Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 13.12.2012


BGH 13.12.2012 - 4 StR 271/12

Jugendstrafverfahren: Urteilsfeststellungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Jugendlichen


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
4. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
13.12.2012
Aktenzeichen:
4 StR 271/12
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend LG Hamburg, 27. Februar 2012, Az: 604 Ks 13/11
Zitierte Gesetze

Tenor

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 27. Februar 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das Landgericht hat den zur Tatzeit ca. 16 Jahre und 10 Monate alten Angeklagten J.    vom Vorwurf des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr freigesprochen, weil es bei ihm die erforderliche strafrechtliche Verantwortlichkeit gemäß § 3 Satz 1 JGG nicht festzustellen vermochte und eine Unterbringung nach § 63 StGB nicht in Betracht kam. Dem zur Tatzeit ca. 17 Jahre und 8 Monate alten Angeklagten H.     lag Anstiftung zu den von dem Angeklagten J.    begangenen Delikten zur Last. Er wurde freigesprochen, weil eine Tatbeteiligung nicht erweislich war. Gegen beide Freisprüche haben die Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger Revision eingelegt. Die Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

2

1. In der unverändert zugelassenen Anklageschrift vom 11. Juli 2011 wird dem Angeklagten J.    vorgeworfen, am 21. April 2010 gegen 18.40 Uhr mit bedingtem Tötungsvorsatz einen mit Bauschutt gefüllten 10-Liter-Eimer von einer Brücke auf die Bundesautobahn A 1 geworfen und dadurch den in seinem Pkw auf der mittleren Fahrspur fahrenden Nebenkläger verletzt zu haben. Dem Angeklagten H.     wird zur Last gelegt, den Angeklagten J.    zu dem Eimerwurf aufgefordert zu haben.

3

2. Nach den Feststellungen befanden sich die miteinander befreundeten Angeklagten gemeinsam auf dem Heimweg, der sie über eine Autobahnbrücke führte. Kurz vor Beginn der Brücke standen mehrere mit Bauschutt gefüllte Eimer. Der Angeklagte J.    nahm einen dieser Eimer an sich und ging zusammen mit dem Angeklagten H.    bis zur Mitte der Brücke. Dort ließ sich der Angeklagte H.     den Eimer von dem Angeklagten J. geben. Anschließend gab er den Eimer dem Angeklagten J.    zurück oder stellte ihn vor dem Angeklagten J.    ab, der den Eimer sodann wieder an sich nahm. Dann sagte der Angeklagte H.     etwas zu dem Angeklagten J.   ; der Inhalt konnte nicht festgestellt werden. Direkt nach dieser Äußerung warf der Angeklagte J.    den Eimer über das Brückengeländer auf die zu diesem Zeitpunkt „nicht übermäßig“ befahrene Autobahn. Der noch weitgehend gefüllte Eimer durchschlug die Frontscheibe des Pkw des Nebenklägers, der mit 100 - 120 km/h auf dem mittleren Fahrstreifen fuhr. Bauschutt und Teile des Eimers wurden in das Wageninnere geschleudert. Ein keilförmiges, etwa 20 cm langes Teil des Eimers blieb wie ein Wurfgeschoss in der Abdichtung des Fensters der Fahrertür stecken. Der von dem Eimerwurf überraschte Nebenkläger wurde von den eindringenden Teilen lediglich gestreift und erlitt multiple oberflächliche Schürfwunden. Er vermochte sein Fahrzeug kontrolliert auf dem Standstreifen zum Stehen zu bringen; an seinem Pkw entstand ein Sachschaden in Höhe von 5.500 Euro. Beide Angeklagte liefen auf getrennten Wegen davon.

4

Der Angeklagte J.    wusste, dass durch den Eimerwurf ein Mensch verletzt werden konnte. Ebenso erkannte er, dass das Werfen des Eimers auf die Autobahn generell geeignet war, das Leben eines Menschen zu gefährden. All dies nahm er auch billigend in Kauf. Dass er auch den Tod eines anderen Menschen billigend in Kauf nahm, konnte das Landgericht dagegen nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen. Der Angeklagte J.    erkannte weiterhin, dass der Wurf des Eimers auf die Autobahn die Verkehrsgefahr so gesteigert hat, „dass konkrete Gefahren deutlich wahrscheinlicher“ und Leib oder Leben eines anderen Menschen bzw. fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet wurden. Auch dies nahm er zumindest billigend in Kauf.

II.

5

Der Freispruch des Angeklagten J.    ist aufzuheben, weil die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3 Satz 1 JGG) verneint hat, rechtlicher Überprüfung nicht standhalten.

