Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 24.10.2012


BGH 24.10.2012 - 4 StR 374/12

Sexuelle Nötigung bzw. Vergewaltigung unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage: Angst des Opfers vor Körperverletzungs- oder Tötungshandlungen des Täters


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
4. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
24.10.2012
Aktenzeichen:
4 StR 374/12
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Essen, 2. Mai 2012, Az: 25 KLs 71 Js 477/08 - 42/11
Zitierte Gesetze

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 2. Mai 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung (Vergewaltigung) zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision und rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

3

Die Geschädigte, die polnische Staatsangehörige K.   L.   , war im Februar 2007 auf Veranlassung des gesondert verfolgten D.   M.     unter Vorspiegelung gut entlohnter Arbeitsmöglichkeiten nach Deutschland gelockt worden, musste jedoch statt dessen u.a. im Haushalt der Familie M.    , den sie nicht verlassen durfte, unentgeltliche Arbeiten verrichten und wurde von M.     mehrfach vergewaltigt. Als sie etwa drei Wochen nach ihrer Ankunft in Deutschland M.     gegenüber erklärte, sie wolle dessen Haushalt nunmehr verlassen, schlug er sie so heftig, dass sie bewusstlos wurde, zu Boden fiel und erst dort wieder zu sich kam. M.     äußerte daraufhin, wenn sie noch einen Laut von sich gebe, werde sie nicht mehr aufstehen können. Durch Zerstörung der SIM-Karte des Mobiltelefons der Geschädigten unterband er zudem deren Kontakt mit ihrer in Polen lebenden Familie.

4

Der mit dem Bruder des gesondert verfolgten D.   M.    , R.   M.    , befreundete Angeklagte lernte die Geschädigte bei Besuchen im Haushalt der Familie M.     kennen. Die Strafkammer hat nicht feststellen können, dass er sowie R.   M.    von den sexuellen Übergriffen des ge-sondert verfolgten D.   M.     auf die Zeugin sowie von den übrigen Gewalttätigkeiten und Drohungen und deren einschüchternder Wirkung auf die Geschädigte wussten. Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt veranlassten der Angeklagte und R.   M.     die Geschädigte, die diesem Ansin-nen nur widerstrebend Folge leistete, sie in die Wohnung des R.   M.     zu begleiten, die in einem großen Wohnblock in Essen lag. Da beide in dieser Wohnung den Geschlechtsverkehr mit der Geschädigten durchführen wollten und ihnen bewusst war, dass diese mit dem Vorhaben nicht einverstanden sein würde, veranlassten sie die Geschädigte, eine Marihuana-Zigarette zu rauchen, um die erwartete Gegenwehr zu unterlaufen. Nach dem Genuss der Zigarette litt die Geschädigte unter Kopfschmerzen; ihre körperliche Funktionsfähigkeit war, bei noch vollem Bewusstsein, herabgesetzt. Obwohl sie deutlich erklärte, dies nicht zu wollen, begannen beide Männer damit, die Geschädigte anzufassen und auszuziehen. Sodann führten sie mit ihr in wechselnden Positionen gleichzeitig den Geschlechtsverkehr durch. Nach ihrer anfänglichen Weigerung wehrte sich die Geschädigte nicht mehr, weil sie erkannt hatte, dass dies wegen ihrer Ortsunkundigkeit, der Anonymität in dem großen Wohnblock, ihrer herabgesetzten körperlichen Funktionstätigkeit und ihrer fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache keinen Sinn haben würde. Dass die Geschädigte nur aus diesen Gründen auf Widerstand verzichtete, war dem Angeklagten und dem gesondert verfolgten R.   M.     bewusst. Dass die Geschädigte vor Durchführung der sexuellen Handlungen von dem Angeklagten oder von R.   M.     bedroht wurde, hat das Landgericht nicht festgestellt.

