Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 02.08.2018


BVerwG 02.08.2018 - 4 B 15/17

Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsdatum:
02.08.2018
Aktenzeichen:
4 B 15/17
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2018:020818B4B15.17.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 7. Dezember 2016, Az: 7 A 1668/15, Urteilvorgehend VG Aachen, 21. Februar 2015, Az: 5 K 1344/13

Gründe

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Der Kläger ist Eigentümer eines Außenbereichsgrundstücks im Geltungsbereich eines Braunkohleplans, das er für die Errichtung eines "Protestcamps" zu Verfügung stellte. Der Beklagte gab dem Kläger auf, die auf dem Grundstück errichteten baulichen Anlagen zu beseitigen oder beseitigen zu lassen, und untersagte ihm, weitere bauliche Anlagen, die zum Aufenthalt geeignet sind, zu errichten oder durch Dritte errichten zu lassen. Die hiergegen gerichtete Klage blieb in beiden Instanzen erfolglos. Nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts unterfielen die baulichen Anlagen des Protestcamps weder im Zeitpunkt des Erlasses der Ordnungsverfügung noch im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung dem Schutzbereich von Art. 8 GG. Die Anlagen seien nicht geschützter Teil einer gegen den Braunkohleabbau gerichteten - möglicherweise als Versammlung zu wertenden - Zusammenkunft von Teilnehmern des Protestcamps, weil ihnen nach dem Gesamtgepräge keine funktionale oder symbolische Bedeutung für ein entsprechendes Versammlungsthema zugekommen sei bzw. zukomme. Ergänzend hat das Oberverwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass der Schutzbereich des Art. 8 GG die in Rede stehenden Anlagen selbst dann nicht erfassen würde, wenn sie Teil einer Versammlung wären, weil es an den Merkmalen der Friedlichkeit und Unbewaffnetheit der Versammlung fehle.

2

Die auf sämtliche Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

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1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die ihr die Beschwerde beimisst.

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a) Als klärungsbedürftig wirft die Beschwerde die Frage auf,

ob und inwieweit bei "gemischten Veranstaltungen", also solchen, die auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung teilweise (und teilweise auch nicht) ausgerichtet sind, der Regelungsbereich des Art. 8 GG die baurechtlichen Gesichtspunkte überlagern kann, mit der weiteren Folge, dass ein Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde gegen die Veranstaltung/Versammlung nicht in Betracht kommt.

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Die Frage wäre in einem durchzuführenden Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich.

6

Das Oberverwaltungsgericht hat die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 GG aus zwei Gründen verneint: Die in Rede stehenden Anlagen seien nicht geschützter Teil einer - möglicherweise als Versammlung zu wertenden - gegen den Braunkohleabbau gerichteten Zusammenkunft von Teilnehmern des Protestcamps, weil den Anlagen nach dem Gesamtgepräge keine funktionale oder symbolische Bedeutung für ein entsprechendes Versammlungsthema zukomme (UA S. 12). "Ergänzend" hat es darauf hingewiesen, dass der Schutzbereich des Art. 8 GG die in Rede stehenden baulichen Anlagen selbst dann nicht erfassten, wenn sie Teil einer Versammlung wären, weil dem Protestcamp die Merkmale der Friedlichkeit und Unbewaffnetheit fehlten (UA S. 15 f.). Der Senat versteht die ergänzenden Ausführungen so, dass das Oberverwaltungsgericht dem Fehlen der Tatbestandsmerkmale "friedlich und ohne Waffen" für die Annahme, dass der Schutzbereich des Art. 8 GG nicht eröffnet sei, vorliegend eine selbständig tragende Bedeutung beigemessen hat.

