Entscheidungsdatum: 09.05.2018
Zur Frage, ob Verjährungsregelungen Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 (juris: EGV 2988/95) sind und damit der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Sanktionsnorm gilt.
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen zur Auslegung der
Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 der Kommission vom 11. Dezember 2001 mit Durchführungsbestimmungen zum mit der Verordnung (EWG) Nr. 3508/92 des Rates eingeführten integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen (ABl. L 327 S. 11)
und der
Verordnung (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312 S. 1)
zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Beginnt die Verjährung im Sinne von Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001 mit der Zahlung der Beihilfe oder richtet sich der Beginn nach Art. 3 Abs. 1, hier: Unterabs. 2 Satz 1 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95?
2. Sind die Verjährungsregelungen des Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001 beziehungsweise des Art. 3 Abs. 1 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95?
3. Kann Art. 52a VO (EG) Nr. 2419/2001 mit seiner Regelung über die rückwirkende Anwendung der Verjährungsregelung des Art. 49 Abs. 5 VO (EG) Nr. 2419/2001 analog auch auf Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001 angewandt werden?
Falls Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 Anwendung findet (Frage 1), bedürfen die weiteren Fragen keiner Beantwortung; findet er keine Anwendung, so erledigt sich Frage 3, wenn Frage 2 bejaht werden sollte.
I
Die Beteiligten streiten im Zuge der Rückforderung von Flächenzahlungen noch über die Verjährung einer Sanktion.
Der Kläger war Landwirt und beantragte im Mai 2000 und Mai 2001 für die jeweiligen Wirtschaftsjahre Flächenzahlungen nach der Stützungsregelung für Erzeuger bestimmter landwirtschaftlicher Kulturpflanzen. Die Beklagte bewilligte die beantragten Flächenzahlungen und zahlte sie jeweils noch in den Jahren der Antragstellung aus. Im Zuge einer Vor-Ort-Kontrolle im Januar 2006 stellte die Beklagte Unregelmäßigkeiten bei den Angaben der Stilllegungsflächen fest. Nach Anhörung des Klägers hob sie mit Bescheid vom 23. Juli 2007 unter anderem die Bewilligungsbescheide für die Jahre 2000 und 2001 teilweise auf und forderte die Zuvielzahlungen zurück. Bei deren Berechnung ging sie davon aus, dass als Sanktion einer Übererklärung für die Stilllegungsflächen überhaupt keine Beihilfe zu gewähren sei.
Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben. Im Berufungsverfahren hat er die Rücknahme der Bewilligungen und die Rückforderungen akzeptiert, soweit sie nicht auf der Sanktion beruhen. Insoweit haben die Beteiligten den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Hinsichtlich der verbleibenden, auf der Sanktion beruhenden Rückforderung hat das Berufungsgericht den Bescheid vom 23. Juli 2007 auf-gehoben und zur Begründung ausgeführt:
Zwar seien die tatbestandlichen Voraussetzungen der Sanktion des Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 2 VO (EWG) Nr. 3887/92 gegeben. Die Differenz zwischen der beantragten Stilllegungsfläche und der ermittelten Fläche habe jeweils mehr als 20 % der ermittelten Fläche betragen. Die Sanktion sei aber verjährt. Nach dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Sanktionsnorm (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 VO
Die Beklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt.
II
Die Revision wirft Fragen zur Auslegung des Unionsrechts auf, die die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union erfordern.
