und Endpunkt des Linienverkehrs in den benachbarten Gemeinden liegen." Hieraus lassen sich jedoch nicht die von der Beklagten angenommenen Folgerungen für den geltenden Begriff des Nahverkehrs mit Wasserfahrzeugen und insbesondere die Definition des Nachbarschaftsbereichs (im Sinne von § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX) ziehen.

31

Zwar hat der historische Gesetzgeber bei der vorgenannten Bestimmung des Nachbarortslinienverkehrs die Vergleichbarkeit mit innerörtlichen Verkehrsgegebenheiten als Begriffsmerkmal aufgenommen. Er hat hierbei jedoch lediglich auf das öffentliche Verkehrsbedürfnis nach Häufigkeit des Verkehrs und Tarifgestaltung abgestellt, nicht aber auf eine bestimmte Funktion des Ortsverkehrs (im Sinne eines Alltagsverkehrs). Zudem ist selbst das Merkmal der Vergleichbarkeit mit dem Ortsverkehr schon vom historischen Gesetzgeber nicht als Begriffsmerkmal für den unentgeltlichen Nahverkehr mit Wasserfahrzeugen vorgesehen worden. Vielmehr lautete die entsprechende Definition des § 1 Abs. 2 Nr. 4 UnBefG 1965, dass Nahverkehr im Sinne dieses Gesetzes auch "der Linien- und Übersetzverkehr mit Verkehrsmitteln der Küsten- und Binnenschiffahrt [ist], wenn dieser der Beförderung von Personen im Orts- und Nachbarschaftsbereich dient und Ausgangs- und Endpunkt des Linien- und Übersetzverkehrs innerhalb des Nachbarschaftsbereichs liegen." Eine Legaldefinition des Nachbarschaftsbereichs war zu jenem Zeitpunkt im Gesetz noch nicht enthalten.

32

Die Begriffsbestimmung des Nachbarschaftsbereichs hat der Gesetzgeber im Zusammenhang mit dem Nahverkehr mit Wasserfahrzeugen erstmals mit der Vorschrift des § 59 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SchwbG in das Regelungssystem des Schwerbehindertengesetzes integriert und in den Folgeregelungen bis heute inhaltlich unverändert gelassen. Dabei hat er gerade nicht das eingrenzende Merkmal des Vergleichs mit dem Ortsverkehr (im Sinne des Nachbarortslinienverkehrs nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 UnBefG 1965) in die Definition aufgenommen. Selbst wenn man daher mit der Beklagten davon ausginge, dass mit der Definition des Nachbarortslinienverkehrs im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 UnBefG 1965 ursprünglich die Vorstellung des Gesetzgebers verbunden gewesen wäre, dass es sich bei diesem Nahverkehr um einen auf den Ortsbereich beschränkten oder diesem vergleichbaren Verkehr handelt, welcher typischerweise der Bewältigung von Alltagsverkehren dient, könnte daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass diese Vorstellung auch der Regelung des Nahverkehrs mit Wasserfahrzeugen mit der Definition des Nachbarschaftsbereichs in § 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SGB IX zugrunde liegt. Vielmehr spricht die historische Entwicklung dafür, dass eine solche Begrenzung gerade keinen Eingang in dieses Gesetz und dessen Vorläufer gefunden hat.

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Dafür lässt sich auch ein weiterer Gesichtspunkt heranziehen. Dem Umstand, dass es in Anbetracht der verschiedenen Erscheinungsformen des örtlichen Schifffahrtsverkehrs einer Eingrenzung der Freifahrtberechtigung bedurfte, wollte der Gesetzgeber insbesondere durch die Aufnahme des Erfordernisses Rechnung tragen, dass Ausgangs- und Endpunkt dieses Verkehrs innerhalb des Nachbarschaftsbereichs liegen müssen. Damit sollen der Gelegenheits- und Ausflugsverkehr auf Schiffen von der unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr ausgenommen werden (vgl. BT-Drs. 4/2433 S. 5 f. zu § 1 UnBefG 1965; Masuch, in: Hauck/Noftz, SGB IX, § 230 Rn. 19, Stand August 2017). Für die Annahme, dass zugleich auch der Nahverkehrs- bzw. Nachbarschaftsbereich seinerseits mittels einer Beschränkung der Verkehrsfunktionen der jeweiligen Strecken auf die Bewältigung von Alltagsentfernungen eingegrenzt werden sollte, ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien kein Anhaltspunkt.

