Entscheidungsdatum: 22.03.2012
1. Als notwendige Schutzmaßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG, die zur Verhinderung der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit erforderlich ist, kann auch ein zeitweiliges Schulbetretungsverbot gegenüber einem Ansteckungsverdächtigen angeordnet werden.
2. Eine Person ist ansteckungsverdächtig im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG, wenn die Annahme, sie habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil. Für die Beurteilung sind die Eigenheiten der Krankheit, epidemiologische Erkenntnisse und Wertungen sowie die jeweiligen Erkenntnisse über Zeitpunkt, Art und Umfang der möglichen Exposition und über die Empfänglichkeit der Person für den Erreger zu berücksichtigen.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines mehrtägigen Schulbetretungsverbots, das die Beklagte gestützt auf das Infektionsschutzgesetz (IfSG) im Juni 2007 gegenüber dem Kläger anordnete.
Der Kläger war seinerzeit - und ist noch - Schüler einer Gesamtschule. Anlass für die Anordnung der Beklagten war die ihr am 29. Mai 2007 bekannt gewordene Masernerkrankung eines Schülers der benachbarten Grundschule (so genannter Indexfall). Die Grundschule und die Schule des Klägers liegen mehrere hundert Meter voneinander entfernt, die Schüler nutzen jedoch verschiedene Einrichtungen gemeinsam (Bibliothek, Bushaltestelle, Spielmöglichkeiten); außerdem führt die Gesamtschule in den Räumlichkeiten der Grundschule einen Kochkurs durch. Die Beklagte ergriff zur Verhinderung einer weiteren Verbreitung der Masern verschiedene Schutzmaßnahmen, in die sie neben der Grundschule auch die Gesamtschule einbezog. Unter anderem überprüften Mitarbeiter des Gesundheitsamtes Anfang Juni die Impfausweise der Schülerinnen und Schüler und boten eine Schutzimpfung an (so genannte postexpositionelle Impfung oder Riegelungsimpfung). Der Kläger war bislang weder gegen Masern geimpft, noch hatte er eine Masernerkrankung durchgemacht. Die Teilnahme an der Schutzimpfung lehnten seine Erziehungsberechtigten ab. Dem Kläger wurde daraufhin am 5. Juni 2007 im Schulsekretariat mündlich mitgeteilt, dass er die Schule für die Dauer von zwei Wochen oder länger nicht besuchen dürfe. Hierbei handelte die Schule auf Weisung der Beklagten. Deren Gesundheitsbehörde hielt ein Schulbetretungsverbot generell bei denjenigen Schülern der beiden Schulen für erforderlich, die ungeimpft und auch nicht infolge einer Vorerkrankung gegen Masern immun waren; sie betrachtete diese Schüler als ansteckungsverdächtig. Im Zuge des nachfolgenden Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes verkürzte die Beklagte das Schulbetretungsverbot auf vier Tage bis einschließlich 8. Juni 2007.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Betretungsverbots mit Urteil vom 23. Oktober 2008 stattgegeben.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 3. Februar 2011 zurückgewiesen. Es könne dahinstehen, ob das Verbot wegen der unterbliebenen Anhörung des Klägers und seiner Erziehungsberechtigten bereits formell rechtswidrig gewesen sei. Es erweise sich jedenfalls als materiell rechtswidrig. Die Eingriffsvoraussetzungen des § 28 Abs. 1 IfSG lägen nicht vor. Die Beklagte habe den Kläger zu Unrecht als Ansteckungsverdächtigen im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG angesehen; denn es sei nicht hinreichend wahrscheinlich gewesen, dass er Kontakt zu einer infizierten Person gehabt habe. Mangels Befragung des Klägers sei der Beklagten verborgen geblieben, dass die Prämissen der von ihr angenommenen