Entscheidungsdatum: 25.04.2012
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 5. September 2011 mit den Feststellungen – mit Ausnahme derjenigen zu den einzelnen sexuellen Handlungen zum Nachteil der Geschädigten – aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwölf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat im Wesentlichen Erfolg.
I.
1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
Der Angeklagte war vom Jahr 2000 bis zu seiner Suspendierung vom Dienst am 11. März 2011 Sport- und Erdkundelehrer an einer Realschule. Zusätzlich bildete er für das Deutsche Rote Kreuz seit dem Jahr 2002 im Rahmen eines zusätzlichen, von ihm im Einvernehmen mit Schulaufsicht und Schulleitung eingerichteten freiwilligen Schulsanitätsdienstes Schüler und Schülerinnen ab der Klassenstufe 6 zu Schulsanitätern aus. Dabei handelte es sich um ein zusätzliches Angebot der Schule außerhalb des verpflichtend erteilten Unterrichts in Form einer Arbeitsgemeinschaft, weshalb eine Teilnahme daran lediglich ohne Benotung im Zeugnis vermerkt wurde. Der Angeklagte war ferner von 2003/2004 bis zum 31. Dezember 2010 Leiter des Deutschen Jugend-Rot-Kreuzes (DJRK) in W. . Die im Tatzeitraum (22. Oktober 2010 bis 4. März 2011) überwiegend 14 und zuletzt 15 Jahre alte Geschädigte besuchte die Realschule, an der der Angeklagte tätig war. Er war jedoch weder ihr Klassenlehrer noch unterrichtete er sie, von Vertretungsfällen in nicht näher festgestelltem Umfang abgesehen, in einem bestimmten Fach. Seit dem Jahr 2008 nahm die Geschädigte an dem vom Angeklagten veranstalteten Schulsanitätsdienst sowie – in ihrer Freizeit – an den von ihm geleiteten Gruppenstunden im DJRK in W. teil.
Infolge der Trennung ihrer Mutter von ihrem Stiefvater, mit dem sie ein sehr enges Vertrauensverhältnis verbunden hatte, entwickelte die Geschädigte seit Februar 2009 eine massive Essstörung und magerte erheblich ab. Im Sommer 2010 aß sie fast nichts mehr und begann, sich durch Ritzen selbst zu verletzen. Zwischen dem Angeklagten, der ihre schlechte Verfassung bemerkt und ihr seine Hilfe angeboten hatte, und der Geschädigten, die sich daraufhin dem Angeklagten zuwandte und ihm rückhaltlos von ihren privaten Problemen berichtete, entstand in der Folgezeit eine enge persönliche Beziehung, in der es nach dem Austausch bloßer Zärtlichkeiten in der Zeit vom 22. Oktober 2010 bis zum 4. März 2011 zu den hier abgeurteilten sexuellen Handlungen kam. Der Angeklagte gab der Geschädigten in einem Fall einen Zungenkuss, veranlasste sie in drei Fällen dazu, bei ihm den Oralverkehr auszuführen und führte in acht Fällen den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr durch, in einem Fall zusätzlich den Analverkehr.
2. Das Landgericht hat angenommen, die Geschädigte sei dem Angeklagten in dessen Eigenschaft als Lehrer zur Erziehung und zur Ausbildung im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB anvertraut gewesen, auch wenn er sie nicht selbst unterrichtet, sondern allenfalls Vertretungsstunden in ihrer Klasse gegeben habe. Er habe sie außerdem im Rahmen des Schulsanitätsdienstes, also aus Anlass einer schulischen Veranstaltung, ausgebildet und sei auch als Leiter einer Jugendgruppe beim DJRK ihr Ausbilder gewesen.
II.
Die Annahme eines Obhutsverhältnisses im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB wird von den bisherigen Feststellungen des Landgerichts nicht getragen.
1. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass die berufliche Stellung des Angeklagten als Lehrer an der Schule, die die Geschädigte als Schülerin besuchte, ein Obhutsverhältnis zu ihr unter bestimmten Voraussetzungen ebenso zu begründen vermag wie seine Tätigkeit als Veranstalter der von der Geschädigten wahrgenommenen Arbeitsgemeinschaft „Schulsanitätsdienst“ oder als Leiter einer Jugendgruppe beim DJRK, deren Mitglied die Geschädigte war. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Voraussetzung eines Obhutsverhältnisses im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB eine Beziehung zwischen Täter und Opfer, aus der sich für den Täter das Recht und die Pflicht ergibt, Erziehung, Ausbildung oder Lebensführung des Schutzbefohlenen und damit dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten (vgl. nur BGH, Beschluss vom 31. Januar 1967 – 1 StR 595/65, BGHSt 21, 196, 199 ff.; Senatsbeschluss vom 26. Juni 2003 – 4 StR 159/03, NStZ 2003, 661). Ein die Anforderungen der Vorschrift erfüllendes Anvertrautsein setzt ein den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich erfassendes Abhängigkeitsverhältnis des Jugendlichen zu dem jeweiligen Betreuer im Sinne einer Unter- und Überordnung voraus (BGH, Beschluss vom 21. April 1995 – 3 StR 526/94, BGHSt 41, 137, 139). Es kann daher außer im schulischen Bereich auch in anderen, den Verhältnissen an einer Schule vergleichbaren Fällen vorliegen, etwa im Einzel- oder im Mannschaftssport (BGH, Urteil vom 3. April 1962 – 5 StR 74/62, BGHSt 17, 191 [Fußballtrainer]; Senatsbeschluss vom 26. Juni 2003 aaO [Tennistrainer]), ebenso in einem anderweitigen Ausbildungsverhältnis (BGH, Beschluss vom 31. Januar 1967 aaO [Fahrlehrer]). Maßgebend sind indes in jedem Fall die konkreten, tatsächlichen Verhältnisse (BGH, Urteil vom 30. Oktober 1963 – 2 StR 357/63, BGHSt 19, 163, 166; Beschluss vom 31. Januar 1967 aaO, S. 202; Senatsbeschluss vom 26. Juni 2003 aaO; SSW-StGB/Wolters, § 174 Rn. 6). Mag sich daher die Obhutsbeziehung mit dem von der Strafvorschrift vorausgesetzten Anvertrautsein bei einem Lehrer im Verhältnis zu den von ihm als Klassen- oder Fachlehrer unterrichteten Schülern von selbst verstehen, kann es bei Vorliegen anderer Fallgestaltungen genauerer Darlegung der erforderlichen Voraussetzungen bedürfen. So liegt es hier.
2. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte weder Klassen- noch Fachlehrer in der Klasse der Geschädigten, sondern erteilte lediglich Vertretungsunterricht. Danach versteht sich insoweit ein Obhutsverhältnis nicht von selbst. Jedenfalls an größeren Schulen mit einem für den einzelnen Schüler nur schwer überschaubaren Lehrerkollegium ergibt es sich nicht schon aus der bloßen Zugehörigkeit von Lehrern und Schülern zu derselben Schule, sondern regelmäßig erst mit der Zuweisung eines Schülers an einen bestimmten Lehrer, der dadurch die in § 174 Abs. 1 StGB vorausgesetzten Pflichten übernimmt (so BGH, Urteil vom 30. Oktober 1963 aaO; anders für den Leiter einer Schule: BGH, Urteil vom 24. November 1959 – 5 StR 518/59, BGHSt 13, 352, 355). Welchen Umfang die Vertretungstätigkeit des Angeklagten in der Klasse der Geschädigten hatte, ergibt sich aus den Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht.
b) Zwar kann die Annahme eines Obhutsverhältnisses zwischen Lehrer und Schüler auch unabhängig von der eigentlichen Unterrichtserteilung entstehen, etwa bei Aufsichtstätigkeiten oder im Rahmen besonderer Veranstaltungen der Schule, zu denen auch die Durchführung einer von den Schulbehörden genehmigten, nicht zum regulären Unterricht zählenden Arbeitsgemeinschaft zählt. Ob die Ausrichtung des Schulsanitätsdienstes unter der persönlichen Leitung des Angeklagten die Voraussetzungen einer solchen Obhutsbeziehung erfüllt, ist jedoch ebenfalls nicht ausreichend dargetan. Zwar steht dem die Freiwilligkeit der Teilnahme an dieser Veranstaltung nicht entgegen (BGH, Urteil vom 3. April 1962 – 5 StR 74/62, BGHSt 17, 191, 193). Gleichwohl fehlt es an näheren Feststellungen zur Häufigkeit der Durchführung und dazu, ob der Angeklagte diese Arbeitsgemeinschaft auch noch nach seinem Ausscheiden aus dem DJRK mit Ablauf des 31. Dezember 2010 fortführte.
Insoweit begegnet es auch durchgreifenden rechtlichen Bedenken, wenn die Strafkammer die Tätigkeit des Angeklagten als Leiter einer Gruppe im DJRK, der auch die Geschädigte angehörte, zur Begründung des Obhutsverhältnisses herangezogen hat. Wie bereits erwähnt, beendete der Angeklagte diese Tätigkeit mit Ende des Jahres 2010; jedenfalls die Taten in den Fällen II. 6 bis II. 12 der Urteilsgründe, die die Strafkammer zeitlich nach dem ersten Geschlechtsverkehr („an einem nicht näher bestimmbaren Donnerstag im Dezember 2010 oder Januar 2011“) einordnet, ereigneten sich demnach in einem Zeitraum, in dem der Angeklagte beim DJRK nicht mehr tätig war. Ein „nachwirkendes“ Obhutsverhältnis erfüllt den Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht (Senatsbeschluss vom 26. Juni 2003 – 4 StR 159/03, NStZ 2003, 661).
III.
Die Aufhebung des angefochtenen Urteils erfasst die zugehörigen Feststellungen mit Ausnahme derjenigen, die das Landgericht zu den konkreten sexuellen Handlungen getroffen hat. Diese werden von dem Rechtsfehler nicht berührt und können daher aufrecht erhalten bleiben. Der neue Tatrichter kann insoweit ergänzende Feststellungen treffen, die den bisher getroffenen nicht widersprechen.
Ernemann Roggenbuck Franke
Mutzbauer Quentin