1. Grundlage der Flächenzahlungen war die
Verordnung (EG) Nr. 1251/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 zur Einführung einer Stützungsregelung für Erzeuger bestimmter landwirtschaftlicher Kulturpflanzen (ABl. L 160 S. 1)
in den für die Wirtschaftsjahre 2000/2001 und 2001/2002 gültigen Fassungen.
a) Als Sanktion einer Übererklärung sah die
Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 der Kommission vom 23. Dezember 1992 mit Durchführungsbestimmungen zum integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen (ABl. L 391 S. 36) in der zuletzt durch die Verordnung (EG) Nr. 2801/1999 der Kommission vom 21. Dezember 1999 geänderten Fassung (ABl. L 340 S. 29)
vor, dass bei einer Differenz zwischen der tatsächlich ermittelten Fläche und der im Beihilfeantrag angegebenen Fläche von über 20 % der ermittelten Fläche keine Beihilfe für diese Fläche - hier die Stilllegungsfläche - gewährt wird (Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 2 VO
Verordnung (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312 S. 1)
die Verjährung. Eine nationale Verjährungsvorschrift (Art. 3 Abs. 3 VO
b) Die Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 wurde durch die
Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 der Kommission vom 11. Dezember 2001 mit Durchführungsbestimmungen zum mit der Verordnung (EWG) Nr. 3508/92 des Rates eingeführten integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen (ABl. L 327 S. 11)
wegen mehrerer Änderungen aus Gründen der Klarheit und Übersichtlichkeit ersetzt. Dabei blieben die Regelungen über Sanktionen in Fällen einer Übererklärung inhaltlich unverändert. Weiterhin war vorgesehen, dass im Falle einer Übererklärung von über 20 % der ermittelten Fläche für die betroffene Kulturgruppe - hier: Stilllegungsfläche - keine Beihilfe gewährt wird (vgl. Titel IV, Art. 32 Abs. 1 Unterabs. 2 VO
Verordnung (EG) Nr. 796/2004 der Kommission vom 21. April 2004 mit Durchführungsbestimmungen zur Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, zur Modulation und zum Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem nach der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 des Rates mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe (ABl. L 141 S. 18),
mit der die Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 für Beihilfeanträge, die sich auf ab dem 1. Januar 2005 beginnende Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen, aufgehoben wurde (Art. 80 Abs. 1 VO
2. Die Verjährungsregelungen des Art. 49 Abs. 5 und 6 VO
(5) Die Verpflichtung zur Rückzahlung gemäß Absatz 1 gilt nicht, wenn zwischen dem Tag der Zahlung der Beihilfe und dem Tag, an dem der Begünstigte von der zuständigen Behörde erfahren hat, dass die Beihilfe zu Unrecht gewährt wurde, mehr als zehn Jahre vergangen sind.
Der in Unterabsatz 1 genannte Zeitraum wird jedoch auf vier Jahre verkürzt, wenn der Begünstigte in gutem Glauben gehandelt hat.
(6) Für Beträge, die aufgrund von Kürzungen und Ausschlüssen gemäß den Bestimmungen des Artikels 13 und des Titels IV zurückgezahlt werden müssen, gilt eine Verjährungsfrist von vier Jahren.
Das Berufungsgericht hat Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001 dahin ausgelegt, dass er Absatz 5 um eine Regelung für Kürzungen und Ausschlüsse ergänzt, im Übrigen aber an die dort genannten Modalitäten der Verjährung anknüpft. Es geht davon aus, dass die Verjährung mit dem Tag der Zahlung der Beihilfe beginnt.
Art. 49 Abs. 5 VO (EG) Nr. 2419/2001 bezieht sich auf die Verjährung der Verpflichtung zur Zurückzahlung von zu Unrecht gezahlten Beträgen gemäß Art. 49 Abs. 1 VO (EG) Nr. 2419/2001. Dazu gehören auch diejenigen Beträge, die aufgrund von Kürzungen oder Ausschlüssen zurückgezahlt werden müssen. Entsprechend ist Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001 eine spezielle Regelung, die für die Rückforderung eines sanktionshalber zurückgeforderten Betrags eine von Absatz 5 abweichende generelle Verjährungsfrist von vier Jahren regelt. Dieser systematische Zusammenhang spricht dafür, der Verjährung von Kürzungen und Ausschlüssen nach Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001 im Übrigen die Modalitäten des Absatzes 5 zugrunde zu legen.
