Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 16.07.2018


BVerwG 16.07.2018 - 4 B 51/17

Kriterien für die Abgrenzung der näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsdatum:
16.07.2018
Aktenzeichen:
4 B 51/17
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2018:160718B4B51.17.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 24. Mai 2017, Az: 10 A 942/15, Urteilvorgehend VG Düsseldorf, 16. März 2015, Az: 11 K 6635/13
Zitierte Gesetze

Leitsätze

1. Baulichkeiten können auch dann die Eigenart der näheren Umgebung prägen, wenn sie nicht imstande sind, einen im Zusammenhang bebauten Ortsteil zu bilden (BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2016 - 4 C 7.15 - BVerwGE 157, 1 LS 1 und Rn. 13). Ein allgemeiner Rechtssatz des Inhalts, dass die Kriterien zur Abgrenzung des Innen- und Außenbereichs generell auf die Abgrenzung der näheren Umgebung sinngemäß übertragbar seien, steht mit dieser Rechtsprechung nicht im Einklang.

2. Ein bebautes Grundstück kann auch dann zum Bebauungszusammenhang eines Ortsteils gehören, wenn die Bebauung nicht zur maßstabsbildenden näheren Umgebung des betreffenden Grundstücks zählt.

Gründe

1

Die auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

2

1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die ihr die Beschwerde beimisst.

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a) Nach Auffassung der Beschwerde kann ein Revisionsverfahren zur weiteren Klärung der Kriterien beitragen, anhand derer zu beurteilen ist, welche vorhandene Bebauung bei der Beantwortung der Frage, ob ein Vorhabengrundstück einem im Zusammenhang bebauten Ortsteil im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB angehört, maßstabsbildend ist. "Konkreter formuliert" wirft die Beschwerde die Frage auf,

ob die völlige Andersartigkeit der Bebauung innerhalb eines Ortsteils ein bei der Frage der Zuordnung eines angrenzenden bebauten Grundstücks zum Bebauungszusammenhang des Ortsteils zu berücksichtigendes Kriterium ist,

m.a.W., ob ein bebautes Grundstück zum Bebauungszusammenhang eines Ortsteils gehören kann, wenn die Bebauung des Ortsteils nicht zur maßstabsbildenden näheren Umgebung des betreffenden Grundstücks zählt,

oder verallgemeinernd, ob die zur Abgrenzung der näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB entwickelten Kriterien auf die für die Bestimmung des Bebauungszusammenhangs erforderliche wertende und bewertende Betrachtung der konkreten tatsächlichen Verhältnisse übertragen werden können.

4

Nach Auffassung der Beschwerde ist der Bebauungszusammenhang vorliegend wegen der völlig andersartigen Bebauung auf dem an das Gewerbegebiet angrenzenden Grundstück zu verneinen. Die Beschwerde verweist auf den Beschluss des Senats vom 20. August 1998 - 4 B 79.98 - (Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 191), wonach die Kriterien zur Abgrenzung des Innen- und Außenbereichs auf die Abgrenzung der näheren Umgebung im Sinne von § 34 BauGB sinngemäß übertragen werden könnten. Geklärt sei ferner, dass bei der Beurteilung der Reichweite der näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB die Unterschiedlichkeit der Bebauung eine Rolle spielen könne. Noch nicht entschieden worden sei die Frage, ob die Kriterien, anhand derer die nähere Umgebung im Sinne von § 34 BauGB abgegrenzt werde, auch zur Abgrenzung des Innen- und Außenbereichs herangezogen werden könnten, mithin ob die Einheitlichkeit einer Bebauung innerhalb des Ortsteils bewirken könne, dass eine angrenzende völlig andersartige Bebauung nicht zum Bebauungszusammenhang des Ortsteils gehöre. Rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde damit nicht auf.

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Anlass zu einer einschränkenden Klarstellung gibt die den Fragen vorangestellte Annahme der Beschwerde, dass die zur Abgrenzung des Innen- und Außenbereichs entwickelten Kriterien auf die Abgrenzung der näheren Umgebung im Sinne von § 34 BauGB sinngemäß übertragen werden könnten. In dieser Allgemeinheit findet diese Annahme in dem von der Beschwerde als Beleg angeführten Beschluss des Senats vom 20. August 1998 (a.a.O.) keine Stütze. Gegenstand dieser Entscheidung war der die Gebietserhaltung betreffende Nachbarschutz, der durch die wechselseitige Prägung der benachbarten Grundstücke begrenzt ist. Wie weit die wechselseitige Prägung reicht, sei - so der Senat - eine Frage des jeweiligen Einzelfalls. Dabei könnten auch die topographischen Gegebenheiten eine Rolle spielen. Für die Abgrenzung des Innen- und Außenbereichs sei dies wiederholt entschieden worden (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. November 1968 - 4 C 2.66 - BVerwGE 31, 20; Beschluss vom 27. Mai 1988 - 4 B 71.88 - Buchholz 406.11 § 34 BBauG/BauGB Nr. 127; Urteil vom 15. Mai 1997 - 4 C 23.95 - Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 329). Diese Rechtsprechung könne auf die Abgrenzung der näheren Umgebung im Sinne von § 34 BauGB sinngemäß übertragen werden. Nur hinsichtlich der topographischen Gegebenheiten und nur im Kontext des Gebietserhaltungsanspruchs des Nachbarn hat der Senat mithin eine "sinngemäße" Übertragung der Rechtsprechung für möglich gehalten. Ein allgemeiner Rechtssatz des Inhalts, dass die Kriterien zur Abgrenzung des Innen- und Außenbereichs generell auf die Abgrenzung der näheren Umgebung übertragbar seien, ist in dem Beschluss nicht formuliert worden.

