Entscheidungsdatum: 10.09.2015
Zu den Wirkungen einer im Beschlusswege erfolgten, irrtümlichen Entscheidung des Revisionsgerichts über einen bloßen Urteilsentwurf des Tatrichters.
Der Beschluss des Senats vom 24. März 2015, durch den das Urteil des Landgerichts Bochum vom 3. November 2014 auf die Revision des Angeklagten mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen wurde, wird aufgehoben.
Das Verfahren wird fortgesetzt.
Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt und den Verfall von Wertersatz in Höhe von 15.000 € angeordnet. Auf die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts gerügt hatte, hatte der Senat das Urteil insgesamt mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
I.
1. Eine erneute Hauptverhandlung hat bislang nicht stattgefunden. Vielmehr hat die Staatsanwaltschaft dem Senat die Akten durch Vermittlung des Generalbundesanwalts erneut zugeleitet und bittet um (deklaratorische) Aufhebung des Senatsbeschlusses vom 24. März 2015.
Dem liegt Folgendes zugrunde:
Die vom Berichterstatter der Strafkammer des Landgerichts auf der Grundlage der Beratung verfasste, fünfzehn Seiten umfassende und zur Zustellung an die Verfahrensbeteiligten bestimmte Urteilsurkunde wurde von den berufsrichterlichen Mitgliedern der Strafkammer unterschrieben und gelangte am 26. November 2014 und damit rechtzeitig zur Geschäftsstelle. Aus nicht mehr aufklärbaren Gründen verblieb neben dieser Urteilsfassung auch ein lediglich neun Seiten umfassender – nicht handschriftlich unterschriebener – Urteilsentwurf im Protokoll- und Urteilsband der Sachakten. Entgegen der Zustellungsverfügung des Vorsitzenden vom 26. November 2014 wurde dem Verteidiger nicht die fünfzehnseitige Urteilsurkunde, sondern der neunseitige Urteilsentwurf, der als Ausfertigung nicht als Entwurf erkennbar war, zugestellt. Nach Eingang der Revisionsbegründung, mit der der Verteidiger sachlich-rechtliche Fehler des ihm zugestellten „Urteils“ beanstandete, gelangte – aus ebenfalls nicht mehr aufklärbaren Gründen – auch nur die neunseitige Fassung als „beglaubigte Ablichtung“, versehen mit den Unterschriften der mitwirkenden Berufsrichter in Maschinenschrift, zum Senatsheft sowie zu den Handakten des Generalbundesanwalts. Auf dieser Grundlage stellte der Generalbundesanwalt seinen auf § 349 Abs. 4 StPO gestützten Aufhebungsantrag, dem der Senat gefolgt ist.
Eine nachträgliche Überprüfung beim Landgericht ergab ausweislich eines Vermerks des Vorsitzenden der Strafkammer vom 29. April 2015, dass in dem von den Gerichten in Nordrhein-Westfalen benutzten Textverarbeitungssystem „Judica“ lediglich der erwähnte Urteilsentwurf, nicht jedoch die unterschriebene Endfassung des Urteils abgespeichert war, weshalb versehentlich der Urteilsentwurf und nicht das Originalurteil zur Zustellung gelangte und zur Grundlage der Revisionsakten wurde.
2. Der Generalbundesanwalt regt nunmehr an, durch Beschluss des Senats klarzustellen, dass es mit der aufhebenden Entscheidung des Senats in seinem Beschluss vom 24. März 2015 sein Bewenden habe. Zwar sei dieser Beschluss auf einer falschen Tatsachengrundlage ergangen, das mache ihn aber weder unwirksam noch nichtig. Es bedürfe daher einer Aufhebung des Beschlusses durch den Senat. Dafür fehle es indes an einer rechtlichen Grundlage. Da die Staatsanwaltschaft die Aufhebung begehre, seien die §§ 33a und 356a StPO nicht anwendbar. Ein Wiederaufnahmegrund sei ebenso wenig ersichtlich wie ein – ohnehin nur ausnahmsweise, etwa wegen Willkür, in Betracht kommender – übergesetzlicher Aufhebungsgrund.
II.
Der Beschluss des Senats vom 24. März 2015 ist aufzuheben, das Verfahren ist fortzusetzen.
