Entscheidungsdatum: 19.11.2013
Die durch § 46 Abs. 2 StGB gezogene Grenze zulässiger strafschärfender Berücksichtigung nicht angeklagter, aber prozessordnungsgemäß festgestellter Taten ist jedenfalls dann überschritten, wenn diese mangels enger Beziehung zur angeklagten Tat keine Rückschlüsse auf Schuld oder Gefährlichkeit des Täters zulassen, sondern als sonstiges strafrechtlich relevantes Verhalten ohne gesonderte Anklage und damit außerhalb der Anforderungen eines geordneten Strafverfahrens einer gesonderten Bewertung zugeführt werden sollen.
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 29. Mai 2013 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von dreizehn Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten führt auf die Sachrüge zur Aufhebung des Strafausspruchs; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Am 21. September 2012 tötete der Angeklagte seine Ehefrau bei einem Streit in der gemeinsamen Wohnung durch einen kraftvoll geführten Stich mit einem Messer in die linke Brust, durch den die rechte Herzkammer eröffnet wurde, so dass das Opfer verblutete. Nachdem der Angeklagte in den folgenden Tagen den Leichnam sowie die Tatspuren beseitigt hatte, wurde er schließlich am 23. Oktober 2012 festgenommen.
Der weitgehend geständige Angeklagte hat in der Hauptverhandlung, in der eine Verständigung im Sinne von § 257c StPO nicht erfolgt ist, außerdem zahlreiche von der Anklage nicht umfasste Taten des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil seiner beiden damals etwa zehn bis vierzehn Jahre alten Stieftöchter eingeräumt, bei denen es über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren vor der hier angeklagten Straftat, teilweise aber auch noch danach, regelmäßig zu vaginalem Geschlechtsverkehr kam.
2. Auf der Grundlage der glaubhaften Angaben des Angeklagten sowie der beiden Geschädigten, so die Strafkammer, müssten mindestens 215 Taten des sexuellen Missbrauchs im Sinne von § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB als erwiesen angesehen werden, für die das Gesetz eine Mindeststrafe von zwei Jahren androhe. Sie seien – nach entsprechender Belehrung des Angeklagten – aufgeklärt und, obwohl nicht angeklagt, als Teil des Vorlebens im Sinne von § 46 Abs. 2 StGB zu seinem Nachteil bei der Zumessung der Strafe berücksichtigt worden. Seinem Geständnis komme daher einerseits besonderes Gewicht zu. Andererseits habe er das ihm von den beiden Mädchen entgegengebrachte Vertrauen und seine Stellung als Autoritätsperson zur Tatbegehung missbraucht; die konkrete Tatausführung sei für die Geschädigten in einigen Fällen besonders erniedrigend gewesen. Das Landgericht führt sodann weiter aus:
„Die Kammer hofft unter diesen Umständen, dass es wegen der hier auch aufgrund des Geständnisses des Angeklagten festgestellten Sexualstraftaten der Durchführung eines neuen Strafverfahrens nicht mehr bedarf und den Geschädigten auf diese Weise weitere Vernehmungen erspart bleiben. Was die hier vorzunehmende Strafzumessung betrifft, geht die Kammer davon als sicher aus.“
Diese Erwägungen begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
II.
1. a) Gemäß § 46 Abs. 2 StGB hat der Tatrichter bei der Strafzumessung die für und gegen den Täter sprechenden Umstände gegeneinander abzuwägen und dabei namentlich auch sein Vorleben zu berücksichtigen. Dies umfasst die im Urteil festgestellten Vorstrafen. Es ist in der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber auch anerkannt, dass der Tatrichter bei der Feststellung und Bewertung von Strafzumessungstatsachen durch den Anklagegrundsatz (§§ 155, 264 StPO) nicht beschränkt ist und daher auch strafbare Handlungen ermitteln und würdigen kann, die nicht Gegenstand der Anklage sind, soweit diese für die Beurteilung der Persönlichkeit des Angeklagten bedeutsam sein können und Rückschlüsse auf die Tatschuld des Angeklagten gestatten, sofern sie prozessordnungsgemäß und damit hinreichend bestimmt festgestellt werden (BGH, Urteil vom 7. Mai 1974 – 1 StR 42/75, MDR 1975, 195 f.; BGH, Urteil vom 6. März 1992 – 2 StR 581/91, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Vorleben 19; Beschluss vom 22. Mai 2013 – 2 StR 68/13; Beschluss vom 2. Juli 2009 – 3 StR 251/09, NStZ-RR 2009, 306; Beschluss vom 5. Februar 1998 – 4 StR 16/98, NStZ 1998, 404; Beschluss vom 9. Oktober 2003 – 4 StR 359/03, NStZ-RR 2004, 359 mwN).