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Ein generalisierender Rechtssatz, wie ihn die Beschwerde unterstellt, wäre auch mit den unterschiedlichen Kriterien für die Abgrenzung von Innen- und Außenbereich einerseits und der für das Einfügen maßgeblichen näheren Umgebung andererseits nicht in Einklang zu bringen: Einen Bebauungszusammenhang können nur Bauwerke selbst herstellen oder zu seiner Entwicklung beitragen, die optisch wahrnehmbar sind und ein gewisses Gewicht haben, so dass sie geeignet sind, ein Gebiet als einen Ortsteil mit einem bestimmten Charakter zu prägen (BVerwG, Urteile vom 14. September 1992 - 4 C 15.90 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 152 S. 67 und vom 30. Juni 2015 - 4 C 5.14 - BVerwGE 152, 275 Rn. 15). Im Unterschied dazu ist für die Beurteilung der Eigenart der näheren Umgebung alles an Bebauung in den Blick zu nehmen, was tatsächlich vorhanden ist und nach außen wahrnehmbar in Erscheinung tritt (BVerwG, Urteil vom 23. März 1994 - 4 C 18.92 - BVerwGE 95, 277 <279>); außer Acht gelassen werden darf lediglich, was die Bebauung nicht prägt, weil es nicht die Kraft hat, die Eigenart der näheren Umgebung zu beeinflussen, oder in ihr gar als Fremdkörper erscheint (BVerwG, Urteil vom 15. Februar 1990 - 4 C 23.86 - BVerwGE 84, 322 <325>). Anknüpfend an diese Unterschiede hat der Senat in seinem Urteil vom 8. Dezember 2016 - 4 C 7.15 - (BVerwGE 157, 1 LS 1 und Rn. 13) gefolgert, dass Baulichkeiten auch dann die Eigenart der näheren Umgebung prägen können, wenn sie nicht imstande sind, einen im Zusammenhang bebauten Ortsteil zu bilden. Andererseits reicht der die nähere Umgebung bildende Bereich - innerhalb des im Zusammenhang bebauten Ortsteils - nur so weit, wie sich die Ausführung des zur Genehmigung gestellten Vorhabens auswirken kann und wie die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (grundlegend BVerwG, Urteil vom 26. Mai 1978 - 4 C 9.77 - BVerwGE 55, 369 <380>).

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Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob die zur Abgrenzung der näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB entwickelten Kriterien - umgekehrt - auch auf die für die Bestimmung des Bebauungszusammenhangs erforderliche wertende und bewertende Betrachtung der konkreten tatsächlichen Verhältnisse übertragen werden können, ist nicht klärungsbedürftig. Der Senat hat die Frage bereits im Sinne des Oberverwaltungsgerichts beantwortet: Ein Bebauungszusammenhang im Sinne von § 34 BauGB ist nach ständiger Rechtsprechung (vgl. bereits BVerwG, Urteile vom 6. November 1968 - 4 C 2.66 - BVerwGE 31, 20 <21 f.> und vom 1. Dezember 1972 - 4 C 6.71 - BVerwGE 41, 227 <234>) gegeben, soweit die aufeinanderfolgende Bebauung trotz vorhandener Baulücken den Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit vermittelt. Geklärt ist ferner, dass die Merkmale der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit nicht im Sinne eines harmonischen Ganzen, eines sich als einheitlich darstellenden Gesamtbildes der Bebauung zu verstehen sind (BVerwG, Urteil vom 19. September 1986 - 4 C 15.84 - BVerwGE 75, 34 <36 ff.> und LS 1). Wenn eine aufeinanderfolgende Bebauung vorhanden ist, deren einzelne Bestandteile im Sinne der Rechtsprechung des Senats (BVerwG, Urteile vom 14. September 1992 - 4 C 15.90 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 152 S. 67 und vom 30. Juni 2015 - 4 C 5.14 - BVerwGE 152, 275 Rn. 15) optisch wahrnehmbar sind und ein gewisses Gewicht haben, so dass sie - jeweils für sich genommen - geeignet sind, ein Gebiet als einen Ortsteil mit einem bestimmten Charakter zu prägen, so ist dies der Bebauungszusammenhang, auch wenn die aufeinander folgende Bebauung in sich noch so unterschiedlich ist. Eine sich in den Bebauungszusammenhang in keiner Weise einpassende Bebauung eines einzelnen Grundstücks mag allenfalls ein "Fremdkörper" sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 1974 - 4 C 77.73 - Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 45 S. 114) und folglich die "Eigenart der näheren Umgebung" nicht im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB als Maßstab prägen. Eine Unterbrechung des Bebauungszusammenhangs bewirkt sie nicht (BVerwG, Urteil vom 19. September 1986 - 4 C 15.84 - BVerwGE 75, 34 <36 ff.> und LS 1). Bereits auf der Grundlage vorhandener Rechtsprechung ist deshalb auf die Frage der Beschwerde zu antworten, dass ein bebautes Grundstück auch dann zum Bebauungszusammenhang eines Ortsteils gehören kann, wenn die Bebauung nicht zur maßstabsbildenden näheren Umgebung des betreffenden Grundstücks zählt.

