Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 10.03.2016


BVerwG 10.03.2016 - 4 B 7/16

Offensichtlicher Mangel im raumplanerischen Abwägungsvorgang bei (zwischenzeitlicher) Ausdifferenzierung der Rechtsprechung


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsdatum:
10.03.2016
Aktenzeichen:
4 B 7/16
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2016:100316B4B7.16.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 18. November 2015, Az: 2 L 1/13, Urteilvorgehend VG Magdeburg, 30. Oktober 2012, Az: 2 A 140/12, Urteil
Zitierte Gesetze

Gründe

1

Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Sie ist jedenfalls unbegründet.

2

1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.

3

Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), also näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine bestimmte Rechtsfrage des Bundesrechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr, BVerwG, Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91> und vom 9. April 2014 - 4 BN 3.14 - ZfBR 2014, 479 Rn. 2).

4

a) Die Beschwerde hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,

ob bei der Beurteilung der Offensichtlichkeit eines Mangels im Sinne des § 12 Abs. 3 Satz 2 ROG auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Regionalplan und die damaligen Rechtserkenntnisse abzustellen ist und nachträgliche abweichende Rechtsgrundsätze nicht für die Beurteilung der Offensichtlichkeit sozusagen "rückwirkend" herangezogen werden dürfen, sowie,

ob ein Prozess fortschreitender Rechtserkenntnis zur nachträglichen Annahme eines im Zeitpunkt des abschließenden Feststellungsbeschlusses nicht offensichtlichen Mangels führen kann, während eine nachträgliche Änderung der Rechtslage nach § 28 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 i.V.m. § 12 Abs. 3 Satz 1 ROG unbeachtlich ist.

5

Es mag offen bleiben, ob die Beschwerde den Darlegungsanforderungen genügt. Sie möchte, anknüpfend an die Ausführungen auf S. 28 des Urteils in der Sache geklärt wissen, ob das Fehlen einer hinreichenden Differenzierung zwischen harten und weichen Tabuzonen offensichtlich im Sinne des § 12 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 28 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 ROG sein kann, obwohl die Rechtsprechung die Anforderungen an die Ermittlung harter und weicher Tabuzonen erst nach der Beschlussfassung über den Regionalen Entwicklungsplan für die Planungsregion Magdeburg im Mai 2006 ausformuliert hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. September 2009 - 4 BN 25.09 - BRS 74 Nr. 112 = juris Rn. 8; Urteile vom 13. Dezember 2012 - 4 CN 1.11 - BVerwGE 145, 231 Rn. 11 ff. und vom 11. April 2013 - 4 CN 2.12 - Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 391 Rn. 6 ff.).

6

Es bedarf indes keiner Klärung in einem Revisionsverfahren, dass ein Mangel im Abwägungsvorgang auch in einem solchen Fall offensichtlich sein kann. Offensichtlich ist ein Mangel, wenn er auf objektiv feststellbaren Umständen beruht und ohne Ausforschung der Entscheidungsträger über deren Planungsvorstellungen für den Rechtsanwender erkennbar ist (BVerwG, Urteil vom 11. April 2013 - 4 CN 2.12 - Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 391 Rn. 9). Der Begriff der "Offensichtlichkeit" wird also nach seinem Inhalt nicht ausgeschöpft, wenn er im Sinne einer "leichten Erkennbarkeit" verstanden wird. Der Begriff des offensichtlichen Mangels im Abwägungsvorgang unterscheidet vielmehr Mängel der "äußeren" Seite des Abwägungsvorgangs von Mängeln der "inneren" Seite dieses Vorgangs und kann auch äußere Umstände umfassen, die erst durch Beweiserhebung aufzuklären sind (BVerwG, Urteil vom 21. August 1981 - 4 C 57.80 - BVerwGE 64, 33 <36, 38>). Gemessen hieran kann das Verfehlen der Anforderungen einer sich ausdifferenzierenden Rechtsprechung an den Abwägungsvorgang ein offensichtlicher Mangel sein. Hiervon ist der Senat schon bisher ausgegangen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. April 2013 - 4 CN 2.12 - Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 391 Rn. 9 zu einem im Jahr 2008 beschlossenen Regionalplan).

7

Aus § 12 Abs. 3 Satz 1 ROG i.V.m. § 28 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 ROG folgt nichts Anderes. Die Beschwerde macht nicht geltend, Entwicklungen der Rechtsprechung zum Abwägungsvorgang seien eine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 12 Abs. 3 Satz 1 ROG (vgl. zu der gleich gelagerten Frage bei § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG s. BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2004 - 6 C 24.03 - BVerwGE 121, 226 <228 f.> und Urteile vom 22. Oktober 2009 - 1 C 15.08 - BVerwGE 135, 121 Rn. 21 und vom 22. Oktober 2009 - 1 C 26.08 - BVerwGE 135, 137 Rn. 16). Solche Entwicklungen sind auch nicht wie eine Änderung der Rechtslage zu behandeln. Denn gerichtliche Entscheidungsfindung ist stets die rechtliche Würdigung eines Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung (BVerwG, Urteil vom 27. Januar 1994 - 2 C 12.92 - BVerwGE 95, 86 <89>). Hinzu kommt, dass vorliegend keine Änderung der Rechtsprechung in Rede steht, sondern eine Ausdifferenzierung, die mit den Begriffen "harte" und "weiche" Tabuzonen an die im Planungsrecht schon zuvor geläufige Unterscheidung zwischen zwingenden Anforderungen an die Planung und dem der Abwägung zugänglichen Bereich angeknüpft hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 - 4 CN 1.11 - BVerwGE 145, 231 Rn. 12).

