Entscheidungsdatum: 21.06.2017
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung der Klägerin aus mehreren Gründen zurückgewiesen. Ihre Anfechtungsklage sei bereits unzulässig, denn sie verfüge nicht über die nach § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis. Dass die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung Rechte der Klägerin verletzte, sei offensichtlich ausgeschlossen (UA Rn. 30 - 39). Die Klage sei auch unbegründet. Die Baugenehmigung, die die Silos auf dem Hofgrundstück nicht umfasse, sondern sich nur auf die neu zu errichtende Biogasanlage beziehe, verstoße nicht gegen das in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB enthaltene Rücksichtnahmegebot, denn die von der Anlage auf das Wohnhaus der Klägerin einwirkenden Immissionen würden das Irrelevanzkriterium von 2 % nach Nr. 3.3 der GIRL 2008 mit 0,4 % weit unterschreiten (UA Rn. 43 - 46). Aber selbst wenn die Fahrsilos auf dem Hofgrundstück zu berücksichtigen seien, würden durch die Baugenehmigung Rechte der Klägerin nicht verletzt. Auch dann seien die Immissionen noch nicht i.S.v. Nr. 3.3 der GIRL 2008 relevant, denn die Zusatzbelastung für die Klägerin sei in diesem Fall mit rund 1,8 % anzusetzen (UA Rn. 47 - 52).
Ist die vorinstanzliche Entscheidung - wie hier - auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt, so kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Revisionszulassungsgrund aufgezeigt wird und vorliegt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 10. Dezember 2015 - 4 B 53.15 - Rn. 2 m.w.N.). Denn ist nur bezüglich einer Begründung ein Zulassungsgrund gegeben, dann kann diese Begründung hinweggedacht werden, ohne dass sich der Ausgang des Verfahrens ändert (BVerwG, Beschluss vom 9. September 2009 - 4 BN 4.09 - ZfBR 2010, 67 = juris Rn. 5). Daran fehlt es hier. Jedenfalls in Bezug auf die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, Rechte der Klägerin würden durch die Baugenehmigung nicht verletzt, weil die Fahrsilos nicht mitgenehmigt seien und sie deshalb in Bezug auf die zusätzliche Geruchsbelastung unberücksichtigt bleiben müssten, liegt kein Zulassungsgrund vor. Die von der Klägerin insofern geltend gemachten Verfahrensfehler sind nicht schlüssig dargetan.
1. Ohne Erfolg macht die Beschwerde zunächst geltend, der Verwaltungsgerichtshof habe seine richterliche Hinweispflicht (§ 86 Abs. 3 VwGO) verletzt und eine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen.
Die Hinweispflicht konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (BVerwG, Urteil vom 11. November 1970 - 6 C 49.68 - BVerwGE 36, 264 <266 f.>; Beschluss vom 4. Juli 2007 - 7 B 18.07 - juris Rn. 5). Folglich ist ein die § 108 Abs. 2, § 104 Abs. 1 und § 86 Abs. 3 VwGO verletzendes Überraschungsurteil dann gegeben, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (BVerwG, Urteil vom 19. Juli 1985 - 4 C 62.82 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 170). Ansonsten besteht im Grundsatz keine Pflicht des Gerichts, den Beteiligten seine Auffassung jeweils vor dem Ergehen einer Entscheidung zu offenbaren (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 5. November 1986 - 1 BvR 706/85 - BVerfGE 74, 1 <5>). Ein Gericht muss die Beteiligten mithin grundsätzlich nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 8. August 1994 - 6 B 87.93 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 335 = juris Rn. 5, vom 26. Juni 1998 - 4 B 19.98 - juris Rn. 5, vom 28. Dezember 1999 - 9 B 467.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 51 = juris Rn. 2, vom 13. März 2003 - 5 B 253.02 - juris Rn. 17, vom 29. Januar 2010 - 5 B 21.09 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 61 = juris Rn. 18 und vom 26. Februar 2013 - 4 B 53.12 - juris Rn. 4).
Die Klägerin macht geltend, das Berufungsgericht sei fehlerhaft und mit einer nicht tragfähigen Argumentation davon ausgegangen, dass die Fahrsilos auf dem Grundstück des Beigeladenen nicht Gegenstand der angefochtenen Baugenehmigung und daher nicht zu berücksichtigen seien. Diese im Urteil geäußerte Rechtsmeinung sei völlig überraschend gewesen und stehe im direkten Widerspruch zu den Hinweisen des früher für das Verfahren zuständigen 15. Senats des Verwaltungsgerichtshofs sowie mit dessen Rechtsprechung. Die im Protokoll über die mündliche Verhandlung festgehaltene Äußerung des Gerichts zu den Fahrsilos genüge zur Erfüllung der gerichtlichen Hinweispflicht nicht. Einen Verfahrensfehler zeigt die Beschwerde damit nicht auf.
Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 2016 (S. 3) hat der Vorsitzende nicht nur darauf hingewiesen, dass die Fahrsilos in der Baugenehmigung vom 5. Oktober 2005 nicht "auftauchen", sondern auch darauf, dass diese nur in der Betriebsbeschreibung als Bestand erwähnt würden. Aus diesem Hinweis ergibt sich hinreichend deutlich, dass das Berufungsgericht die Fahrsilos als nicht mitgenehmigt und damit für die durch das Vorhaben ausgelöste zusätzliche Immissionsbelastung des Wohnhauses der Klägerin als irrelevant ansehen könnte; das genügt den Anforderungen nach § 104 Abs. 1 und § 86 Abs. 3 VwGO. Die entsprechende Annahme im Urteil war folglich nicht überraschend i.S.d. dargestellten Maßstäbe.