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Auf diese Rechtsprechung hat sich das Oberverwaltungsgericht gestützt und angenommen, dass die Zugehörigkeit der mit Wohnhäusern bebauten Grundstücke südwestlich des festgesetzten Gewerbegebiets zu diesem Ortsteil nicht etwa deshalb in Frage stehe, weil sich diese Bebauung nach Art und Maß von der Bebauung im Gewerbegebiet unterscheide. Ob diese Annahme zutrifft, ist eine Frage der Sachverhaltsermittlung und der Rechtsanwendung im Einzelfall und ließe sich in einem Revisionsverfahren nicht rechtsgrundsätzlich klären (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 10. Januar 1994 - 4 B 158.93 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 163).

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2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen der geltend gemachten Abweichung von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen.

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Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14).

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Die Beschwerde macht geltend, die angegriffene Entscheidung weiche vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juni 2015 - 4 C 5.14 - (BVerwGE 152, 275) ab und beruhe auf dieser Abweichung. Das Oberverwaltungsgericht (UA S. 10) habe seiner Entscheidung den Rechtssatz zugrunde gelegt, dass mögliche Bestandteile eines Bebauungszusammenhangs (unter anderem) bebaute Grundstücke seien; die weiteren Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts belegten, dass es davon ausgehe, dass jedes mit einem "Hauptgebäude" bebaute Grundstück, das unmittelbar an einen als Ortsteil zu qualifizierenden Bebauungskomplex angrenze, zum Bebauungszusammenhang dieses Ortsteils gehöre. Das sei mit den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts unvereinbar, wonach mögliche Bestandteile eines Bebauungszusammenhangs bebaute Grundstücke seien, soweit die darauf befindliche Bebauung geeignet sei, den Bebauungszusammenhang selbst herzustellen oder an seiner Entstehung mitzuwirken. Hieraus folge unmittelbar, dass nicht jedwedes mit einem Hauptgebäude bebaute Grundstück, das unmittelbar an einen Ortsteil angrenze, Bestandteil des Bebauungszusammenhangs dieses Ortsteils sei, sondern nur dann, wenn die darauf befindliche Bebauung geeignet sei, den Bebauungszusammenhang selbst herzustellen oder an seiner Entstehung mitzuwirken. Das Oberverwaltungsgericht hätte demgemäß prüfen müssen, ob diese Voraussetzung hier wegen der völlig andersartigen Bebauung auf dem an das Gewerbegebiet angrenzenden Grundstück zu verneinen sei.

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Eine die Zulassung der Revision begründende Divergenz ist damit nicht dargetan. Das Oberverwaltungsgericht hat sich der Sache nach den im Urteil des Senats vom 30. Juni 2015 (a.a.O.) formulierten Rechtssatz zu eigen gemacht, dass den Bebauungszusammenhang ausschließlich Bauwerke bildeten, die optisch wahrnehmbar sind und ein gewisses Gewicht haben, so dass sie geeignet sind, ein Gebiet als einen Ortsteil mit einem bestimmten Charakter zu prägen. Soweit die Beschwerde eine Prüfung vermisst, ob die Eignung des an das Gewerbegebiet angrenzenden Grundstücks, den Bebauungszusammenhang selbst herzustellen oder an seiner Entstehung mitzuwirken, wegen der völlig andersartigen Bebauung zu verneinen sei, verkennt sie, dass ein bebautes Grundstück auch dann zum Bebauungszusammenhang eines Ortsteils gehören kann, wenn die aufeinander folgende Bebauung in sich noch so unterschiedlich ist und - etwa als Fremdkörper - nicht zur maßstabsbildenden näheren Umgebung des betreffenden Grundstücks zählt. Abweichendes ergibt sich auch nicht aus dem Senatsurteil vom 30. Juni 2015 - 4 C 5.14 - (BVerwGE 152, 275 Rn. 13).

13

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.