Knüpft der Beginn der Verjährung danach stets an die Zahlung der Beihilfe an, so werden damit allerdings die differenzierten Regelungen der Verordnung (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 verdrängt. Nach ihr beginnt die Verjährung mit der Begehung der Unregelmäßigkeit (Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1), also einem Verstoß gegen Unionsrecht durch Handeln oder Unterlassen, der einen Schaden bewirkt hat oder haben würde (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2015
- C-59/14 [ECLI:EU:C:2015:660], Kollmer - Rn. 24 ff.). Für den Fall einer wiederholten oder andauernden Unregelmäßigkeit beginnt sie mit deren Beendigung (Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1). Diese Verordnungsregelungen des Rates beanspruchen grundsätzlich sektorübergreifende Geltung (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Dezember 2012 - C-670/11 [ECLI:EU:C:2012:807], FranceAgriMer -Rn. 43 m.w.N.). Während Art. 49 Abs. 5 VO (EG) Nr. 2419/2001 eine Aussage zum Beginn der Verjährung trifft, verhält sich Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001 hierzu nicht ausdrücklich. Den Erwägungsgründen ist dazu nichts zu entnehmen. Sollte entgegen der Annahme des Berufungsgerichts im Rahmen von Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001 die Regelung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 anwendbar sein, so wäre Verjährung unabhängig von den Folgefragen nicht eingetreten.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die im Beschlusstenor formulierte Frage 1.
3. Findet Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 keine Anwendung, so stellen sich Folgefragen. Ist die im Beschlusstenor formulierte Frage 2 zu bejahen, so erwiese sich Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001 gegenüber den vor seinem Inkrafttreten maßgeblichen Verjährungsvorschriften der Verordnung (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 als milder, weil die Verjährungsfrist von vier Jahren spätestens Ende 2004 beziehungsweise 2005 abgelaufen wäre und damit vor Unterrichtung durch die zuständige Behörde, die frühestens im Januar 2006 erfolgte.
a) Der Anwendung der milderen Sanktionsnorm gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 steht nicht entgegen, dass die am 13. Dezember 2001 in Kraft getretene Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 für Beihilfeanträge gilt, die sich auf ab dem 1. Januar 2002 beginnende Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen (Art. 54 Abs. 1 und 2 Unterabs. 1 VO
Art. 1 Nr. 13 der Verordnung (EG) Nr. 118/2004 der Kommission vom 23. Januar 2004 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 mit Durchführungsbestimmungen zum mit der Verordnung (EWG) Nr. 3508/92 des Rates eingeführten integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen (ABl. L 17 S. 7)
eingefügten Regelung des Art. 52a VO (EG) Nr. 2419/2001 über die rückwirkende Anwendung der Verjährungsregelung des Art. 49 Abs. 5 VO (EG) Nr. 2419/2001. Sie betrifft nicht die Verjährung von Sanktionen.
b) Die Beihilferegelung, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Sanktion und die Sanktion selbst sind im Wesentlichen unverändert geblieben. Folglich steht der Anwendung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 nicht entgegen, dass sich die Verjährungsregelung auf einen ganz anderen Regelungszusammenhang beziehen würde (vgl. EuGH, Urteil vom 11. März 2008 - C-420/06 [ECLI:EU:C:2008:152], Jager - Rn. 68, 73). Der Gesetzgeber hat vielmehr für vergleichbare Fälle mit der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 eine eigene Verjährungsregelung geschaffen und damit insoweit sektorspezifisch eine neue Bewertung vorgenommen.
c) Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die hier in Betracht kommenden Verjährungsregelungen Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 sind und damit auch für sie der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Sanktionsnorm gilt.