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Ist die vorinstanzliche Entscheidung auf zwei selbständig tragende Gründe gestützt, kann die Revision nur zugelassen werden, wenn in Bezug auf jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt (stRspr; z.B. BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 2016 - 3 B 38.16 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 66 Rn. 3). Daran fehlt es hier. Denn soweit das Oberverwaltungsgericht die Merkmale "friedlich" und "ohne Waffen" verneint hat, sind Revisionszulassungsgründe nicht geltend gemacht. Die Beschwerde wendet zwar gegen die ergänzenden Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts ein, dass die Versammlung "keineswegs" unfriedlich und mit Waffen stattgefunden habe und die gegenteilige Auffassung des Oberverwaltungsgerichts "nicht überzeugen" könne. Ein Zulassungsgrund im Sinne von § 132 Abs. 2 VwGO ist damit jedoch nicht geltend gemacht. Deshalb kann die erste Begründung des Oberverwaltungsgerichts, dass das Protestcamp nicht Teil einer Versammlung sei, hinweggedacht werden, ohne dass sich am Ergebnis der vorinstanzlichen Entscheidung etwas ändert.

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b) Mit der Frage,

ob Ermessenserwägungen der Behörde - wie im Rahmen der Vorschrift des § 61 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW - entbehrlich sind, wenn das erkennende Gericht diese ersetzt,

wendet sich die Beschwerde gegen die Annahme des Oberverwaltungsgerichts (UA S. 14), dass der angefochtene Bescheid auch mit Blick auf Art. 8 GG ermessensfehlerfrei ergangen sei, weil das Protestcamp nicht dem Schutz des Art. 8 GG unterfalle. Die Beschwerde möchte wissen, ob ein ursprüngliches Ermessensdefizit des Bescheides dadurch kompensiert worden sei, dass der Beklagte erstmals in einem Schriftsatz (an das Gericht) Erwägungen zu Art. 8 GG angestellt habe.

9

Die Frage wäre in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich. Wenn das Protestcamp nicht vom Schutzbereich des Art. 8 GG erfasst ist, war der Beklagte im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens auch nicht verpflichtet, Ermessenserwägungen hierzu anzustellen. Ob das Protestcamp dem Schutzbereich des Art. 8 GG unterfällt, ist eine Rechtsfrage, die der uneingeschränkten gerichtlichen Prüfung unterliegt.

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2. Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) liegt ebenfalls nicht vor.

11

Die Beschwerde entnimmt dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Mai 2007 - 6 C 23.06 - (BVerwGE 129, 42) in Verbindung mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Oktober 2016 - 1 BvR 458/10 - (BVerfGE 143, 161) die Kernaussage, dass jeweils nach dem "Gesamtgepräge" zu entscheiden sei, ob es sich um Versammlungen im Rechtssinne handele. Die nach diesen Entscheidungen gebotenen Prüfungsschritte würden - so die Beschwerde - (im Berufungsurteil) zwar (im Wesentlichen) aufgeführt, doch eine Subsumtion darunter sei nicht ernsthaft geschehen. Eine Aufzählung der potentiellen "Versammlungselemente" sei nicht vorgenommen worden. Es sei (vielmehr) belegfrei angegeben worden, dass die in Rede stehenden baulichen Anlagen als Obdach für die dort lebenden Bewohner und als Ausgangsbasis für anderweitige Aktionen gegen den Braunkohletageabbau und für den Schutz des Hambacher Forstes genützt würden. Indem offenbar ergebnisgelenkt "die erste Stufe" der "gemischten Veranstaltung" nicht gewürdigt worden sei, habe das Oberverwaltungsgericht eine vom Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht abweichende Rechtsprechung kreiert, die allein eine wertende Gesamtbetrachtung unter Herausgreifen einzelner negativer Aspekte darstelle.

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Die behauptete Abweichung wäre in einem Revisionsverfahren schon nicht entscheidungserheblich. Die Divergenzrüge zielt gegen die Begründung des Oberverwaltungsgerichts, dass das Protestcamp nicht Teil einer geschützten Versammlung sei. Diese Begründung kann aber - wie dargestellt - hinweggedacht werden, ohne dass sich am Ergebnis der vorinstanzlichen Entscheidung etwas ändert.

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Im Übrigen zeigt die Beschwerde auch keinen Rechtssatzwiderspruch auf (stRspr; hierzu z.B. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328). Die Beschwerde räumt selbst ein, dass das Oberverwaltungsgericht (im Wesentlichen) von den Kernaussagen der höchstrichterlichen Rechtsprechung ausgegangen sei. Soweit sie eine unrichtige oder "ergebnisgelenkte" Subsumtion beanstandet, rügt sie der Sache nach keine Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, sondern bloße Subsumtionsfehler, die nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; z.B. BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 1995 - 4 B 280.95 - juris).