Kontaktszenarien zwischen Grund- und Gesamtschülern auf den Kläger nur zu einem geringen Teil zuträfen. Der Kläger habe weder die gemeinsame Bushaltestelle genutzt noch an einem Kochkurs in der Grundschule teilgenommen. Auch sonst hätten keine privaten Kontakte zu dem erkrankten Grundschüler bestanden. Die Beklagte habe damit einen Ansteckungsverdacht lediglich vermutet. Das rechtfertige als Gefahrenverdacht zwar weitere Sachverhaltsermittlungen im Sinne von § 25 IfSG, nicht aber schon die Feststellung eines Ansteckungsverdachts nach § 28 IfSG. Auch der systematische Zusammenhang mit § 34 IfSG spreche dagegen, im Falle des Auftretens von Masern in einer Gemeinschaftseinrichtung den Personenkreis der Ansteckungsverdächtigen generell auf nicht gegen Masern geimpfte oder nicht an Masern vorerkrankte Schüler einer benachbarten Schule auszudehnen. Epidemiologische Erkenntnisse und Wertungen könnten die sich aus dem Wortlaut und der Systematik ergebenden Grenzen des § 28 Abs. 1 IfSG nicht überwinden. Schließlich scheide auch eine Inanspruchnahme des Klägers als Nichtstörer aus, weil es jedenfalls an der erforderlichen Ermessensbetätigung fehle.
Mit der Revision macht die Beklagte geltend, das Oberverwaltungsgericht habe den Begriff des Ansteckungsverdächtigen fehlerhaft ausgelegt und angewandt. Es müsse auf die Eigenheiten der jeweiligen Infektionskrankheit einschließlich der epidemiologischen Erkenntnisse abgestellt werden. Wegen der hohen Ansteckungsfähigkeit von Masern habe bei dem Kläger ein konkreter Ansteckungsverdacht bestanden. Entgegen dem Oberverwaltungsgericht könne die Bestimmung von Kontaktpersonen nicht allein an dem Indexfall in der Grundschule festgemacht werden. Entscheidend für die Einbeziehung der Gesamtschule in die Schutzmaßnahmen sei der Umstand gewesen, dass sich die beiden Schülerpopulationen infolge der gemeinsam genutzten Bushaltestelle durchmischt hätten. Soweit das Oberverwaltungsgericht eine Befragung des Klägers nach seinen Kontakten zu dem erkrankten Grundschüler verlange, überspanne es die Anforderungen, die in einem aktuellen Ausbruchsgeschehen an die Feststellung des Ansteckungsverdachts zu stellen seien. Wegen der Eilbedürftigkeit und der möglichen Vielzahl der Betroffenen sei die Behörde berechtigt, von individuellen Anhörungen und Gefährdungsermittlungen abzusehen.
Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil.
Der Vertreter des Bundesinteresses ist der Auffassung, § 28 Abs. 1 IfSG sei eine Generalklausel, die gewährleisten solle, dass die Gesundheitsbehörden bei Infektionsgefahren wirksame Abwehrmaßnahmen ergreifen könnten. Bei einem Masernausbruch in einer Gemeinschaftseinrichtung sei es aufgrund epidemiologischer Erkenntnisse sachlich vertretbar, alle Besucher der Einrichtung als denkbare Kontaktpersonen anzusehen und demzufolge die für eine Infektion empfänglichen Personen als Ansteckungsverdächtige zu betrachten. Der Fall des Klägers liege allerdings insofern anders, als der Indexfall in einer organisatorisch angegliederten Nachbarschule aufgetreten sei. Entscheidend sei, ob nach dem Kenntnisstand der Behörde ein ausreichender Grad an Wahrscheinlichkeit bestanden habe, dass der Kläger Masernviren aufgenommen haben könnte. Hierfür genüge eine einfache Wahrscheinlichkeit.
Die Revision ist unbegründet. Das Berufungsurteil beruht nicht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass das gegenüber dem Kläger ausgesprochene Schulbetretungsverbot materiell rechtswidrig war (2.). Darüber hinaus erweist sich die Maßnahme wegen eines Anhörungsmangels auch als formell rechtswidrig (1.).