6

1. Das sachverständig beratene Landgericht hat bei dem Angeklagten J.    die nach § 3 Satz 1 JGG erforderliche Einsichtsfähigkeit bejaht. Es ist jedoch – auch insoweit den angehörten Sachverständigen folgend – zu dem Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte nicht über das bei Jugendlichen mit durchschnittlichem Entwicklungsstand zu fordernde Hemmungsvermögen verfügt habe und seine „Handlungsfähigkeit“ deshalb „eingeschränkt“ gewesen sei; Grund hierfür sei im Wesentlichen eine Persönlichkeitsentwicklungsstörung, welche sich vermutlich auf dem Boden einer sozialen Bindungsstörung im Kindesalter entwickelt habe und sich unter anderem in erheblichen Schwächen im auditiven Verständnis und im Bereich der sprachlichen Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie in einer Neigung zur Unterordnung zeige (UA 39 f., 40 f.). § 3 Satz 1 JGG setze eine positive Feststellung der „Handlungsfähigkeit“ voraus. Diese sei nicht mehr sicher möglich, wenn die „Handlungsfähigkeit“, wie hier, beschränkt sei. Für diesen Fall müsse zu Gunsten des Angeklagten die „Handlungsfähigkeit“ und damit die strafrechtliche Verantwortlichkeit verneint werden (UA 42).

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Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht allein in der Feststellung von entwicklungsbedingten Einschränkungen der Handlungsreife ein Hindernis für die Annahme einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach § 3 Satz 1 JGG gesehen hat. Dies trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu.

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Nach § 3 Satz 1 JGG ist ein Jugendlicher strafrechtlich verantwortlich, wenn positiv feststeht, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug gewesen ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Ob die erforderliche Verantwortungsreife gegeben ist, hat der Tatrichter auf der Grundlage seiner Feststellungen zur persönlichen Entwicklung des Jugendlichen, zu dessen Persönlichkeit zur Tatzeit und den Umständen der konkreten Tat – gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe (vgl. § 43 Abs. 2 JGG) – wertend zu beurteilen. Kann die nach § 3 Satz 1 JGG erforderliche Einsichts- und Handlungsreife nicht sicher festgestellt werden, scheidet ein Schuldspruch aus (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 2005 – 4 StR 492/04, ZJJ 2005, 205; Eisenberg, 16. Aufl., § 3 Rn. 4; MünchKommStGB/Altenhain, § 3 JGG Rn. 5; Streng, Jugendstrafrecht, 3. Aufl., Rn. 47; Bohnert, NStZ 1988, 249).

9

Das sich aus § 3 Satz 1 JGG ergebende Erfordernis, die entwicklungsbedingte Handlungsreife in Bezug auf die konkrete Rechtsgutsverletzung positiv feststellen zu müssen, stellt an den Tatrichter zwar besondere Erkenntnis- und Begründungsanforderungen (vgl. Bohnert, NStZ 1988, 249; Streng, DVJJ-Journal 1997, 379, 380), doch folgt aus ihm nicht, dass eine entsprechende Annahme nur noch dann getroffen werden kann, wenn keine reifebedingten Einschränkungen vorliegen. Auch eine aufgrund von Reifedefiziten eingeschränkte Fähigkeit, nach der vorhandenen Einsicht in das Unrecht der Tat zu handeln, begründet die Annahme strafrechtlicher Verantwortlichkeit gemäß § 3 Satz 1 JGG, wenn der Jugendliche „reif genug“ ist (so der Wortlaut von § 3 Satz 1 JGG). Feststellungen bzw. Wertungen hierzu hat das Landgericht nicht getroffen. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

10

2. Das Urteil war trotz des auf die Bewertung der Verantwortungsreife beschränkten Rechtsfehlers im Ganzen aufzuheben. Eine Aufrechterhaltung von belastenden Feststellungen kam nicht in Betracht, weil der Angeklagte J.    aufgrund des Freispruchs an einer Anfechtung des Urteils gehindert war (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 2000 – 3 StR 595/99, insoweit in NStZ-RR 2000, 300 nicht abgedruckt; Beschluss vom 15. Dezember 1999 – 5 StR 537/99; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 353 Rn. 15a).

III.

11

Der Freispruch des Angeklagten H.     hat keinen Bestand, weil die Urteilsgründe den Anforderungen des § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO nicht genügen.

12

1. Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen müssen die Urteilsgründe dem Revisionsgericht eine umfassende rechtliche Nachprüfung der freisprechenden Entscheidung ermöglichen (BGH, Urteil vom 26. April 1990 – 4 StR 24/90, BGHSt 37, 21, 22; Urteil vom 26. September 1989 – 1 StR 299/89, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 2). Dazu ist es in der Regel erforderlich, dass die für erwiesen und die nicht für erwiesen erachteten Tatsachen eindeutig bezeichnet werden (BGH, Urteil vom 17. Mai 1990 – 4 StR 208/90, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 4; KK-StPO/Engelhardt, 6. Aufl., § 267 Rn. 41). Hieran fehlt es.