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 übernimmt für die Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes, der zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört und auch in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Grundrechtecharta niedergelegt ist (EuGH, Urteil vom 14. Februar 2012 - C-17/10 [ECLI:EU:C:2012:72], Toshiba Corporation u.a. - Rn. 64; vgl. auch EuGH, Schlussanträge vom 14. Oktober 2004 - C-387/02, C-391/02 und C-403/02 [ECLI:EU:C:2004:624], Berlusconi u.a. - Rn. 156). Er steht in einem Zusammenhang mit dem fundamentalen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Strafen (Art. 49 Abs. 1 Satz 1 und 2 GRCh - nullum crimen, nulla poena sine lege) und wird als Ausnahme hiervon betrachtet (EuGH, Schlussantrag vom 8. September 2011 - C-17/10 [ECLI:EU:C:2011:552], Toshiba Corporation u.a. - Rn. 60).
Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Strafen erfasst Verjährungsregelungen nicht. Verjährungsregelungen unterscheiden sich von Regelungen des materiellen Strafrechts dadurch, dass sie nicht die Strafbarkeit begründen, sondern die Verfolgbarkeit betreffen. Sie können deshalb auch nach Begehung der Tat verlängert werden, solange Verjährung nicht bereits eingetreten ist (EuGH, Urteil vom 2. März 2017 - C-584/15 [ECLI:EU:C:2017:160], Glencore Céréales France - Rn. 73 m.w.N.). Verjährungsregelungen werden dem Verfahrensrecht zugeordnet. Verfahrensvorschriften sind im Allgemeinen auf alle bei ihrem Inkrafttreten anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar (EuGH, Schlussanträge vom 8. September 2011 - C-17/10, Toshiba Corporation u.a. - Rn. 42 m.w.N.). Eine nachträglich erlassene mildere Verjährungsregelung kommt dem Betroffenen daher regelmäßig bereits aus diesem Grunde zugute. Die hier in Rede stehenden Verjährungsregelungen des Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems sind jedoch in Verordnungen geregelt, die jeweils nur für bestimmte Zeitabschnitte gelten und über diese Geltung hinaus nicht ohne weiteres berücksichtigt werden können.
Parallel hierzu bestimmt das deutsche Strafrecht in § 2 Abs. 1 StGB, dass sich die Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz bestimmen, das zur Zeit der Tat gilt. Diese Aussage wird dadurch modifiziert, dass das mildeste Gesetz anzuwenden ist, wenn das bei Beendigung der Tat geltende Gesetz vor der Entscheidung geändert wird (§ 2 Abs. 3 StGB). Der Grundsatz der Anwendung des mildesten Gesetzes gilt aber nicht für Zeitgesetze, d.h. für Gesetze, die unter sich ändernden wirtschaftlichen oder sonstigen Verhältnissen für eine bestimmte Zeit gelten (§ 2 Abs. 4 StGB). Der Grundsatz ist im deutschen Recht nicht unmittelbar verfassungsrechtlich verankert und hat zugunsten des Betroffenen eine Nähe zum Gleichbehandlungsgrundsatz. Für die Verjährung einer Straftat gehen die Strafgerichte grundsätzlich davon aus, dass die Verjährung als Verfahrenshindernis in erster Linie dem Verfahrensrecht zuzuordnen ist. Der Grundsatz der Anwendung des mildesten Gesetzes (§ 2 Abs. 3 StGB) komme nur dann zum Zuge, wenn zwischen Begehung der Tat und Entscheidung die materielle Strafdrohung verschärft werde und sich hierdurch als Fernwirkung die Verjährung verändere (BGH, Beschlüsse vom 7. Juni 2005 - 2 StR 122/05 - BGHSt 50, 138 <139 f.> und vom 28. Januar 2010 - 3 StR 274/09 - BGHSt 55, 11 Rn. 18 ff.).
Der Zusammenhang zwischen den beiden Grundsätzen in Verbindung mit dem Umstand, dass Verjährungsregelungen als Verfahrensregelungen nachträglich verlängert werden können, könnte nahe legen, dass sich auch der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes nur auf materielle Rechtsänderungen, nicht hingegen auf Verjährungsregelungen bezieht. Übertragen auf den vorliegenden Fall würde daraus folgen, dass Verjährung nach der milderen Verjährungsreglung der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 nicht in Betracht kommt, weil diese Regelung für die hier in Rede stehenden Verpflichtungen zeitlich nicht gilt.
