Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 11.09.2018


BVerwG 11.09.2018 - 4 B 34/18

Verhältnis von Verwirkung und Verfristung eines Widerspruchsrechts


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsdatum:
11.09.2018
Aktenzeichen:
4 B 34/18
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2018:110918B4B34.18.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 7. März 2018, Az: 3 LB 79/13, Urteilvorgehend VG Schwerin, 31. Januar 2013, Az: 2 A 1167/11
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Die Prüfung, ob das verfahrensrechtliche Recht zum Widerspruch gegen eine einem Dritten erteilte Baugenehmigung verwirkt ist, kann nur veranlasst sein, wenn die Baugenehmigung nicht schon wegen Versäumung der Widerspruchsfrist bestandskräftig geworden ist.

Gründe

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Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

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1. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen einer Abweichung des Berufungsurteils von den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Januar 1974 - 4 C 2.72 - (BVerwGE 44, 294) und vom 16. Mai 1991 - 4 C 4.89 - (Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 102) zuzulassen.

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Der Revisionszulassungsgrund der Abweichung liegt nur vor, wenn die Vorinstanz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem ihre Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz einem ebensolchen Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts widerspricht (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 1995 - 6 B 35.95 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 10). § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt, dass der Tatbestand der Abweichung nicht nur durch die Angabe der höchstrichterlichen Entscheidung, von der abgewichen sein soll, sondern auch durch eine präzise Gegenüberstellung der miteinander unvereinbaren Rechtssätze dargelegt wird (stRspr, BVerwG, Beschlüsse vom 17. Dezember 2010 - 8 B 38.10 - ZOV 2011, 45 und vom 17. Februar 2015 - 1 B 3.15 - juris Rn. 7). Hieran lässt es die Beschwerde fehlen. Eine Abweichung liegt auch nicht vor.

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a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann das Recht, Widerspruch gegen eine einem Dritten erteilte Baugenehmigung einzulegen, durch Fristablauf entsprechend den sich aus §§ 58, 70 VwGO ergebenden Grundsätzen und durch Verwirkung verlorengehen. Das Oberverwaltungsgericht hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (UA S. 18). Einen Rechtssatz des Inhalts, ein Nachbarwiderspruch könne nicht verfristen, sondern sei bis zur Grenze der Verwirkung unbefristet zulässig, enthält das Berufungsurteil nicht. Auch der Beigeladene behauptet nicht, dass das Oberverwaltungsgericht einen solchen Rechtssatz formuliert hätte. Er rügt, dass das Oberverwaltungsgericht einen von ihm nicht in Frage gestellten abstrakten Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts insoweit unzutreffend angewandt habe, als es dem Aspekt der Verfristung nicht nachgegangen sei. Darauf kann die Divergenzrüge jedoch nicht gestützt werden.

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b) Das Oberverwaltungsgericht hat den Rechtssatz aufgestellt, im Falle der Verwirkung sowohl des materiellen Abwehrrechts als auch des Verfahrensrechts des Nachbarn, gegen eine Baugenehmigung als Drittbetroffener Widerspruch einzulegen, trete neben das Zeitmoment ein Umstandsmoment, wonach das Verhalten des Nachbarn Grundlage für die Entstehung eines Vertrauens des Bauherrn in das Ausbleiben von Nachbareinwendungen sein müsse (UA S. 18). Dieser Rechtssatz entspricht der Sache nach dem Rechtssatz im Urteil des Senats vom 16. Mai 1991 - 4 C 4.89 - (Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 102 S. 65 f.), für die Verwirkung des (materiellen) Rechts komme es darauf an, ob der Berechtigte während eines längeren Zeitraums ein ihm zustehendes Recht nicht geltend mache, obwohl er hierfür Anlass habe, und ob ein solches Verhalten geeignet sei, bei dem Verpflichteten den Eindruck zu erwecken, der Berechtigte werde sein Recht nicht (mehr) ausüben. Im Rahmen der Subsumtion ("An diesen Grundsätzen gemessen ergibt sich, dass keine Verwirkung eingetreten ist") hat das Oberverwaltungsgericht zwar darauf abgestellt, dass der Beklagte schon bei Erhalt des Schreibens vom 28. Oktober 2009, mit dem die Klägerin bei ihm um Einsicht in die maßgeblichen Bauakten nachgesucht hat, nicht mehr darauf vertrauen durfte, dass die Klägerin nicht gegen die Baugenehmigung vom 4. Juli 2008 vorgehen würde, wenn sie sie erst kennte (UA S. 20). Auf einen Fehler bei der Anwendung eines akzeptierten höchstrichterlichen Rechtssatzes lässt sich - wie bereits gesagt - eine Divergenzrüge nicht stützen. Im Übrigen ist auch der Senat in seinem Urteil vom 16. Mai 1991 (a.a.O.) davon ausgegangen, dass in bestimmten Fallgestaltungen ein Handeln gegenüber der Behörde ausreichen kann, um die Verwirkung eines nachbarlichen Abwehrrechts zu verhindern.