1. Das Schulbetretungsverbot war verfahrensfehlerhaft, weil es ohne die erforderliche Anhörung des Klägers bzw. seiner Erziehungsberechtigten angeordnet wurde.
a) Gemäß § 28 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes (VwVfG) i.V.m. § 1 Abs. 1 des Niedersächsischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (NVwVfG) ist vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in die Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Das ist hier nicht geschehen.
Namentlich ist eine Anhörung nicht durch das Rundschreiben der Beklagten vom 31. Mai 2007 bewirkt worden, das lediglich allgemeine Informationen und Hinweise für die Elternschaft und die Beschäftigten der Gesamtschule zu dem an der Grundschule festgestellten Masernfall und dem beabsichtigten behördlichen Vorgehen enthielt. Dem Schreiben konnte nicht, wie es eine Anhörung im Sinne von § 28 Abs. 1 VwVfG erfordert, die Ankündigung entnommen werden, dass in einem konkreten Einzelfall der Erlass eines bestimmten Verwaltungsakts beabsichtigt sei. Es fehlten die erforderliche Individualisierung des Adressaten sowie die Konkretisierung der beabsichtigten behördlichen Maßnahme, ohne die der mit der Anhörung verfolgte Zweck ins Leere geht, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.
b) Die Beklagte durfte von der Anhörung nicht nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 NVwVfG absehen. Hiernach ist eine Anhörung entbehrlich, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten ist, weil eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug notwendig erscheint. Eine solche Dringlichkeit lag nach den bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) nicht vor.
Gefahr im Verzug im Sinne von § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG ist anzunehmen, wenn durch eine vorherige Anhörung auch bei Gewährung kürzester Anhörungsfristen ein Zeitverlust einträte, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass die behördliche Maßnahme zu spät käme, um ihren Zweck noch zu erreichen. Ob eine sofortige Entscheidung objektiv notwendig war oder die Behörde eine sofortige Entscheidung zumindest für notwendig halten durfte, ist vom Gericht aus ex-ante-Sicht zu beurteilen (Urteil vom 15. Dezember 1983 - BVerwG 3 C 27.82 - BVerwGE 68, 267 <271 f.> = Buchholz 316 § 28 VwVfG Nr. 9 S. 18). Hierbei ist wegen der Bedeutung des Anhörungsrechts als tragendem Prinzip des rechtsstaatlichen Verfahrens ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Aufl. 2011, § 28 Rn. 3 und Rn. 46 m.w.N.). Richtig ist, dass das Auftreten eines Masern-Indexfalls wegen der hohen Ansteckungsfähigkeit der Erreger und der Gefahr schwerer Krankheitsverläufe ein schnelles Eingreifen der Behörde verlangt. Das kann es rechtfertigen, die aus ihrer Sicht erforderlichen Schutzmaßnahmen ohne vorherige Anhörung der betroffenen Person anzuordnen, wenn sich der Zweck, eine (weitere) Ausbreitung der Infektion zu verhindern, andernfalls nicht erreichen ließe. Jedoch hat die Behörde auch bei infektionsschutzrechtlichen Sachverhalten anhand der konkreten Einzelfallumstände zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für ein Absehen von der Anhörung vorliegen.
