Entscheidungsdatum: 30.06.2015
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 19. Februar 2015 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
a) soweit der Angeklagte im Fall III.4 der Urteilsgründe wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis verurteilt ist;
b) im Gesamtstrafen- und Maßregelausspruch.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis und wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Außerdem hat es die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von fünf Jahren keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Die hiergegen eingelegte Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die (tateinheitliche) Verurteilung wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB im Fall III.4 der Urteilsgründe hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die bisherigen Feststellungen ergeben nicht, dass das Fahrverhalten des Angeklagten zu einer konkreten Gefahr für die bezeichneten Individualrechtsgüter geführt hat. Auch ist nicht erkennbar, dass er zumindest mit bedingtem Schädigungsvorsatz gehandelt hat.
a) Nach den Feststellungen hielt sich der Angeklagte am 16. August 2014 mit einem von ihm Tage zuvor entwendeten Pkw Audi A3 auf dem Parkplatz der Rastanlage H. an der Bundesautobahn A 8 auf. Dort wurde er von einer Zivilstreife der Polizei bemerkt, die sich daraufhin mit ihrem Fahrzeug neben das Fahrzeug des Angeklagten stellte. Der Angeklagte erkannte die Polizeibeamten und wollte sich der befürchteten Kontrolle und Festnahme entziehen. Er fuhr deshalb sogleich in Richtung Autobahn. Die beiden Polizeibeamten folgten mit ihrem Fahrzeug nach und versuchten ihn mittels Leuchtzeichen und Hupen zum Anhalten zu bringen. Zudem verständigten sie über Funk eine weitere uniformierte Polizeistreife, die sich mit ihrem Streifenwagen an der Ausfahrt der Raststätte befand und baten um eine Blockade der Ausfahrt. Die Beamten PHM K. und PK R. blockierten daraufhin mit ihrem Streifenwagen bei eingeschaltetem Blaulicht die Ausfahrspur, indem sie sich quer zur Fahrbahn stellten, sodass ein Durchkommen vor und hinter dem Streifenwagen wegen der dort vorhandenen Leitplanken nicht mehr möglich war. Der Angeklagte beschleunigte sein Fahrzeug auf der mehrere hundert Meter langen Ausfahrspur der Rastanlage auf 100 bis 120 km/h. Obwohl er die Polizeisperre bemerkte, beschleunigte er weiter und fuhr ungebremst auf das Streifenfahrzeug zu, um die Polizeibeamten zur Freigabe der Fahrbahn zu zwingen. Als der PK R. , der zuvor bereits von den verfolgenden Zivilbeamten vor einem Durchbruchsversuch gewarnt worden war, das Fahrzeug des Angeklagten mit hoher Geschwindigkeit ungebremst auf sich zukommen sah, fuhr er den Streifenwagen nach hinten auf eine Sperrfläche und gab den Weg frei. Im Zeitpunkt des Beginns dieses Fahrmanövers war der Angeklagte mit seinem Fahrzeug „weniger als 50 Meter" von dem Streifenfahrzeug entfernt. Er hätte sein Fahrzeug auch mit einer Vollbremsung nicht mehr vor dem Streifenwagen zum Stehen bringen können. Ihm kam es dabei darauf an, den Streifenwagen zum Zurücksetzen zu zwingen. Ohne dieses Rückfahrmanöver wäre es zu einem Zusammenstoß mit Lebensgefahr für die Fahrzeuginsassen gekommen. Der Angeklagte verfügte nicht über die erforderliche Fahrerlaubnis.
b) Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 StGB liegt erst dann vor, wenn durch eine der in § 315b Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StGB genannten Tathandlungen eine Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs herbeigeführt worden ist und sich diese abstrakte Gefahrenlage zu einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert verdichtet hat (vgl. BGH, Beschluss vom 9. September 2014 - 4 StR 251/14, NStZ 2015, 278; Beschluss vom 18. Juni 2013 - 4 StR 145/13, Urteil vom 4. Dezember 2002 - 4 StR 103/02, BGHSt 48, 119, 122; Ernemann in SSW-StGB, 2. Aufl., § 315b Rn. 5, 16). Dies ist der Fall, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der - was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist - die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing (sog. Beinahe-Unfall), ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2012 - 4 StR 435/12, NStZ 2013, 167; Urteil vom 30. März 1995 - 4 StR 725/95, NJW 1995, 3131, jeweils zu § 315c StGB; Ernemann in SSW-StGB, 2. Aufl., § 315b Rn. 16). Bei Vorgängen im fließenden Verkehr muss zu einem bewusst zweckwidrigen Einsatz eines Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Absicht ferner hinzukommen, dass das Fahrzeug mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz missbraucht wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 5. November 2013 - 4 StR 454/13, NStZ 2014, 86; Urteil vom 20. Februar 2003 - 4 StR 228/02, BGHSt 48, 233, 237 f.). Beides ist nicht hinreichend belegt.