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2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr der Beigeladene beimisst. Er geht selbst davon aus, dass die Annahme der Verwirkung eines Nachbarrechts nach der "eindeutigen" Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon abhängt, dass schutzwürdiges Vertrauen des Bauherrn (und nicht der Bauaufsichtsbehörde) enttäuscht worden ist. Die Frage, auf wessen Sichtweise und Schutz es ankommt, ist danach nicht grundsätzlich klärungsbedürftig. Ebenfalls nicht grundsätzlich klärungsbedürftig sind die Fragen, worin sich der Verlust des Widerspruchsrechts durch Versäumung der Widerspruchsfrist und durch Verwirkung des Widerspruchsrechts unterscheiden, und die Frage, wann ein Widerspruch rechtzeitig eingelegt ist.

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3. Der Senat geht zu Gunsten des Beigeladenen davon aus, dass er auch einen Verfahrensfehler rügen will, der nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zur Zulassung der Revision führt; denn er bemängelt, dass das Oberverwaltungsgericht die Klage für zulässig gehalten hat, anstatt sie - wie seiner Ansicht nach geboten - durch Prozessurteil als unzulässig abzuweisen. Der Verfahrensfehler einer fehlerhaften Handhabung von Sachentscheidungsvoraussetzungen (Kraft, in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 132 Rn. 45) liegt jedoch nicht vor.

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a) Der Widerspruch der Klägerin vom 22. November 2010, beim Beklagten eingegangen am 24. November 2010, gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 4. Juli 2008 war nicht wegen Versäumung der Widerspruchsfrist unzulässig. Die Baugenehmigung ist deshalb nicht mit der Folge bestandskräftig geworden, dass die Klage unzulässig ist.

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Auszugehen ist von folgender Rechtslage: Ist dem Nachbarn die Baugenehmigung, durch die er sich beschwert fühlt, nicht amtlich bekanntgegeben worden, so läuft für ihn weder in unmittelbarer noch in analoger Anwendung der §§ 70 und 58 Abs. 2 VwGO eine Widerspruchsfrist (BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1974 - 4 C 2.72 - BVerwGE 44, 294 <296>). Hat er jedoch gleichwohl sichere Kenntnis von der Baugenehmigung erlangt oder hätte er sie erlangen müssen, so kann ihm nach Treu und Glauben die Berufung darauf versagt sein, dass sie ihm nicht amtlich mitgeteilt wurde. Dann läuft für ihn die Widerspruchsfrist nach § 70 i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO so, als sei ihm die Baugenehmigung in dem Zeitpunkt amtlich bekannt gegeben, in dem er von ihr sichere Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen können (BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1974 a.a.O. S. 300 f.).

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Sichere Kenntnis von der Baugenehmigung vom 4. Juli 2008 hatte die Klägerin erst seit Einsichtnahme in die Bauakte am 1. November 2010. Ihr Widerspruch kann daher nur verfristet sein, wenn ihr vorgeworfen werden könnte, den Widerspruch nicht innerhalb eines Jahres eingelegt zu haben, nachdem sie von der Baugenehmigung sichere Kenntnis hätte erlangen können. Das ist nicht der Fall.

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Nach der Rechtsprechung des Senats (BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1974 - 4 C 2.72 - BVerwGE 44, 294 <300>) tritt der Zeitpunkt, zu dem der Nachbar von der Baugenehmigung zuverlässige Kenntnis nehmen konnte, ein, wenn sich ihm das Vorliegen der Baugenehmigung aufdrängen musste - beispielsweise aufgrund eines sichtbaren Beginns der Bauausführung - und es ihm möglich und zumutbar war, sich hierüber - etwa durch Anfrage bei dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde - Gewissheit zu verschaffen. Daraus folgt: Ab dem Zeitpunkt, an dem der Nachbar davon ausgehen muss, dass der Bauherr eine Baugenehmigung erhalten hat, hat er sich regelmäßig innerhalb eines Jahres über die Genehmigungslage zu informieren. Tut er dies, so ist die Widerspruchsfrist gewahrt und wird erst dadurch versäumt, dass er nach Erhalt der Information, die ihm die sichere Kenntnis von der Baugenehmigung verschafft, nicht fristgerecht Widerspruch einlegt. Einen "vorsorglichen" Widerspruch, d.h. einen Widerspruch "auf Verdacht" oder "ins Blaue hinein", dem Beklagter und Beigeladener das Wort reden, verlangt der Senat nicht.

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Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts lag der frühestmögliche Zeitpunkt, an dem die Klägerin vermuten musste, dass der Beigeladene die Baugenehmigung vom 4. Juli 2008 erhalten hatte, im Jahr 2009; denn in diesem Jahr sind die Bauarbeiten am Stall 6, der Gegenstand der Baugenehmigung ist, begonnen worden (UA S. 21). Das genaue Datum des Baubeginns hat das Oberverwaltungsgericht nicht ermittelt. Das ist unschädlich. Selbst wenn der Baubeginn auf den 2. Januar 2009 festzulegen wäre und es der Klägerin hätte zugemutet werden können, schon an diesem Tag beim Beklagten oder Beigeladenen wegen der Baugenehmigung nachzufragen, wäre der Widerspruch nicht verfristet; denn die Klägerin hat am 28. Oktober 2009 und damit vor Ablauf der Jahresfrist beim Beklagten Akteneinsicht beantragt. Damit hat sie rechtzeitig das ihr Mögliche und Zumutbare getan, um sich Kenntnis von der Baugenehmigung zu verschaffen. Auf den Zeitraum bis zur positiven Bescheidung ihres Akteneinsichtsgesuchs hatte sie keinen Einfluss.