13

In den unter II.1a) der Urteilsgründe getroffenen Feststellungen zum Sachverhalt findet sich keine Aussage darüber, was die Angeklagten vor dem Erreichen der Brückenmitte miteinander gesprochen haben (UA 5). In der sich anschließenden Beweiswürdigung gibt das Landgericht die Tatschilderung des Angeklagten H.     wieder. Danach hat der Angeklagte H.     angegeben, noch vor dem Erreichen der Brückenmitte von dem Angeklagten J.    gefragt worden zu sein, ob er den Eimer werfen solle. Hierauf habe er unüberlegt geantwortet: „Mach doch“. Nachdem er etwa in Höhe der Mitte der Autobahn den Eimer selbst in die Hand genommen und anschließend an J.    zurückgegeben habe, sei er einige Schritte weiter gegangen. Dabei habe er zu J.    gesagt, dass er den Eimer nicht werfen solle (UA 10). Das Landgericht geht davon aus, dass dem Angeklagten H.     diese Einlassung nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit widerlegt werden kann. Eine „Überführung“ allein aufgrund seiner eigenen Angaben sei jedoch nicht möglich, weil der unüberlegten oder aus Spaß getätigten Äußerung „Mach doch“ weder eine Aufforderung zum Wurf des Eimers, noch das Bestärken eines bereits vorhandenen Tatentschlusses hinreichend sicher entnommen werden könne (UA 11). In der rechtlichen Würdigung heißt es dazu, dass „unabhängig vom Inhalt der Äußerung“ nicht davon auszugehen sei, dass der Angeklagte H.     durch die Äußerung bei dem Angeklagten J.    den Entschluss zum Werfen des Eimers hervorgerufen oder einen etwaigen vorhandenen Entschluss bestärkt hat (UA 24 f.). Bei der Erörterung der Frage, ob eine Garantenpflicht aus Ingerenz bestanden hat, bezeichnet es das Landgericht als „nicht ausschließbar“, dass der Angeklagte H. auf die Frage des Angeklagten J.    , ob er den Eimer werfen solle, mit den Worten „Mach doch“ geantwortet hat (UA 25).

14

Diese Ausführungen lassen, ungeachtet der „durchgehenden“ Schilderung des Angeklagten J.   , dass er den Angeklagten H.     vor dem Wurf dahin verstanden habe, dass er den Eimer werfen solle (UA 23), nicht mit der gebotenen Klarheit erkennen, ob die für die Beurteilung der Strafbarkeit des Angeklagten H.     bedeutsame Äußerung „Mach doch“ und die vorangehende Frage des Angeklagten J.   , ob er den Eimer werfen solle, objektiv festgestellt sind. Das Urteil bietet daher in tatsächlicher Hinsicht keine geeignete Grundlage für eine revisionsrechtliche Überprüfung, zumal für eine Anstiftung dolus eventualis ausreicht und nicht erforderlich ist, dass der Anstiftende die Anstiftung ernst meint oder die Kausalität ernstlich gewollt haben muss (BGH, Urteil vom 10. Juni 1998 – 3 StR 113/98, BGHSt 44, 99, 102).

15

2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf das Folgende hin:

16

Sollte der neue Tatrichter zu der Feststellung gelangen, dass der Angeklagte H.     den Angeklagten J.    durch eine entsprechende Äußerung zu dem Eimerwurf aufgefordert oder in seinem Entschluss den Eimer zu werfen bestärkt hat, wird – falls ein dolus eventualis nicht festgestellt werden kann – die Annahme einer Beihilfe durch Unterlassen auf der Grundlage einer Garantenstellung wegen der tatsächlichen Herbeiführung einer Gefahrenlage (Ingerenz) zu erörtern sein. Äußerungen, die objektiv den Tatbestand der Anstiftung (§ 26 StGB) oder der (psychischen) Beihilfe (§ 27 StGB) erfüllen, sind pflichtwidrig und daher grundsätzlich geeignet eine Garantenstellung zu begründen. Von einem sozialüblichen Verhalten kann in diesem Fall allein aufgrund des objektiven Pflichtverstoßes nicht mehr gesprochen werden (vgl. BGH, Urteil vom 6. Mai 1986 – 4 StR 150/86, BGHSt 34, 82, 84).

Mutzbauer                             Roggenbuck                           Cierniak

                      Quentin                                   Reiter