1. a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Entscheidungen des Revisionsgerichts grundsätzlich weder aufgehoben noch abgeändert werden. Das gilt nicht nur für nach § 349 Abs. 2 StPO ergangene Beschlüsse über die Verwerfung der Revision, durch die das Verfahren wie durch ein Verwerfungsurteil (§ 349 Abs. 5 StPO) rechtskräftig abgeschlossen wird (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 1962 – 4 StR 392/61, BGHSt 17, 94, 95, und vom 24. März 2011 – 4 StR 637/10, StraFo 2011, 218; vgl. auch Beschluss vom 4. April 2006 – 5 StR 514/04, wistra 2006, 271 für Entscheidungen nach § 349 Abs. 2 i.V.m. Abs. 4 StPO). Auch ein allein nach § 349 Abs. 4 StPO gefasster Beschluss, mit dem die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an den Tatrichter zurückverwiesen wird und der deshalb lediglich formelle Rechtskraft erlangt, ist regelmäßig nicht abänderbar und kann nicht aufgehoben werden (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 1991 – 5 StR 449/91; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 349 Rn. 34; KK-StPO/Gericke, 7. Aufl., § 349 Rn. 40; LR-StPO/Franke, 26. Aufl., § 349 Rn. 41; einschränkend SSW-StPO/Widmaier/Momsen, 2. Aufl., § 349 Rn. 40 ff. mwN). Das Bedürfnis der Rechtspflege und der Allgemeinheit nach Rechtssicherheit verbietet es auch im Revisionsverfahren, einen Eingriff in die Rechtskraft einer gerichtlichen Sachentscheidung zuzulassen (BGH, Beschluss vom 17. Januar 1962 aaO), es sei denn, die Voraussetzungen der speziell für diesen Verfahrensabschnitt geltenden Ausnahmevorschrift des § 356a StPO wären erfüllt, wonach die Entscheidung des Revisionsgerichts unter Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör zustande gekommen ist (zur Aufhebung von Amts wegen bei versehentlicher Stattgabe des Rechtsmittels des Nebenklägers durch Beschluss vgl. BGH, Beschluss vom 30. März 1994 – 3 StR 628/93; zur Aufhebung eines im Revisionsverfahren gefassten Einstellungsbeschlusses nach § 206a Abs. 1 StPO wegen Täuschung durch den Beschwerdeführer vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2007 – 2 StR 485/06, BGHSt 52, 119, 121 f.).
b) So liegt der Fall hier jedoch nicht. Der Senat hat über das Rechtsmittel des Beschwerdeführers auf der Grundlage eines bloßen Urteilsentwurfs des Landgerichts entschieden und von diesem Umstand erst nach Erlass seiner Entscheidung Kenntnis erlangt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat indes von jeher in Fällen, in denen eine Entscheidung über das Rechtsmittel der Revision lediglich infolge Unregelmäßigkeiten bzw. Versehen oder wegen der Gegebenheiten des gerichtlichen Geschäftsgangs auf unvollständiger oder unzutreffender tatsächlicher Grundlage getroffen wurde und sich dies erst nachträglich herausstellt, das Bedürfnis nach einer Korrektur der getroffenen, formell bzw. materiell rechtskräftigen Entscheidung anerkannt. Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gebieten es in einem solchen Fall, den Widerspruch zwischen der auf einer unzutreffenden Grundlage ergangenen Entscheidung und der abweichenden Tatsachenlage zu beseitigen; der damit verbundene Eingriff in die Rechtskraft wiegt hier weniger schwer. Dies hat die Rechtsprechung etwa in dem Fall der irrtümlichen Annahme der Mitwirkung eines funktionell unzuständigen Urkundsbeamten bei der Anbringung der Revisionsanträge mit der Folge der Verwerfung der Revision nach § 349 Abs. 1 StPO angenommen (vgl. RG, Beschluss vom 13. November 1925 – I 512/25, RGSt 59, 419, 420). Ebenso wird verfahren, wenn die Entscheidung des Revisionsgerichts zu einem Zeitpunkt ergeht, indem das Rechtsmittel bereits wirksam zurückgenommen worden, die Rücknahmeerklärung aber noch nicht zu den Senatsakten gelangt ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. September 1991 – 2 StR 326/91, NStZ 1992, 225; Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 StR 456/96, NStZ 1998, 27, jeweils bei Kusch). Dies gilt auch dann, wenn die Unvollständigkeit der Senatsakten bei der Beschlussfassung nicht auf den zeitlichen Gesetzmäßigkeiten des gerichtlichen Geschäftsgangs nach Eingang der Rücknahmeerklärung beim Landgericht beruht, sondern auf einem Versehen bei der Zusammenstellung des für die Revisionsinstanz bestimmten Aktenkonvoluts (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 StR 456/96, NStZ 1998, 27 bei Kusch; zur Verfahrenseinstellung bei nachträglich bekannt gewordenem Tod des Beschwerdeführers vgl. BGH, Beschluss vom 27. Oktober 2015 – 1 StR 162/15, StraFo 2016, 25).
2. Im vorliegenden Fall hat der Senat über das Rechtsmittel des Angeklagten weder in Verkennung der prozessualen Lage noch aus Rechtsirrtum entschieden, sondern auf einer unzutreffenden tatsächlichen Grundlage, die ihren Grund allein in einer Unregelmäßigkeit im Geschäftsgang des Landgerichts hatte. Denn die dem Senat vorliegende Urteilsfassung, die lediglich einen Entwurf darstellte und die sich – anders als die Endfassung – auch im gerichtlichen Textverarbeitungssystem befand, wurde aus letztlich ungeklärten, im Geschäftsablauf des Landgerichts zu suchenden Gründen – entgegen der Anordnung des Vorsitzenden – dem Verteidiger des Angeklagten zugestellt, zu den Senatsakten genommen und so zur Grundlage der Senatsentscheidung.
3. Der Senat hat daher seinen Beschluss vom 24. März 2015 aufgehoben. Da die Zustellung der neunseitigen Entwurfsfassung des landgerichtlichen Urteils an die Verfahrensbeteiligten die Revisionsbegründungsfrist nicht in Lauf setzen konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 1981 – 4 StR 13/81, StV 1981, 170), ist dem Verfahren nunmehr durch Zustellung der richtigen Fassung Fortgang zu geben.
Sost-Scheible Roggenbuck Cierniak
Franke Quentin