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3. Schließlich ist die Revision auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

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a) Die Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) zielt gegen die Begründung des Oberverwaltungsgerichts, dass das Protestcamp nicht Teil einer geschützten Versammlung sei. Diese Begründung kann - wie dargestellt - hinweggedacht werden, ohne dass sich am Ergebnis der vorinstanzlichen Entscheidung etwas ändert. Es trifft auch nicht zu, dass das Oberverwaltungsgericht - wie von der Beschwerde behauptet - seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen sei, weil es offen gelassen habe, auf welchen Zeitpunkt es für die gerichtliche Beurteilung der Frage, ob das Protestcamp Teil einer geschützten Versammlung sei, ankomme. Denn das Oberverwaltungsgericht (UA S. 8 ff.) hat vielmehr alternativ festgestellt, dass die baulichen Anlagen des Protestcamps "weder zum Zeitpunkt des Erlasses der Ordnungsverfügung noch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat" dem Schutzbereich des Art. 8 GG unterfielen. Im Übrigen legt die Beschwerde weder dar, welche Sachverhaltsermittlungen sich dem Tatsachengericht in Bezug auf welche entscheidungserheblichen Tatsachen mit welchen Beweismitteln und welchem für den Beschwerdeführer günstigen Beweisergebnis noch hätten aufdrängen müssen (zu diesen Darlegungsanforderungen z.B. BVerwG, Beschluss vom 27. Oktober 1999 - 9 B 567.99 - juris), noch erläutert sie, aus welchen Gründen es der Kläger unterlassen hat, durch eigene Beweisanträge zur weiteren Sachverhaltsaufklärung beizutragen (zu dieser Obliegenheit BVerwG, Beschluss vom 5. August 1997 - 1 B 144.97 - NJW-RR 1998, 784).

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b) Der behauptete Verstoß gegen die richterliche Hinweispflicht nach § 86 Abs. 3 VwGO ist - ungeachtet der fehlenden Entscheidungserheblichkeit - ebenfalls nicht schlüssig dargetan. Die Hinweispflicht konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (BVerwG, Urteil vom 11. November 1970 - 6 C 49.68 - BVerwGE 36, 264 <266 f.>; Beschluss vom 4. Juli 2007 - 7 B 18.07 - juris Rn. 5). Von einem unzulässigen Überraschungsurteil ist auszugehen, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (BVerwG, Urteil vom 19. Juli 1985 - 4 C 62.82 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 170). Daran fehlt es hier.

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Die Beschwerde gibt selbst zu erkennen, dass die Frage, ob das Protestcamp unter den Schutz der in Art. 8 GG gewährleisteten Versammlungsfreiheit fällt, ein zentraler Streitpunkt des Rechtsstreits war. Die verfahrensleitenden Schriftsätze des Berufungsverfahrens bestätigen dies. Es kann deshalb keine Rede davon sein, dass das Oberverwaltungsgericht den Schutz dieses Grundrechts verneint habe, ohne dass der Kläger nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens hiermit zu rechnen brauchte. Warum der Kläger gleichwohl gehindert gewesen sein soll, von sich aus weitere Angaben zu diesem Sachkomplex zu machen, um diesen "nochmals eingehend in den Vordergrund" zu stellen, legt die Beschwerde nicht dar.

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c) Soweit die Beschwerde schließlich geltend macht, dass eine bzw. mehrere notwendige Beiladungen im Sinne von § 65 Abs. 2 VwGO unterblieben seien, weil von der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung nicht nur der Kläger betroffen sei, sondern auch diejenigen, deren Nutzungsrecht als "Pächter" des Klägers durch die Entfernung der baulichen Anlagen vollständig entzogen werde, ist das Oberverwaltungsgericht (UA S. 14 f.) von entsprechenden Vertragsverhältnissen nicht ausgegangen. Soweit die Beschwerde auf diejenigen verweist, die in den zu beseitigenden Hütten/Behelfsheimen wohnten bzw. lebten, legt sie nicht dar, inwieweit die betroffenen Personen im Sinne des § 65 Abs. 2 VwGO an dem streitigen Rechtsverhältnis beteiligt sein können.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.