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(4) Auch mit dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Bestimmungen über die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Personenverkehr lässt sich eine Begrenzung des Nahverkehrsbegriffs des § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX auf die Bewältigung von im Alltag anfallenden Entfernungen nicht begründen.

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Zwar bezwecken die Bestimmungen über die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr, schwerbehinderten Menschen auch deshalb einen gewissen Ausgleich für die Beeinträchtigung ihrer Orientierungs- und Bewegungsfähigkeit und dadurch bedingter Mehrkosten zu gewähren, weil die begünstigten Personen die allgemeinen öffentlichen Nahverkehrsmittel oftmals auch auf solchen Strecken benutzen müssen, die ein Nichtbehinderter üblicherweise zu Fuß zurücklegt oder zurücklegen kann (vgl. BT-Drs. 8/2453 S. 11 zum UnBefG 1979; BVerwG, Urteil vom 27. November 1981 - 7 C 71.79 - Buchholz 442.010 UnBefG Nr. 16; BSG, Urteile vom 18. Mai 2011 - B 3 KR 7/10 R - BSGE 108, 206 Rn. 40 und vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R - SGb 2016, 653 Rn. 17 ff.). Soweit diese Zwecksetzung den Regelungen der §§ 228 ff. SGB IX zugrunde liegt, bezieht sie sich allerdings auf die Auswahl des von der unentgeltlichen Beförderung begünstigten Personenkreises, d.h. auf die Bestimmung der persönlichen Voraussetzungen (§ 228 Abs. 1 i.V.m. § 229 SGB IX), die erfüllt sein müssen, um schwerbehinderten Menschen eine Freifahrtberechtigung im Nahverkehr zuzuerkennen. Dementsprechend hat dies in den in § 229 SGB IX genannten Voraussetzungen seinen Ausdruck im Gesetzestext gefunden.

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Diese Zwecksetzung ist jedoch nicht zugleich maßgeblich für die Bestimmung, wie weit der Begriff des Nahverkehrs und damit der für den behinderten Menschen, der die persönlichen Voraussetzungen erfüllt, unentgeltlich nutzbare Beförderungsbereich reicht. Diese sachlich-räumliche Reichweite hat der Gesetzgeber in den besonderen Begriffsbestimmungen des Nahverkehrs festgelegt (§ 230 Abs. 1 SGB IX) und mit der hier in Rede stehenden Nahverkehrsdefinition des § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX abgegrenzt, so dass für die Frage ihrer teleologischen Erweiterung vorrangig auf deren Zielsetzung abgestellt werden kann. Ausweislich der Gesetzesmaterialien will der Gesetzgeber hinsichtlich dieser Rechtsfolgen der Vergünstigung allgemein dazu beitragen, die Belastungen von schwerbehinderten Menschen, die durch die erhebliche Beeinträchtigung in der Beweglichkeit im Straßenverkehr entstehen und die Lebensführung wesentlich erschweren, zum Teil auszugleichen und damit die Lebensverhältnisse zu erleichtern (vgl. BT-Drs. 8/2453 S. 10). Dementsprechend sieht auch die Nahverkehrsdefinition des § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX eine Prüfung, ob bestimmte Strecken (nur) zur Bewältigung von Alltagserfordernissen zurückgelegt werden, nicht vor. Ihre Zwecksetzung reicht weiter.