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2. Der Angeklagte, so das Landgericht, habe sich wegen sexueller Nötigung (Vergewaltigung) im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB schuldig gemacht. Die Geschädigte habe sich zum Zeitpunkt der Tatausführung in einer schutzlosen Lage befunden, da sie in der Wohnung des gesondert verfolgten R.   M.     über keine effektiven Schutz- und Verteidi-gungsmöglichkeiten mehr verfügt habe und deshalb der nötigenden Gewalt beider Täter ausgeliefert gewesen sei. Bei Gesamtwürdigung aller Tatumstände habe sie keine Aussicht gehabt, sich den als mögliche Nötigungsmittel in Betracht zu ziehenden Gewalthandlungen beider Täter zu widersetzen, sich ihrem Zugriff durch Flucht zu entziehen oder fremde Hilfe zu erlangen. Der Angeklagte habe auch vorsätzlich gehandelt, da er nicht nur den entgegenstehenden Willen der Geschädigten, sondern auch die Umstände erkannt habe, die ihre schutzlose Lage begründeten.

II.

6

Das angefochtene Urteil hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

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1. Die Verfahrensrügen haben aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 10. September 2012 keinen Erfolg. Die Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 6 StPO genügt schon deshalb nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, weil sie mit unvollständigem bzw. unzutreffendem Sachvortrag begründet wird.

8

2. Die Revision hat jedoch mit der Sachrüge Erfolg. Die Verurteilung wegen sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung wegen Ausnutzung einer schutzlosen Lage im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

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a) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfordert die Verwirklichung des Tatbestandes des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB unter anderem, dass sich das Opfer in einer Lage befindet, in der es möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert ist. Diese Schutzlosigkeit muss eine Zwangswirkung auf das Opfer in der Weise entfalten, dass es aus Angst vor einer Gewalteinwirkung des Täters in Gestalt von Körperverletzungs- oder gar Tötungshandlungen einen – ihm grundsätzlich möglichen – Widerstand unterlässt und entgegen seinem eigenen Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder duldet; auf diese Umstände muss sich der – zumindest bedingte – Vorsatz des Täters erstrecken (vgl. dazu BGH, Urteile vom 27. März 2003 – 3 StR 446/02, NStZ 2003, 533, 534; vom 25. Januar 2006 – 2 StR 345/05, BGHSt 50, 359, 366; Beschlüsse vom 4. April 2007 – 4 StR 345/06, BGHSt 51, 280, 284; vom 11. Juni 2008 – 5 StR 193/08, NStZ 2009, 263; vom 10. Mai 2011 – 3 StR 78/11, NStZ-RR 2011, 311, 312; vom 20. Oktober 2011 – 4 StR 396/11, NStZ 2012, 209; vom 21. Dezember 2011 – 4 StR 404/11, NStZ 2012, 570, 571, jeweils mwN; anders noch BGH, Urteil vom 20. Oktober 1999 – 2 StR 248/99, BGHSt 45, 253, 255 ff.).

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b) Gemessen daran hat das Landgericht die Voraussetzungen von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht ausreichend belegt.

11

Das Landgericht hat zwar Feststellungen dazu getroffen, dass sich die Geschädigte zum Tatzeitpunkt objektiv in einer schutzlosen Lage befand. Dass sie die sexuellen Handlungen des Angeklagten und des gesondert verfolgten R.   M.     gerade aus Angst vor Körperverletzungs- oder gar Tötungs-handlungen hingenommen hat und der Angeklagte dies erkannte und zumindest billigend in Kauf nahm, ergeben die Urteilsfeststellungen jedoch nicht. Danach gingen den sexuellen Handlungen in der Wohnung des R.   M.     keine Drohungen voraus, die Anlass für konkrete Befürchtungen der Geschädigten hätten sein können, sie habe bei weiterem Widerstand mit Körperverletzungs- oder Tötungshandlungen zu rechnen. Ob die vom Landgericht zeitlich nicht genau eingeordneten, früheren sexuellen Übergriffe des gesondert verfolgten D.   M.     sowie seine übrigen Gewalttätigkeiten und Drohun-gen zum Nachteil der Geschädigten als Anknüpfungspunkt für die Erfüllung des Tatbestandes des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB in Betracht kommen, kann dahinstehen. Nach den Urteilsfeststellungen waren diese Geschehnisse weder dem Angeklagten noch dem R.   M.     zum Zeitpunkt der Tatausführung bekannt.

12

Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Eine Aufhebung des Haftbefehls durch den Senat ist nicht geboten (§ 126 Abs. 3 StPO; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 126 Rn. 9).

Mutzbauer                           Roggenbuck                            Franke

                      Quentin                                   Reiter