Auch aus den (diversen) Hinweisschreiben des Berichterstatters des früher zuständigen 15. Senats des Verwaltungsgerichtshofs, die u.a. auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 29. März 2004 - 15 CS 03.2891 - (juris) rekurrierten, folgt nichts anderes. Denn das Verbot, eine Überraschungsentscheidung zu erlassen, schützt keinen Beteiligten davor, dass sich ein Gericht auf der Grundlage weiterer Ermittlung des Sachverhalts und der Erörterung der Rechtslage von einer vom Berichterstatter nur vorläufig gefassten Einschätzung löst und im Ergebnis zu Ungunsten eines Beteiligten entscheidet, der zuvor eine für ihn günstigere Entscheidung erhofft hatte (BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2004 - 10 C 2.04 - NVwZ 2005, 828 = juris Rn. 16; Beschlüsse vom 23. Dezember 1991 - 5 B 80.91 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 241 und vom 5. Dezember 2001 - 4 B 82.01 - juris Rn. 6).
Soweit die Klägerin in der Beurteilung der Lagerkapazitäten der Silos durch das Berufungsgericht (UA Rn. 50) eine Überraschungsentscheidung erblickt, ist die Rüge schon deshalb unbegründet, weil die von ihr wiedergegebene Textpassage sich auf den dritten Begründungsstrang bezieht, der mit Rn. 47 des Urteilsabdrucks beginnt.
2. Die Klägerin zeigt auch nicht auf, dass der Verwaltungsgerichtshof seiner Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 86 Abs. 1 VwGO) nicht nachgekommen ist.
Eine Aufklärungsrüge kann nur Erfolg haben, wenn substantiiert dargetan wird, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären, welche tatsächlichen Feststellungen bei der Durchführung der vermissten Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern das unterstellte Ergebnis zu einer dem Antragsteller günstigeren Entscheidung hätte führen können. Maßgeblich ist dabei der materiell-rechtliche Standpunkt des Tatsachengerichts, auch wenn dieser rechtlichen Bedenken begegnen sollte (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 14. Januar 1998 - 11 C 11.96 - BVerwGE 106, 115 <119>; Beschlüsse vom 25. Januar 2005 - 9 B 38.04 - NVwZ 2005, 447 <449> = juris Rn. 21 und vom 20. Dezember 2010 - 5 B 38.10 - juris Rn. 18).
Die Klägerin rügt, die Feststellungen des Berufungsgerichts seien nicht ausreichend gewesen, um beurteilen zu können, ob sie unzumutbaren schädlichen Umweltauswirkungen i.S.v. § 3 Abs. 1 BImSchG durch das Vorhaben des Beigeladenen ausgesetzt werde. Aufgrund des in der mündlichen Verhandlung vom 14. Juli 2016 gestellten Beweisantrages hätte das Gericht ein weiteres Sachverständigengutachten einholen müssen. Die Erwägungen, auf die der Verwaltungsgerichtshof die Ablehnung des Beweisantrages gestützt habe, seien nicht tragfähig. Das führt auf keinen Aufklärungsmangel.
Der Verwaltungsgerichtshof ist davon ausgegangen, dass die angefochtene Baugenehmigung die Fahrsilos nicht umfasst. Dieser tatrichterlich ermittelte Inhalt des angefochtenen Bescheids ist als Tatsachenfeststellung i.S.d. § 137 Abs. 2 VwGO für den Senat bindend (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 4. Dezember 2001 - 4 C 2.00 - BVerwGE 115, 274 <280>), denn die Beschwerde legt nicht dar, dass die vom Verwaltungsgerichtshof vorgenommene Auslegung an einem Rechtsirrtum leidet oder gegen allgemeine Erfahrungssätze, Denkgesetze oder Auslegungsregeln verstößt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Februar 1982 - 8 C 27.81 - BVerwGE 65, 61 <68 f.> = juris Rn. 28; Beschluss vom 22. Dezember 2016 - 4 B 13.16 - ZLW 2017, 161 = juris Rn. 11). Der nunmehr (erstmalig) erhobene Einwand, die eingereichten Bauvorlagen und die angefochtene Baugenehmigung seien zu unbestimmt, genügt hierfür nicht.
Von diesem Genehmigungsinhalt ausgehend und gestützt auf das gerichtliche Sachverständigengutachten vom 17. November 2011 hat der Verwaltungsgerichtshof angenommen, dass die durch die Biogasanlage - als alleiniger Gegenstand der Baugenehmigung - erzeugten Umwelteinwirkungen am Wohnhaus der Klägerin das Irrelevanzkriterium nach Nr. 3.3 der GIRL 2008 weit unterschreiten würden und zwar selbst dann, wenn aufgrund neuer Erkenntnisse über die Windrichtung von einer Verdoppelung des Belastungswerts von 0,4 % auf 0,8 % auszugehen sei (UA Rn. 46). Die Beschwerde legt nicht dar, inwiefern sich dem Berufungsgericht auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen. Ihre Argumentation bezieht sich ausschließlich auf den dritten Begründungsstrang (UA Rn. 47 ff.). Nichts anderes gilt für den gestellten und vom Gericht abgelehnten Beweisantrag. Dieser nahm Bezug auf Nr. 7 des Hinweisschreibens vom 10. Juli 2013 des früheren Berichterstatters (GA Bl. 587 ff.), welches auf die Immissionszusatzbelastung im Zusammenhang mit dem Betrieb der Fahrsilos abstellte. Auf diese Zusatzbelastung kam es - im Rahmen des zweiten Begründungsstranges - indessen nicht an, weil das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, dass die Fahrsilos von der Baugenehmigung nicht mitumfasst sind. Folgerichtig behandelt der Verwaltungsgerichtshof den von der Klägerin gestellten Beweisantrag erst im Rahmen seines dritten Begründungsstranges (UA Rn. 50 a.E.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.