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b) Der Widerspruch der Klägerin war zum Zeitpunkt seiner Einlegung auch nicht verwirkt.

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Der Senat hat entschieden, dass die Verwirkung - sowohl des verfahrensrechtlichen Widerspruchsrechts als auch des materiellen Abwehrrechts - je nach den besonderen Verhältnissen im Einzelfall auch schon vor dem Ablauf der Jahresfrist eintreten kann (BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 - 4 C 4.89 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 102 S. 65). Nach Eintritt der Bestandskraft eines angefochtenen Bescheids wegen Versäumung der Widerspruchsfrist kann die Verwirkung des verfahrensrechtlichen Widerspruchsrechts allerdings keine Rolle mehr spielen.

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Die Verwirkung eines Rechts setzt außer der Untätigkeit des Berechtigten während eines längeren Zeitraums voraus, dass besondere Umstände hinzutreten, welche die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete ferner darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde (BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 - 4 C 4.89 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 102 S. 66 f.). Hieran gemessen, hatte die Klägerin ihr Widerspruchsrecht am 24. November 2010 nicht verwirkt.

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Das Oberverwaltungsgericht hat das Vorliegen besonderer Umstände, welche die Ausübung des verfahrensrechtlichen Widerspruchsrechts durch die Klägerin als treuwidrig erscheinen lassen, verneint: Schon mit Eingang des Schreibens der Klägerin vom 28. Oktober 2009, das neben dem Akteneinsichtsgesuch auch eine Beschwerde über erhebliche Immissionen durch die Putenmastfarm des Beigeladenen enthalte, habe der Beklagte nicht mehr darauf vertrauen können, dass die Klägerin nicht mehr gegen die Baugenehmigung vom 4. Juli 2008 vorgehen würde, wenn sie sie erst kennte (UA S. 20). Der Einwand des Beigeladenen, er habe erst durch den förmlichen Widerspruch erfahren, dass sich die Klägerin gegen sein Vorhaben wende, sei unbeachtlich. Zwar folgten die Obliegenheiten eines Nachbarn aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis, sie beträfen jedoch ein Tätigwerden des Nachbarn gegenüber der Behörde, die die Genehmigung erlassen habe. Ob der Beklagte seiner Obliegenheit nachgekommen sei, den Beigeladenen von dem Schreiben zu unterrichten, könne offen bleiben. Dies ginge jedenfalls nicht zu Lasten der Klägerin (UA S. 21 f.).

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Der Senat folgt dem nicht. Wie der Beigeladene zu Recht rügt, kommt es nicht darauf an, ob der Beklagte, sondern ob er, der Beigeladene, auf den Eintritt der Bestandskraft der Baugenehmigung vom 4. Juli 2008 vertrauen durfte. Auch ist die Ansicht des Oberverwaltungsgerichts vorschnell, die Klägerin habe es mit dem Schreiben vom 28. Oktober 2009 an den Beklagten bewenden lassen dürfen. Regelmäßig wird nämlich nur die Geltendmachung des Rechts unmittelbar gegenüber dem Verpflichteten dem durch die Untätigkeit des Berechtigten entstehenden Eindruck ausreichend entgegenwirken, dieser werde sein Recht nicht (mehr) geltend machen (BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 - 4 C 4.89 - BRS 52 Nr. 218 S. 538 ). Zwar kann je nach den Umständen eine Verpflichtung der beklagten Behörde in Betracht kommen, von sich aus den Bauherrn über die vom Nachbarn bei ihr erhobenen Einwendungen gegen das Bauvorhaben in Kenntnis zu setzen (BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 a.a.O.). Welche Umstände den Beklagten zur Information des Beigeladenen über das Schreiben vom 28. Oktober 2009 verpflichtet haben sollen, hat das Oberverwaltungsgericht aber nicht mitgeteilt.

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Im Ergebnis ist dem Oberverwaltungsgericht allerdings zuzustimmen. Das Oberverwaltungsgericht hat außer der Untätigkeit der Klägerin gegenüber dem Beigeladenen über einen längeren Zeitraum keine besonderen Umstände, insbesondere kein "bestimmtes Verhalten" der Klägerin festgestellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 - 4 C 4.89 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 102 S. 66: "hinzutreten" sowie Beschluss vom 16. April 2002 - 4 B 8.02 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 164 S. 13 f.), infolge dessen der Beigeladene darauf vertrauen durfte, die Klägerin würde ihr Widerspruchsrecht nicht mehr ausüben. Auch der Beigeladene legt dafür nichts dar.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.