Entscheidungsdatum: 01.02.2017
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 30. August 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und „in weiterer Tateinheit“ mit unerlaubtem Besitz und unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Seine hiergegen eingelegte Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.
I.
Das Landgericht hat im Wesentlichen die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte und der Nebenkläger M. bewohnten Erdgeschosswohnungen in aneinandergebauten Mehrfamilienhäusern in R. . Am Abend des 18. Dezember 2015 hatte M. Freunde zu Besuch. Gemeinsam hörten sie Musik in einer derart hohen Lautstärke, dass diese auch in der Wohnung des Angeklagten zu hören war. Der Angeklagte fühlte sich dadurch gestört und entschloss sich, M. in dessen Wohnung aufzusuchen. Er wusste, dass er M. körperlich unterlegen war und erwartete, dass dieser auf eine Beschwerde über die Lautstärke der Musik abweisend und aggressiv reagieren werde. Um dem entgegnen zu können, nahm er eine einige Zeit zuvor erworbene umgebaute Schreckschuss-, Reizstoff- und Signalpistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer und eingeführtem Magazin (10 Vollmantel-Patronen) an sich und steckte sich diese unter seiner Kleidung verborgen in den Hosenbund. Er hatte die Vorstellung, die Waffe vorzuzeigen, falls M. der Bitte um Ruhe - wie erwartet - nicht nachkomme. Dabei ging er davon aus, dass M. unter dem Eindruck der vorgezeigten Waffe seiner Forderung nach Ruhe letztlich entsprechen werde.
Als der Angeklagte um 23.15 Uhr bei M. klingelte, betätigte dieser den elektrischen Türöffner. Anschließend ging M. bei geöffneter Wohnungstür in den Hausflur, während seine Gäste im Wohnzimmer verblieben. Dort traf er auf den Angeklagten. Beide blieben voreinander stehen. Der Angeklagte brachte sein Anliegen in italienischer Sprache und durch Gesten zum Ausdruck. Zwischen beiden kam es daraufhin zu einem in zunehmender Lautstärke geführten Wortgefecht. M. sagte dabei: „Komm, wir gehen vor die Tür!“ Der Angeklagte verstand dies dahingehend, dass M. seiner Bitte um Ruhe nicht nachkommen und sich mit ihm vor der Haustür auseinandersetzen wollte. Er befürchtete, es werde dann dort zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen ihnen kommen, bei der er unterliegen werde. Wie zuvor geplant zog der Angeklagte nun sein T-Shirt hoch, um mit seiner Waffe zu drohen. M. sah die Waffe im Hosenbund des Angeklagten und verstand dessen Drohung. Er ließ sich dadurch aber nicht einschüchtern, sondern erklärte: „Pack die Waffe weg!“ Zugleich oder unmittelbar danach ging er auf den Angeklagten zu und fragte ihn, was er denn von ihm wolle, man könne das auch anders regeln. Dabei ging er weiter auf den Angeklagten zu, der wiederum rückwärts zurückwich, sodass sich beide der Haustür näherten und schließlich die davor befindliche Treppe erreichten. Nicht ausschließbar fasste M. dabei den Angeklagten einmal an den Oberarm. Letztlich stand M. auf der obersten Treppenstufe, während der Angeklagte entweder unmittelbar vor der Treppe oder auf der Zuwegung dorthin stand. Die Entfernung zwischen beiden betrug höchstens zwei Meter. Der Angeklagte hatte weiter Angst vor einer körperlichen Auseinandersetzung mit M. . Einer solchen wollte er zuvorkommen. Er entschloss sich deshalb, von der Waffe Gebrauch zu machen und gab einen gezielten Schuss auf den Oberkörper des Nebenklägers ab. Dabei hatte er die Vorstellung, dass dieser Schuss tödlich sein werde. Das Geschoss traf M. mittig in den Bauchraum. M. brach unmittelbar nach dem Schuss zusammen und krümmte sich schreiend am Boden. Der Angeklagte erkannte, dass sein Schuss M. im Oberkörper getroffen hatte und lief davon. Am 28. Januar 2016 wurde er im Besitz der zur Tat benutzten Waffe festgenommen. Eine waffenrechtliche Erlaubnis hatte er nicht.
2. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) sowie - ebenfalls hierzu in Tateinheit stehend - als unerlaubten Besitz und unerlaubtes Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe gewertet. Eine Notwehrhandlung scheide aus, denn der Angeklagte habe sich lediglich dahingehend eingelassen, dass er damit gerechnet habe, von dem Nebenkläger und seinem Besuch angegriffen zu werden. Von einem tatsächlich nunmehr unmittelbar bevorstehenden Angriff auf ihn sei der Angeklagte danach selbst nicht ausgegangen.
II.
Das Urteil hat keinen Bestand, weil die Feststellungen zur Situation unmittelbar vor Schussabgabe lückenhaft sind und die Verneinung einer Notwehrlage nicht tragen.
1. Ein gegenwärtiger Angriff im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB ist auch ein Verhalten, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlicher nicht mehr hinnehmbarer Risiken aussetzen würde (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2016 - 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38, 39; Urteil vom 7. November 1972 - 1 StR 489/72, NJW 1973, 255 mwN). Dabei kommt es auf die objektive Sachlage an. Entscheidend sind daher nicht die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer Rechtsgutsverletzung (vgl. BGH, Urteil vom 18. April 2002 - 3 StR 503/01, NStZ-RR 2002, 203, 204; Urteil vom 9. August 2005 - 1 StR 99/05, NStZ 2006, 152, 153; Beschluss vom 11. Dezember 1991 - 2 StR 535/91, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 5; siehe auch Beschluss vom 28. Oktober 2015 - 5 StR 397/15, bei Hecker, JuS 2016, 562, 563).
2. Das Landgericht hat keine tatsächlichen Feststellungen dazu getroffen, welche Absichten der Nebenkläger im Tatzeitpunkt hatte. In den Urteilsgründen wird lediglich mitgeteilt, wie der Angeklagte dessen Äußerung “Komm, wir gehen vor die Tür“ gedeutet hat und dass er deshalb Angst vor einer körperlichen Auseinandersetzung hatte. Dass der Nebenkläger vor der Haustür gegenüber dem Angeklagten übergriffig werden wollte und von ihm deshalb eine Gefahr für die Rechtsgüter des Angeklagten ausging, die sofortige Abwehrhandlungen erforderlich machte, ist nach den mitgeteilten Umständen auch nicht so fernliegend, dass konkrete Feststellungen hierzu entbehrlich waren.
3. Der Schuldspruch wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe (zu einer möglichen Rechtfertigung auch dieses Delikts vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2010 - 3 StR 508/09, NStZ-RR 2010, 140 mwN) hat daher auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen keinen Bestand. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird - nötigenfalls unter Heranziehung des Zweifelssatzes - den Sachverhalt genauer festzustellen haben, um eine ausreichende Grundlage für die Bewertung zu schaffen, ob die Tat des Angeklagten gerechtfertigt oder entschuldigt ist.
Auch die an sich rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen unerlaubten Besitzes einer halbautomatischen Kurzwaffe war mit aufzuheben, weil das Landgericht dieses Delikt ebenfalls in Tateinheit abgeurteilt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 14. November 2007 - 2 StR 458/07, NStZ 2008, 275, 276; zu den Konkurrenzverhältnissen vgl. BGH, Beschluss vom 27. Dezember 2011 - 2 StR 380/11, BGHR WaffG § 53 Abs. 1 Konkurrenzen 9).
Ergibt die neue Hauptverhandlung, dass von dem Nebenkläger im Zeitpunkt des Schusses kein gegenwärtiger Angriff ausging oder die Schussabgabe zur Abwehr nicht erforderlich war (vgl. dazu BGH, Urteil vom 2. November 2011 - 2 StR 375/11, NStZ 2012, 272, 273), wird sich der neue Tatrichter gegebenenfalls mit der Frage befassen müssen, ob der Angeklagte irrig von Umständen ausgegangen ist, die - lägen sie vor - sein Verhalten gerechtfertigt hätten (Putativnotwehr). Ein Irrtum über das Vorliegen eines Angriffs oder die Erforderlichkeit der Verteidigung ist ein Erlaubnistatbestandsirrtum, der eine Bestrafung wegen einer vorsätzlichen Tat ausschließt (vgl. BGH, Beschluss vom 11. August 2010 - 1 StR 351/10, NStZ-RR 2011, 238, 239 mwN).
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