Dass das Fahrverhalten des Angeklagten zu einer konkreten Gefahr in dem dargestellten Sinne geführt hat, lässt sich den Feststellungen nicht entnehmen. Als der Polizeibeamte PK R. die Rückwärtsfahrt einleitete, war der Angeklagte mit seinem Fahrzeug noch „weniger als 50 Meter" entfernt. Diese nur sehr vage Beschreibung der Entfernungsverhältnisse lässt keinen sicheren Schluss auf ein Geschehen zu, das als ein „Beinahe-Unfall" erfasst werden könnte. Feststellungen zu den räumlichen Verhältnissen an der Stelle, an der der Angeklagte das zurückgesetzte Polizeifahrzeug mit hoher Geschwindigkeit passierte (Abstände zwischen den Fahrzeugen, zur Verfügung stehender Raum für die Durchfahrt in Richtung Autobahn), fehlen. Soweit das Landgericht an anderer Stelle (im Rahmen der Ausführungen zu § 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 StGB) darauf abhebt, es habe „die konkrete Gefahr" bestanden, dass der Polizeibeamte einen Fahrfehler macht (UA 14), fehlt dafür jeder Beleg. Dies gilt umso mehr als PK R. - ein ausgebildeter Polizeibeamter - durch den Hinweis seiner Kollegen vorgewarnt war.
Einen zumindest bedingten Schädigungsvorsatz hat das Landgericht nicht festgestellt. In der rechtlichen Würdigung ist lediglich davon die Rede, dass der Angeklagte die Gefahr für die beiden Polizeibeamten durch seinen Eingriff auch vorsätzlich herbeigeführt habe (UA 14). In der Beweiswürdigung führt das Landgericht dazu aus, dass es dem Angeklagten darauf angekommen sei, die Durchfahrt in Kenntnis der Blockade zu erzwingen und er dementsprechend damit gerechnet habe, dass durch sein bedingungsloses Fahrverhalten das Polizeifahrzeug den Weg freigibt (UA 12).
2. Die Aufhebung der Verurteilung wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB zieht die Aufhebung der tateinheitlichen Verurteilungen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 StGB und wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) nach sich. Dadurch verlieren auch der Gesamtstrafen- und der Maßregelausspruch ihre Grundlage.
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf das Folgende hin:
Bei einer wiederum erfolgenden Verurteilung wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 StGB (Gewalt durch Zufahren auf die Polizeibeamten; vgl. dazu BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 497/12, NStZ 2013, 336, 337), wird auch das Regelbeispiel des § 113 Abs. 2 Nr. 1 StGB erneut zu prüfen sein. Ein Kfz kann zwar nicht als „Waffe" im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden (vgl. BVerfG, NJW 2008, 3627, 3629). Es kommt aber - nicht anders als in den Fällen der § 244 Abs. 1 Nr. 1, § 250 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 2 Nr. 1 StGB - als „gefährliches Werkzeug" in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 30. Mai 2000 - 4 StR 90/00, NStZ 2000, 530 zu § 252, § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB). Das Regelbeispiel des § 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 StGB setzt eine bedingt vorsätzlich herbeigeführte konkrete Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsbeschädigung voraus, die durch eine Gewalttätigkeit (vgl. dazu BGH, Urteil vom 20. Juli 1995 - 1 StR 126/95, NJW 1995, 2643, 2645 zu § 125 Abs. 1 Nr. 1 StGB) herbeigeführt worden sein muss. Als eine solche Gewalttätigkeit kann zwar auch das schnelle Zufahren auf eine Person in Betracht kommen (vgl. Fahl in SSW-StGB, 2. Aufl., § 113 Rn. 17; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 113 Rn. 39; Eser in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 113 Rn. 67; Bosch in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 113 Rn. 76). Die konkrete Gefahr muss aber - anders als bisher geschehen - mit bestimmten Tatsachen belegt werden, wobei die oben zu § 315b StGB gemachten Ausführungen einen Anhalt bieten.
Sost-Scheible Cierniak Franke
Bender Quentin