Entscheidungsdatum: 08.02.2011
Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 29. Juni 2010 wird als unbegründet verworfen.
Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit vorsätzlichem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr sowie mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Es hat der Angeklagten ferner die Fahrerlaubnis entzogen, ihren Führerschein eingezogen und eine Sperre von drei Jahren für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis verhängt. Dagegen richtet sich die Revision der Angeklagten mit der Sachrüge und einer Verfahrensrüge. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
Die sachlich-rechtliche Nachprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Ohne Erfolg bleibt auch die Beanstandung, das Landgericht habe gegen § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO verstoßen.
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde: Am ersten Verhandlungstag verlas der Vorsitzende während der Vernehmung der sachverständigen Zeugin Dr. G. im allseitigen Einverständnis den Arztbrief des Prof. Dr. W. K. vom 5. September 2008. Die Revision macht geltend, dass der Arztbrief der Kammer zum Nachweis der Folgen des versuchten Totschlags und der konkreten Lebensgefahr beim Geschädigten gedient habe, so dass er nicht nach § 256 StPO habe verlesen werden können. Ein Beschluss der Strafkammer nach § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO sei daher unverzichtbar gewesen.
2. Grundsätzlich begründet es allerdings die Revision, wenn der nach § 251 Abs. 4 StPO geforderte Gerichtsbeschluss nicht ergangen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Februar 1988 - 4 StR 51/88, NStZ 1988, 283; vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 446/92, NStZ 1993, 144 und vom 10. Juni 2010 - 2 StR 78/10, NStZ 2010, 649). Der Beschluss dient der Unterrichtung der Verfahrensbeteiligten über den Grund der Verlesung und der eindeutigen Bestimmung des Umfangs der Verlesung. Bei Kollegialgerichten – wie hier – soll er zudem unter Beachtung der Aufklärungspflicht die Meinungsbildung des gesamten Gerichts und nicht nur des Vorsitzenden über das einzuschlagende Verfahren sicherstellen und insbesondere den Schöffen im Hinblick auf den Grundsatz der Unmittelbarkeit den Ausnahmecharakter der Verlesung deutlich machen. Entscheidend ist insoweit, ob die persönliche Vernehmung des Zeugen zur weiteren Aufklärung erforderlich ist oder ob die Verlesung der Niederschrift genügt (vgl. BGH, Urteile vom 21. September 2000 - 1 StR 634/99, NStZ-RR 2001, 261 und vom 20. April 2006 - 4 StR 604/05, NStZ-RR 2007, 52).
Das Urteil kann auf dem nicht ergangenen Gerichtsbeschluss beruhen, wenn sich den Verfahrensbeteiligten der Grund der Verlesung nicht erschlossen hat und damit die der Anordnung der Verlesung zu Grunde liegenden Erwägungen rechtlich nicht überprüfbar sind bzw. das Gericht die Verlesungsvoraussetzungen (im Gegensatz zum Vorsitzenden) möglicherweise verneint hätte (vgl. BGH, Urteil vom 20. April 2006 – 4 StR 604/05, NStZ-RR 2007, 52, 53).
Soweit die Unterrichtungs- und Überprüfungsfunktion des § 251 Abs. 4 Sätze 1 und 2 StPO betroffen ist, beruht das Urteil hier ersichtlich nicht auf dem fehlenden Beschluss; der Grund und der Umfang der Verlesung waren klar – nämlich die Einführung des Arztberichtes in die Hauptverhandlung während der Vernehmung der sachverständigen Zeugin mit allgemeinem Einverständnis (§ 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO).
Ob es daneben geboten war, den Verfasser des Arztbriefes als sachverständigen Zeugen zu hören, war eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht. Der Senat kann hier ausschließen, dass die persönliche Vernehmung des Verfassers des mehrseitigen Arztbriefes eine weitergehende Aufklärung des Falles ermöglicht hätte als die erfolgte Verlesung desselben. Anhaltspunkte dafür, dass der Verfasser als Zeuge weitere Gesichtspunkte oder Umstände hätte bekunden können, die über die Angaben in dem Arztbrief hinausgehen und zu einer anderen Beurteilung der Lebensgefahr für den Geschädigten hätten führen können, sind nicht ersichtlich und werden auch von der Revision nicht vorgetragen. Deshalb kann auch ausgeschlossen werden, dass das Gericht unter Beachtung von Aufklärungsgesichtspunkten anders entschieden hätte als der Vorsitzende allein (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 10. Juni 2010 - 2 StR 78/10, NStZ 2010, 649).
3. Der Senat kann schließlich auch ausschließen, dass die Urteilsfeststellungen zu den Tatfolgen auf der Verlesung des Arztbriefes beruhen. Ausweislich der Urteilsgründe (UA S. 60) beruhen sie vielmehr auf den eigenen Angaben des Geschädigten und der Aussage der sachverständigen Zeugin Dr. G., die den Geschädigten wiederholt untersucht und dabei auch Einsicht in seine Krankenakten genommen hat. In den Angaben im verlesenen Arztbrief hat die Strafkammer lediglich eine Bestätigung dieser übereinstimmenden Aussagen gefunden. Dies gilt auch hinsichtlich der konkreten Lebensgefahr durch die erlittenen Verletzungen (UA S. 61). Auch hierzu haben die sachverständige Zeugin Dr. G. und der Zeuge Dr. F., der die Erstversorgung des Geschädigten am Unfallort übernommen hatte, ausgesagt.
Ernemann Roggenbuck Cierniak
Mutzbauer Bender