Im Zeitpunkt der Anordnung des Schulbetretungsverbots am 5. Juni 2007 waren die Kontrolle der Impfausweise sowie die Durchführung der Schutzimpfungen in der Schule des Klägers nahezu abgeschlossen. Insgesamt neun Schüler und Schülerinnen der Gesamtschule hatte die Beklagte als "ungeschützt" eingestuft, weil sie weder an Masern vorerkrankt waren oder nach dem Impfpass über einen ausreichenden Impfschutz verfügten, noch an der von der Beklagten angebotenen postexpositionellen Impfung teilgenommen hatten. Aus Sicht der Beklagten stand demnach der Erlass von maximal neun Schulbetretungsverboten im Raum. Hiernach spricht vieles dafür, dass die Beklagte zu Unrecht annahm, wegen Gefahr in Verzug auf eine vorherige Anhörung des Klägers bzw. seiner Erziehungsberechtigten (vgl. § 12 VwVfG) verzichten zu dürfen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Anordnung des Betretungsverbots unaufschiebbar war und zuvor nicht die Mutter des Klägers hätte zumindest mündlich (telefonisch) angehört werden können. Dadurch wäre nur eine geringe zeitliche Verzögerung eingetreten, die nicht erkennen lässt, dass das Ziel der Beklagten gefährdet gewesen wäre, eine weitere Ausbreitung der Maserninfektion zu verhindern. Ebenso wenig ist davon auszugehen, dass der Beklagten wegen des Infektionsgeschehens der personelle und zeitliche Aufwand für die Anhörung unzumutbar war. Das Oberverwaltungsgericht hat festgestellt, dass ihr angesichts von lediglich neun Schülern, die eine Schutzimpfung abgelehnt hatten, der Ermittlungsaufwand zur Abklärung infektionsrelevanter Kontakte zuzumuten gewesen wäre. Für die vorherige Anhörung kann nichts anderes gelten, zumal der Beklagten freistand, gegebenenfalls die Schule damit zu beauftragen.
Jedenfalls aber durfte die Beklagte ohne vorherige Anhörung lediglich eine vorläufige Entscheidung treffen. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit war sie verpflichtet, ihr Eingreifen zunächst auf solche Maßnahmen zu beschränken, die ohne jegliche Verzögerung erforderlich erschienen (Urteil vom 15. Dezember 1983 a.a.O. S. 272 bzw. S. 20; Kopp/Ramsauer, a.a.O. Rn. 55). Zur Abwehr der von der Beklagten besorgten Verbreitung des Masernerregers durch den Kläger hätte es zunächst ausgereicht, ihn nach Hause zu schicken und ein vorläufiges Schulbetretungsverbot für den 5. Juni 2007 auszusprechen. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die Anhörung nicht im Laufe des Tages hätte nachgeholt werden können. Im Anschluss hätte die Beklagte - unter Einbeziehung der aus der Anhörung gewonnenen Erkenntnisse - endgültig entscheiden können, ob und gegebenenfalls welche Schutzmaßnahme zu treffen ist.
Ohne Erfolg bleibt der Einwand der Beklagten, in Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen lasse sich fast nie sicher feststellen, ob und welche Schüler einen infektionsrelevanten Kontakt gehabt hätten, weil sich Erinnerungslücken nicht ausschließen ließen. Damit lässt sich ein Absehen von der Anhörung schon deshalb nicht rechtfertigen, weil darin unter den gegebenen Umständen eine unzulässige Vorwegnahme des Ergebnisses der Anhörung liegt. Die Beklagte durfte nicht von vornherein ausschließen, dass der Kläger bzw. seine Erziehungsberechtigten sich entscheidungserheblich zu dem Sachverhalt äußern würden.
c) Der Anhörungsmangel ist auch nicht gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 NVwVfG geheilt worden. Eine Heilung setzt voraus, dass die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Äußerungen und Stellungnahmen von Beteiligten im gerichtlichen Verfahren erfüllen diese Voraussetzungen nicht (Urteil vom 24. Juni 2010 - BVerwG 3 C 14.09 - BVerwGE 137, 199 = Buchholz 442.01 § 13 PBefG Nr. 38
d) Schließlich liegt kein Anwendungsfall des § 46 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 NVwVfG vor. Nach dieser Bestimmung kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 44 VwVfG nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Offen bleiben kann, ob § 46 VwVfG - wofür einiges spricht - außer bei Anfechtungsklagen auch Anwendung findet, wenn wie hier die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts begehrt wird (bejahend etwa Schemmer, in: Bader/Ronellenfitsch, Beck'scher Online-Kommentar VwVfG, Stand: 1. Januar 2012, § 46 Rn. 9; Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 46 Rn. 43; offen gelassen im Urteil vom 15. Dezember 1983 a.a.O. S. 276 bzw. S. 21 f.). Jedenfalls ist nicht offensichtlich, dass der Anhörungsmangel die von der Beklagten getroffene Entscheidung nicht beeinflusst hat.