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Die sachlich-räumliche Reichweite des Anspruchs auf unentgeltliche Beförderung beschränkt sich nicht nur auf den Ausgleich von Mobilitätsdefiziten im Nahbereich der Wohnung des Berechtigten, sondern erfasst innerhalb der definierten Bereiche des Nahverkehrs etwa auch Freizeitwege jeglicher Art. Mit den erweiterten Nahverkehrsdefinitionen will der Gesetzgeber daher nicht nur die Nachteile in Bezug auf die Grundbedürfnisse des behinderten Menschen im Vergleich zu Nichtbehinderten kompensieren, sondern die "nahezu unbegrenzten Möglichkeiten", über die ein Nichtbehinderter im Mobilitätsbereich verfügt, behinderten Menschen zumindest ansatzweise mittels Erleichterungen finanzieller Art zukommen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Mai 2011 - B 3 KR 7/10 R - BSGE 108, 206 Rn. 40; Masuch, in: Hauck/Noftz, SGB IX, § 228 Rn. 1, Stand August 2017). Dementsprechend hat der Gesetzgeber die sachliche Reichweite des von ihm beabsichtigten Nachteilsausgleichs allein über die Nahverkehrsdefinitionen des § 230 Abs. 1 SGB IX gesteuert, die wiederum die Freifahrtberechtigung ausschließlich an bestimmte Verkehrsverbindungen koppeln und dem individuell verfolgten Mobilitätszweck keine maßgebliche Bedeutung beimessen (vgl. Dau, jurisPR-SozR 26/2016 Anm. 5). Ziel der Vergünstigung ist es, allgemein die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am öffentlichen Personenverkehr durch erleichterten Zugang zu öffentlichen Transportmitteln zu fördern, da Mobilität als Grundbedürfnis der modernen Gesellschaft anerkannt wird (vgl. BSG, Urteil vom 25. Oktober 2012 - B 9 SB 1/12 R - Behindertenrecht 2013, 122 <124>). Dieser Zweck der erleichterten Teilnahme am öffentlichen Leben rechtfertigt es, wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend erkannt hat, indessen nicht, die Beförderung von Personen im Orts- und Nachbarschaftsbereich auf die Fälle zu begrenzen, in denen es um die im Alltag anfallende Bewältigung von Entfernungen geht.

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(5) Die Auslegung des Begriffs des Nahverkehrs im Sinne von § 230 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX und insbesondere der dortigen Definition des Nachbarschaftsbereichs (§ 230 Abs. 1 Nr. 7 Halbs. 2 SGB IX) ergibt nach alledem, dass es für eine durch den Fährverkehr bedingte wirtschaftliche Verbindung zwischen benachbarten Gemeinden ausreicht, wenn die Fährverbindung in einem wirtschaftlich nicht unbedeutenden Umfang von Gemeindeangehörigen und sonstigen Personen genutzt wird und zur Versorgung einer Gemeinde mit Wirtschaftsgütern beiträgt.

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Diese Voraussetzungen sind für die von der Beklagten betriebene Fährverbindung zwischen den Gemeinden Em. und B. erfüllt. Denn nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts werden die Fähren sowohl von den Inselbewohnern genutzt, die auf das Festland und zurück fahren, als auch von Touristen, welche die Insel B. kurzzeitig besuchen oder dort ihren Urlaub verbringen. Ferner werden über diese Fährverbindung zur Versorgung der Insel erforderliche Waren und Güter transportiert. Diese tatsächlichen Feststellungen sind von der Revision der Beklagten nicht mit Verfahrensrügen angegriffen worden und deshalb für das Revisionsgericht bindend (§ 137 Abs. 2 VwGO). Soweit die Beklagte dem im Revisionsverfahren abweichende Sachverhaltsschilderungen (etwa im Hinblick auf die Versorgung der Insel B. mit Waren über die Verbindung nach Ee. in N.) entgegenhält, sind diese, sofern sie nicht ohnehin - wie zum Beispiel das Vorbringen zu einer fehlenden planungsrechtlichen Verbindung zwischen B. und Em. - für die Entscheidung unerheblich sind, jedenfalls wegen der dem entgegenstehenden bindenden Tatsachenfeststellungen des Oberverwaltungsgerichts revisionsrechtlich nicht beachtlich.

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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.