Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 09.02.2012


BGH 09.02.2012 - 5 AR (VS) 40/11

Strafvollstreckung: Vorwegvollzug von Strafresten nach Bewährungswiderruf


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
5. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
09.02.2012
Aktenzeichen:
5 AR (VS) 40/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend OLG Karlsruhe, 20. Mai 2011, Az: 2 VAs 2/11
Zitierte Gesetze
§ 43 StrVollstrO

Leitsätze

Strafreste, deren Aussetzung widerrufen worden ist, nehmen nicht an der durch § 454b Abs. 2 Satz 1 StPO in Verbindung mit §§ 57, 57a StGB gewährleisteten gemeinsamen Aussetzungsentscheidung teil (§ 454b Abs. 2 Satz 2 StPO) und sind deshalb regelmäßig der Vorwegvollstreckung überantwortet.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 20. Mai 2011 wird zurückgewiesen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

1

Das Oberlandesgerichts Karlsruhe hat den Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung (§ 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG) gegen eine Verfügung der Vollstreckungsbehörde verworfen, mit der die Vorwegvollstreckung mehrerer widerrufener Strafrestaussetzungen vor einer unbedingt verhängten Freiheitsstrafe angeordnet wurde. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Verurteilte mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde (§ 29 Abs. 1 EGGVG). Das Rechtsmittel ist unbegründet.

I.

2

Folgender Sachverhalt liegt zugrunde:

3

Das Landgericht Baden-Baden hatte gegen den Beschwerdeführer wegen mehrfachen Betrugs eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verhängt sowie ein Berufsverbot und die – zwischenzeitlich nach Art. 316e Abs. 3 Satz 1 EGStGB für erledigt erklärte – Sicherungsverwahrung angeordnet. Drei Monate nach Beginn der Vollstreckung dieser Strafe hat die Strafvollstreckungskammer Strafrestaussetzungen hinsichtlich zweier durch länger zurückliegende Verurteilungen verhängter Freiheitsstrafen widerrufen. Daraufhin hat die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe unterbrochen und aus wichtigem Grund die Vorwegvollstreckung beider Strafreste angeordnet (§ 43 Abs. 4 StVollstrO). Die Beschwerde des Verurteilten (§ 24 Abs. 2 EGGVG) mit dem Ziel, diese Entscheidung rückgängig zu machen und eine – nochmalige – Bewährungsentscheidung auch hinsichtlich der widerrufenen Strafrestaussetzungen zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt der Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren zu ermöglichen (vgl. § 454b Abs. 2 Satz 1 StPO), hat die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe zurückgewiesen.

4

Den dagegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG hat das Oberlandesgericht als unbegründet verworfen und die Rechtsbeschwerde zugelassen. Das Oberlandesgericht erblickt in § 43 Abs. 4 StVollstrO eine Rechtsgrundlage für die angeordnete Vorwegvollstreckung der vom Widerruf der Strafaussetzung betroffenen Strafreste. Diese Regelung sei § 43 Abs. 3 StVollstrO vorrangig. Mit seiner auf vollstreckungs- und verfassungsrechtliche Einwände sowie auf die Rüge einer Verletzung des Resozialisierungsgebots gestützten Rechtsbeschwerde begehrt der Verurteilte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

II.

5

Der Rechtsbeschwerde, die nach herkömmlicher (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 1990 – 2 ARs 570/90, NStZ 1991, 205), hier nicht in Frage gestellter Auffassung statthaft und auch im Übrigen zulässig ist (§ 29 Abs. 3 EGGVG i.V.m. § 71 FamFG), bleibt der Erfolg versagt.

6

Die durch die Vollstreckungsbehörde angeordnete Vollstreckungsreihenfolge entspricht der in § 454b Abs. 2 Satz 1, 2 StPO zum Ausdruck kommenden Wertung des Gesetzgebers. Danach nehmen Strafreste, die aufgrund Widerrufs ihrer Aussetzung vollstreckt werden, nicht an der durch § 454b Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. §§ 57, 57a StGB gewährleisteten gemeinsamen Aussetzungsentscheidung teil (§ 454b Abs. 2 Satz 2 StPO). Die hier angewendeten Verwaltungsvorschriften nach § 43 Abs. 4, Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 StVollstrO setzen diesen gesetzlichen Auftrag in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise für das Verfahren der Vollstreckungsbehörde um.

7

1. Im Grundsatz in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt geht der Senat davon aus, dass § 454b Abs. 2 StPO den vollstreckungsrechtlichen Rahmen für den hier zu entscheidenden Fall vorgibt.

8

a) Nach der durch das 23. Strafrechtsänderungsgesetz vom 13. April 1986 (BGBl. I S. 393) eingeführten Vorschrift des § 454b Abs. 2 Satz 1 StPO ist die Vollstreckung mehrerer nacheinander zu vollstreckender Freiheitsstrafen zum Halbstrafen- (Nr. 1) oder Zwei-Drittel-Zeitpunkt (Nr. 2) sowie, bei lebenslangen Freiheitsstrafen (Nr. 3), nach fünfzehn Jahren zu unterbrechen. Die Regelung dient dem Zweck, hinsichtlich der Reste sämtlicher Strafen eine einheitliche Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung nach §§ 57, 57a StGB zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. August 2010 – 5 AR (VS) 22 und 23/10, BGHSt 55, 243, 246 f. und NStZ-RR 2010, 353, 354; Regierungsentwurf in BT-Drucks. 10/2720 S. 9, 15). Dem Verurteilten steht ein gesetzlicher Anspruch auf eine diesen Vorgaben entsprechende Unterbrechung der Strafvollstreckung zur frühestmöglichen Verwirklichung eines gemeinsamen Aussetzungszeitpunkts bei mehreren zu vollstreckenden Freiheitsstrafen zu (vgl. BVerfG [Kammer], NStZ 1988, 474, 475).