Andererseits ist der genannte Zusammenhang nur lose. Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes ändert nichts daran, dass die Tat bereits im Zeitpunkt ihrer Begehung strafbar gewesen sein muss. Er führt lediglich dazu, dass eine nachträglich eingeführte mildere Regelung ungeachtet des Zeitpunkts der Tatbegehung gleichermaßen auf alle noch nicht abgeurteilten Taten angewandt wird. Liegen dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes letztlich Billigkeitsüberlegungen zugrunde (vgl. EuGH, Schlussanträge vom 14. Oktober 2004 - C-387/02, C-391/02 und C 403/02, Berlusconi u.a. - Rn. 160 f.), so ist nicht zu übersehen, dass der Gesetzgeber mit einer milderen Verjährungsregelung eine Neubewertung vornimmt, für deren Geltung eine zeitliche Differenzierung nicht nahe liegt und die wenig kohärent erscheint. Ungeachtet der Betrachtung der Verjährung als Verfahrenshindernis geht mit der Verjährung der Verzicht auf den Strafverfolgungsanspruch einher; nach Art. 49 Abs. 5 VO (EG) Nr. 2419/2001 gilt die Verpflichtung zur Zurückzahlung nicht mehr. Diese materiellen Aspekte sprechen für die rückwirkende Anwendung einer milderen Verjährungsregelung.
4. Führt der Grundsatz der Anwendung der milderen Sanktionsnorm gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 nicht zur Anwendung von Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001, so stellt sich die im Beschlusstenor formulierte Frage 3.
Mit Art. 1 Nr. 13 VO (EG) Nr. 118/2004 hat die Kommission die Regelung des Art. 52a VO (EG) Nr. 2419/2001 über die rückwirkende Anwendung der Verjährungsregelung des Art. 49 Abs. 5 VO (EG) Nr. 2419/2001 in die Verordnung eingefügt. Sie betrifft nach ihrem Wortlaut nicht die Verjährung von Sanktionen, wenngleich in Erwägungsgrund 7 VO (EG) Nr. 118/2004 allgemein davon die Rede ist, dass die Verjährungsvorschriften betreffend die Rückforderung zu Unrecht geleisteter Zahlungen unter bestimmten Bedingungen auch in Bezug auf frühere Wirtschaftsjahre und Prämienzeiträume anwendbar sein sollen. In einem Schreiben vom 2. Mai 2002 (D<2002>12598) hat die Kommission dem Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Fragen zur Gültigkeit der Absätze 5 und 6 von Art. 49 VO (EG) Nr. 2419/2001 für Altfälle vor dem 1. Januar 2002 beantwortet. Darin teilte sie unter anderem mit, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 schreibe im Ansatz zwingend die rückwirkende Geltung von Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001 vor und schränkte dies aus anderen Gründen insbesondere für Rinderbeihilfen ein, um die es vorliegend nicht geht. Hingegen könne Art. 49 Abs. 5 VO (EG) Nr. 2419/2001 nicht rückwirkend gelten, weil er sich nicht auf verwaltungsrechtliche Sanktionen beziehe.
Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass die Formulierung von Art. 52a VO (EG) Nr. 2419/2001 von der Vorstellung getragen war, dass hinsichtlich Art. 49 Abs. 6 VO (EG) Nr. 2419/2001 eine Regelung nicht erforderlich und mittels Art. 2 Abs. 2 Satz 2 VO (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 ein kohärentes System gesichert sei. Wenn dies jedoch nicht zutrifft (Frage 2), dann stellt sich die Frage, ob von einer Regelungslücke ausgegangen werden kann, die unter den Umständen des vorliegenden Falles mittels Analogie geschlossen werden kann.