Es ist nicht jeglicher Zweifel ausgeschlossen, dass die Beklagte ohne den Verfahrensfehler genauso entschieden hätte (zur hierfür anzustellenden hypothetischen Betrachtung vgl. Urteil vom 24. Juni 2010 a.a.O. Rn. 40 ff.; Urteil vom 9. August 2007 - BVerwG 1 C 47.06 - BVerwGE 129, 162 = Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 49
2. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, das Schulbetretungsverbot erweise sich als materiell rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 IfSG nicht vorgelegen hätten, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
a) Maßgeblich ist das Infektionsschutzgesetz in der bei Erlass des Betretungsverbots gültigen Fassung der Änderungsverordnung vom 31. Oktober 2006 (Art. 57 der 9. Zuständigkeitsanpassungsverordnung, BGBl I S. 2407). Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 IfSG trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, die notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.
aa) Mit dem an der Grundschule aufgetretenen Masernfall war eine an einer übertragbaren Krankheit (§ 2 Nr. 3, § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. h IfSG) erkrankte Person und damit ein Kranker im Sinne von § 2 Nr. 4 IfSG festgestellt worden. Demzufolge war die Beklagte zum Handeln verpflichtet (gebundene Entscheidung).
bb) Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen - "wie" des Eingreifens - ist der Behörde, wie bereits ausgeführt, Ermessen eingeräumt (BRDrucks 566/99 a.a.O.). Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um "notwendige Schutzmaßnahmen" handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BTDrucks 8/2468 S. 27
cc) Wird ein Kranker, Krankheitsverdächtiger, Ansteckungsverdächtiger oder Ausscheider festgestellt, begrenzt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG den Handlungsrahmen der Behörde nicht dahin, dass allein Schutzmaßnahmen gegenüber der festgestellten Person in Betracht kommen. Die Vorschrift ermöglicht Regelungen gegenüber einzelnen wie mehreren Personen. Vorrangige Adressaten sind die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG benannten Personengruppen. Bei ihnen steht fest oder besteht der Verdacht, dass sie Träger von Krankheitserregern sind, die bei Menschen eine Infektion oder eine übertragbare Krankheit im Sinne von § 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSG verursachen können. Wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten, sind sie nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts als "Störer" anzusehen (vgl. zuletzt Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze, BTDrucks 17/5708 S. 19
Weil bei Menschenansammlungen Krankheitserreger besonders leicht übertragen werden können, stellt § 28 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 IfSG klar, dass Anordnungen auch gegenüber Veranstaltungen oder sonstigen Zusammenkünften von Menschen sowie gegenüber Gemeinschaftseinrichtungen ergehen können ("Schutzmaßnahmen gegenüber der Allgemeinheit", BTDrucks 8/2468 S. 27 f.; BRDrucks 566/99 S. 169 f.). Schließlich können (sonstige) Dritte ("Nichtstörer") Adressat von Maßnahmen sein, beispielsweise um sie vor Ansteckung zu schützen (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 IfSG; BTDrucks 8/2468 S. 27; Bales/Baumann, IfSG, 2001, § 28 Rn. 3).