9

b) Von dieser Regelung nimmt § 454b Abs. 2 Satz 2 StPO ausdrücklich Strafreste aus, die nach einem Widerruf der Strafaussetzung vollstreckt werden, und überantwortet sie folglich jedenfalls grundsätzlich der Vorabvollstreckung. Die Vorschrift ist eindeutig und – entgegen dem Vortrag des Beschwerdeführers – nicht etwa dem bloßen Umstand geschuldet, dass es bei Strafresten (in der Regel) keinen Zwei-Drittel-Zeitpunkt mehr gibt. Gegen die Auffassung des Beschwerdeführers spricht schon, dass der Gesetzgeber bei Einführung des § 454b StPO die heute in § 43 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 StVollstrO eingestellte Verwaltungsvorschrift zur Vorabvollstreckung von Strafresten nach Widerruf der Strafaussetzung gerade vor Augen hatte (vgl. Regierungsentwurf aaO). Zudem hätte es für eine bloße Selbstverständlichkeit keiner gesetzlichen Normierung bedurft und wäre dann konsequenterweise zumindest eine Ausnahmeregelung für Halbstrafenaussetzungen zu erwarten gewesen. Dass dem Gesetzgeber die Problematik bewusst ist, erweist ferner die für das Jugendstrafrecht getroffene Spezialbestimmung des § 89a Abs. 1 Satz 4 JGG, nach der die Vollstreckung eines Strafrests, der auf Grund Widerrufs seiner Aussetzung vollstreckt wird, unterbrochen werden kann, wenn ein Teil des Strafrests verbüßt ist und eine erneute Aussetzung in Betracht kommt. Eine vergleichbare Regelung hält § 454b StPO für das allgemeine Strafrecht nicht bereit.

10

c) Hinter der gesetzgeberischen Entscheidung stehen in der Sache schlüssige Erwägungen. Für sie streitet, dass das Bedürfnis, einem Verurteilten nach einem Bewährungsversagen die Chance auf abermalige Strafaussetzung zu gewähren, deutlich geringer wiegt (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 1990 – 2 ARs 570/90, NStZ 1991, 205; HansOLG Hamburg, MDR 1993, 261, 262). Ferner bliebe die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung im Hinblick auf den Aufschub der Strafvollstreckung bis zur Verbüßung von zwei Dritteln der originär vollstreckten Freiheitsstrafe(n) andernfalls regelmäßig ohne alsbald spürbare Wirkung auf den Verurteilten. Dies zu vermeiden, mithin die mit dem Bewährungswiderruf vorrangig verfolgte negative spezialpräventive Zielsetzung nicht leerlaufen zu lassen, entspricht dem in § 454b Abs. 2 Satz 2 StPO verankerten gesetzgeberischen Willen (vgl. hierzu auch Greger, JR 1986, 353, 357; Funck, NStZ 1992, 511; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 454b Rn. 7; vgl. ferner OLG Frankfurt, NStZ-RR 2000, 282, 284). Ob dieser darüber hinaus etwa gar dahin ging, dass eine erneute Aussetzung der Vollstreckung eines Strafrests nach deren Widerruf mit Blick auf die abschließenden Regelungen des § 57 StGB generell ausscheidet (vgl. hierzu Wendisch, NStZ 1989, 293), kann der Bundesgerichtshof abermals (vgl. BGH aaO) dahingestellt lassen.

11

2. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Zusammenspiel von gesetzlicher Regelung und Verwaltungsvorschrift unter dem Blickwinkel von Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 29, 312, 315) hegt der Senat nicht. Grundlagen der Reststrafenvollstreckung sind das verurteilende Erkenntnis (BVerfGE aaO, S. 316; 1, 418, 420) und die Widerrufsentscheidung der Strafvollstreckungskammer. Die die Rechtsstellung des Verurteilten nachrangig berührenden Rahmenbedingungen der Vollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen – Anschlussvollstreckung und Unterbrechung der Vollstreckung – sind normenklar in § 454b StPO festgelegt. Wenn § 43 Abs. 4 StVollstrO der Vollstreckungsbehörde durch Einräumung eines – gerichtlich nachprüfbaren (vgl. BGH aaO) – Ermessens erlaubt, unter besonderen Umständen, etwa bei bereits begonnener Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe und einem dann erfolgten Widerruf des Rests einer zeitigen Freiheitsstrafe, zugunsten des Verurteilten von der gesetzlich vorgegebenen, in § 43 Abs. 2 und 3 StVollstrO näher ausgeformten Reihenfolge abzuweichen (vgl. auch Appl in KK, 6. Aufl., StPO, § 454b Rn. 17), so beeinträchtigt dies – nicht anders bei anderen Ermessensentscheidungen (vgl. etwa §§ 455, 456, 456a StPO) oder bei Gnadenentscheidungen (vgl. etwa Weber, BtMG, 3. Aufl., vor §§ 29 ff. Rn. 1211 f.) im Rahmen der Strafvollstreckung – dessen Rechtsstellung nicht. Dies gilt namentlich auch mit Blick auf die Gesamtlänge der Strafvollstreckung (vgl. BVerfG [Kammer], NStZ 1994, 452, 453). Besondere Umstände für eine anderweitige Vollstreckungsreihenfolge sind hier nicht ersichtlich.

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