Allerdings bedarf es für die gesonderte Bewertung sonstiger strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen ohne gesonderte Anklage und damit außerhalb der Anforderungen eines geordneten Strafverfahrens nicht nur der Beachtung des Gewährleistungsgehalts der Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 5. April 2010 – 2 BvR 366/10, BVerfGK 17, 223, 225 mwN) und – mangels Verbrauchs der Strafklage – der Vermeidung einer Doppelbestrafung (BGH, Urteil vom 7. Mai 1974 – 1 StR 42/74, MDR 1975, 195 f.; vgl. auch BGH, Urteil vom 16. Dezember 1975 – 1 StR 755/75, NStZ 1981, 99, 100; Urteil vom 17. April 1996 – 2 StR 57/96; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Vorleben 26; Beschluss vom 5. Februar 1998 – 4 StR 16/98, NStZ 1998, 404 bezüglich späterer Straftaten; Beschluss vom 25. April 2006 – 4 StR 125/06, NStZ 2006, 620). Ein sachlich-rechtlicher Gesichtspunkt kommt hinzu: Es kann in aller Regel nur darum gehen, Umstände festzustellen, die wegen ihrer engen Beziehung zur Tat als Anzeichen für Schuld oder Gefährlichkeit des Täters verwertbar sind. Diese durch Sinn und Zweck von § 46 Abs. 2 StGB gezogene Grenze ist jedenfalls dann überschritten, wenn es an dem notwendigen inneren Zusammenhang mit dem angeklagten Tatvorwurf fehlt (BGH, Urteil vom 7. Mai 1974 aaO).
b) Ausgehend von diesen Grundsätzen lassen die Ausführungen des Landgerichts besorgen, dass es den Taten des Angeklagten zum Nachteil seiner Stieftöchter bei der Zumessung der schuldangemessenen Strafe für die angeklagte Tat ein zu großes Gewicht beigemessen hat. Es hat im vorliegenden Fall die nicht angeklagten Taten zwar unter Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten prozessordnungsgemäß festgestellt. Dabei hat es aber das Erfordernis des inneren Zusammenhangs jedenfalls derjenigen Taten, die vor der verfahrensgegenständlichen Tat begangen wurden, mit dem (zeitlich nachfolgenden) Tatvorwurf aus dem Blick verloren. Denn es handelt sich bei diesen Taten weder um vergleichbare bzw. gleichartige Schuldvorwürfe, aus denen sich unmittelbare Rückschlüsse auf die Tatschuld des Angeklagten ableiten ließen, noch waren die Sexualstraftaten Anlass für die Tötung der Ehefrau oder standen dazu in einem sonstigen inneren Zusammenhang. Allein das verwandtschaftliche Verhältnis der Geschädigten zueinander und das familiäre Beziehungsgeflecht von Opfern und Täter sind dafür nicht ausreichend. Gegen einen solchen Zusammenhang sprechen ferner die große Zahl der festgestellten Einzeltaten und der lange Tatzeitraum.
Zudem deutet auch die in den Urteilsgründen geäußerte Hoffnung des Landgerichts, dass es wegen aller Sexualstraftaten im Hinblick auf die für das Tötungsdelikt verhängte Strafe nicht zu einem weiteren Strafverfahren kommen werde (UA S. 42), darauf hin, dass die außerhalb der Anklage festgestellten Taten durch das angefochtene Urteil mitbestraft worden sind, was unzulässig wäre (BVerfG, Beschluss vom 5. April 2010 aaO). Da das Urteil keine Feststellungen zu einem die Taten betreffenden Ermittlungs- oder Strafverfahren enthält, bestünde insoweit die konkrete Gefahr einer unzulässigen Doppelbestrafung.
2. Die Sache bedarf deshalb zum Strafausspruch neuer Verhandlung und Entscheidung.
Der Senat bemerkt ergänzend, dass der neue Tatrichter entsprechend den unter II. 1 dargelegten Maßstäben nicht gehindert ist, die im Vorfeld des ausgeurteilten Tötungsdelikts zum Nachteil seiner Ehefrau begangene weitere Straftat des Angeklagten (Würgen bis zur Bewusstlosigkeit Ende April 2012), die ebenfalls nicht von der Anklage umfasst ist, strafschärfend zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die nach der abgeurteilten Tat bis zur Festnahme am 23. Oktober 2013 zum Nachteil der Stieftöchter begangenen Sexualdelikte wird eine strafschärfende Berücksichtigung in Betracht kommen, soweit diese Taten nach ihrer Art und den Umständen ihrer Begehung Rückschlüsse auf eine tatbezogene besondere Rechtsfeindlichkeit zulassen (BGH, Beschluss vom 16. September 2009 – 5 StR 348/09, Tz. 3 mwN, NStZ-RR 2010, 8).
Sost-Scheible Cierniak Franke
Bender Quentin