8

b) Zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung führen auch nicht die Fragen,

ob ein Fehler im Abwägungsvorgang auch dann offensichtlich sein kann, wenn er in einer rechtlichen Prüfung des Plans durch ein mit drei Richtern besetztes Tatsachengericht nicht erkannt worden ist, sowie

ob ein Fehler im Abwägungsvorgang auch dann offensichtlich sein kann, wenn er in einer rechtlichen Prüfung des Plans durch ein mit jeweils drei Richtern besetztes Berufungs- und Revisionsgericht nicht erkannt worden ist, obwohl die Rechtslage als auch die damals angewendeten Grundsätze sich nicht nachträglich geändert haben.

9

Auch diese Fragen bedürfen keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Sie sind aus den bereits dargelegten Gründen zu bejahen: Ein Mangel kann auch dann auf objektiv feststellbaren Gründen beruhen und ohne Ausforschung der Entscheidungsträger über deren Planungsvorstellungen erkennbar sein, wenn er in früheren gerichtlichen Verfahren oder vorangegangenen Instanzen nicht erkannt worden ist.

10

Dass es an der Offensichtlichkeit eines Fehlers im Abwägungsvorgang im Sinne des § 12 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 28 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 ROG nicht schon dann fehlt, wenn ein Tatsachengericht als Eingangs- oder Berufungsgericht mit drei Berufsrichtern einen solchen Fehler nicht erkannt hat, folgt auch aus der Aufgabe der Rechtsmittelgerichte (§ 128 Satz 1 VwGO, § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Diese wären an der Aufgabe der Rechtskontrolle gehindert, wenn ein Fehler im Abwägungsvorgang, den die Vorinstanz nicht erkannt hat, stets mangels Offensichtlichkeit unerheblich im Sinne des § 12 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 28 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 ROG wäre, so dass die vorangegangene Entscheidung sich jedenfalls im Ergebnis als richtig erweisen müsste. Soweit die Fragestellung auf ein Revisionsgericht gemünzt ist, wirft der Fall sie nicht auf. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich zu den hier aufgerufenen Fragen des Abwägungsvorgangs bei dem in Rede stehenden Regionalplan noch nicht geäußert, diese waren insbesondere nicht Gegenstand des Verfahrens um die Nichtzulassung der Revision zum Aktenzeichen 4 BN 65.09.

11

2. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen.

12

Zur Darlegung des Zulassungsgrundes der Divergenz ist gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderlich, dass die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten, ebensolchen die Entscheidung tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14).

13

a) Das angegriffene Urteil weicht nicht in diesem Sinn von dem Senatsbeschluss vom 29. März 2010 - 4 BN 65.09 - (BRS 76 Nr. 104) ab. Die von der Beschwerde wörtlich wiedergegebene Passage des Beschlusses äußert sich zu der Frage, ob sich die Grenze zu einer Verhinderungsplanung, welche der Nutzung der Windenergie nicht mehr in substantieller Weise Raum verschafft, abstrakt und typisierend beantworten lässt. Das angegriffene Urteil weicht von den angeführten Rechtssätzen nicht ab. Denn es stützt die Unwirksamkeit des Regionalplans Magdeburg nicht auf die Annahme einer im Abwägungsergebnis fehlerhafte Verhinderungsplanung, sondern auf einen Fehler im Abwägungsvorgang, weil es an einer hinreichenden Differenzierung zwischen harten und weichen Tabuzonen fehle (UA S. 21).

14

Dass der Senatsbeschluss vom 29. März 2010 - 4 BN 65.09 - (BRS 76 Nr. 104) denselben Regionalplan betraf wie das vorliegende Urteil, führt nicht zu einer Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO. Die Beschwerde übersieht, dass das Bundesverwaltungsgericht in einem Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde, wie es zu dem Beschluss vom 29. März 2010 - a.a.O. - geführt hat, auf die Prüfung der von der Beschwerde angeführten Zulassungsgründe beschränkt ist und die jeweils angegriffene Entscheidung nicht in vollem Umfang einer revisionsrechtlichen Kontrolle unterwirft (BVerwG, Beschlüsse vom 30. Januar 1985 - 9 B 10679/83 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 229 und vom 11. September 1990 - 1 CB 6.90 - NJW 1990, 3102).

15

b) Die Beschwerde legt auch keine Divergenz zu dem Senatsbeschluss vom 9. November 1979 - 4 N 1.78 u.a. - (BVerwGE 59, 87) dar. Die Entscheidung äußert sich zum Begriff des Nachteils im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO in der Fassung vor dem 6. VwGO-Änderungsgesetz vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626). Diese Norm spielt im angegriffenen Urteil keine Rolle.

16

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.