dd) Notwendige Schutzmaßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG kann auch ein Schulbetretungsverbot sein. Aus den speziellen Vorschriften für Schulen und sonstige Gemeinschaftseinrichtungen in §§ 33 ff. IfSG ergeben sich insoweit keine Beschränkungen. Die Regelungen in §§ 33 ff. IfSG sind nicht abschließend. Das bringt bereits die Überschrift zum 6. Abschnitt zum Ausdruck ("Zusätzliche Vorschriften für Schulen und Gemeinschaftseinrichtungen") und findet Bestätigung in den Gesetzesmaterialien (vgl. BTDrucks 8/2468 S. 29). Das gilt auch für den Fall des Auftretens von Masern an einer Schule. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 i.V.m. Satz 2 IfSG besteht kraft Gesetzes ein Schulbetretungsverbot für Schüler, die an Masern erkrankt sind oder krankheitsverdächtig sind. § 34 Abs. 3 Nr. 7 IfSG erweitert das Verbot auf Schüler, in deren Wohngemeinschaft eine Masernerkrankung oder ein Verdacht auf Masern aufgetreten ist. Der Gesetzgeber hat zwar davon abgesehen, das gesetzliche Schulbetretungsverbot auf sonstige ansteckungsverdächtige Angehörige einer Gemeinschaftseinrichtung auszudehnen (vgl. zuletzt BTDrucks 17/5708 a.a.O.). Gleichwohl sieht er die Gefahr, dass in Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen Kinder und Jugendliche täglich miteinander und mit dem betreuenden Personal in engen Kontakt kommen und dass solche Kontakte die Übertragung von Krankheitserregern begünstigen (BRDrucks 566/99 S. 172). Er hat deshalb den Gesundheitsbehörden mit der allgemeinen Ermächtigung zu Schutzmaßnahmen nach § 28 Abs. 1 IfSG bewusst die Möglichkeit eingeräumt, über den Adressatenkreis des § 34 IfSG hinaus Schulbetretungsverbote zu erlassen (vgl. BTDrucks 8/2468 a.a.O.
Ein auf § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestütztes Betretungsverbot gegenüber Ansteckungsverdächtigen kann namentlich in Betracht kommen, wenn in einer Schule oder sonstigen Gemeinschaftseinrichtung eine hoch infektiöse Krankheit wie die Masern ausgebrochen ist, deren Erreger von einer Person bereits übertragen werden können, bevor bei ihr Krankheitssymptome erkennbar sind. Dabei können mit einem Schulbetretungsverbot auch Ansteckungsverdächtige belegt werden, die zuvor die Teilnahme an einer von der Gesundheitsbehörde angebotenen postexpositionellen Masern-Schutzimpfung (Riegelungsimpfung) abgelehnt haben. Der Einwand, von dem Betretungsverbot gehe eine unzulässige indirekte Impfpflicht ("faktischer Impfzwang") aus, geht fehl. Das Angebot, an einer nach dem Stand der medizinischen und epidemiologischen Wissenschaft (vgl. § 1 Abs. 2 IfSG) empfohlenen Schutzimpfung (§ 2 Nr. 9 IfSG) teilzunehmen, ist eine zulässige Schutzmaßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 IfSG. Eine Riegelungsimpfung dient dazu, eine Weiterverbreitung des Masernerregers zu verhindern, indem sie einen Beitrag zur Unterbrechung der Infektionskette leistet. Zugleich entfaltet eine rechtzeitige Impfung auch Schutzwirkungen zugunsten des Geimpften selbst, weil ein Krankheitsausbruch unterdrückt werden kann. Angesichts der Freiwilligkeit einer Teilnahme an der Schutzimpfung bleibt das Recht des Betroffenen gewahrt, sich nicht impfen zu lassen. Es ist auch nicht zu erkennen, dass die mit dem Betretungsverbot verbundenen Beeinträchtigungen einen Belastungsgrad erreichen, der den Betroffenen gegen seinen Willen zur Teilnahme an der Impfung drängen könnte. Der Betroffene muss sich lediglich kurzfristig von der Gemeinschaftseinrichtung (Schule) fernhalten. Soweit Unterrichtsstoff versäumt wird und nicht bereits während der Abwesenheitszeit zuhause aufbereitet werden kann, ist der Stoff regelmäßig ohne größere Schwierigkeiten nachholbar; die Situation stellt sich nicht anders dar als bei kurzzeitigen krankheitsbedingten Fehlzeiten.
b) Das Oberverwaltungsgericht ist revisionsrechtlich fehlerfrei davon ausgegangen, dass das gegenüber dem Kläger angeordnete Betretungsverbot in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG keine Rechtsgrundlage findet, weil weder die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme des Klägers als Störer noch als Nichtstörer gegeben waren und es sich daher bei dem Betretungsverbot nicht um eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne der Norm handelte.
aa) Unstreitig war der Kläger im Zeitpunkt des Verbots nicht an Masern erkrankt, Krankheitsverdächtiger oder Ausscheider. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger könne auch nicht als Ansteckungsverdächtiger angesehen werden, ist nicht zu beanstanden. Es hat den Begriff des Ansteckungsverdächtigen ohne Verstoß gegen Bundesrecht ausgelegt und auf den Fall des Klägers angewandt.
Ansteckungsverdächtiger ist nach der Legaldefinition in § 2 Nr. 7 IfSG eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Die Aufnahme von Krankheitserregern ist im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG "anzunehmen", wenn der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Kontakt zu einer infizierten Person oder einem infizierten Gegenstand hatte (Bales/Baumann, a.a.O. § 2 Rn. 13; Schumacher/Meyn, Bundes-Seuchengesetz, 2. Aufl., 1982, § 2 S. 10). Die Vermutung, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, muss naheliegen. Eine bloß entfernte Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Demzufolge ist die Feststellung eines Ansteckungsverdachts nicht schon gerechtfertigt, wenn die Aufnahme von Krankheitserregern nicht auszuschließen ist (anders die abweichende Formulierung in § 1 Abs. 2 Nr. 7 des Tierseuchengesetzes - TierSG - zur Legaldefinition des ansteckungsverdächtigen Tieres). Andererseits ist auch nicht zu verlangen, dass sich die Annahme "geradezu aufdrängt". Erforderlich und ausreichend ist, dass die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil (so im Ergebnis auch Urteil vom 15. Februar 2001 - BVerwG 3 C 9.00 - Buchholz 418.6 TierSG Nr. 17 S. 3 = juris Rn. 15 a.E.
bb) Für die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckungsgefahr gilt allerdings kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Die Rechtsprechung des Senats zu § 1 Abs. 2 Nr. 7 TierSG a.F. (Urteil vom 15. Februar 2001 a.a.O. S. 3 f. bzw. Rn. 16) lässt sich auf den Ansteckungsverdacht im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG nicht übertragen. Vielmehr ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts um so geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (z.B. Urteil vom 26. Februar 1974 - BVerwG 1 C 31.72 - BVerwGE 45, 51 <61>; Beschluss vom 13. Mai 1983 - BVerwG 7 B 35.83 - Buchholz 451.22 AbfG Nr. 14 S. 32). Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§ 1 Abs. 1, § 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt. Das Beispiel zeigt, dass es sachgerecht ist, einen am Gefährdungsgrad der jeweiligen Erkrankung orientierten, "flexiblen" Maßstab für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.
cc) Ob gemessen daran ein Ansteckungsverdacht im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG zu bejahen ist, beurteilt sich unter Berücksichtigung der Eigenheiten der jeweiligen Krankheit und der verfügbaren epidemiologischen Erkenntnisse und Wertungen sowie anhand der Erkenntnisse über Zeitpunkt, Art und Umfang der möglichen Exposition der betreffenden Person und über deren Empfänglichkeit für die Krankheit. Davon ist auch das Oberverwaltungsgericht ausgegangen. Es hat dabei zu Recht darauf abgestellt, dass das zugrunde liegende Erkenntnismaterial belastbar und auf den konkreten Fall bezogen sein muss. Die Feststellung eines Ansteckungsverdachts setzt voraus, dass die Behörde zuvor Ermittlungen zu infektionsrelevanten Kontakten des Betroffenen angestellt hat; denn ohne aussagekräftige Tatsachengrundlage lässt sich nicht zuverlässig bewerten, ob eine Aufnahme von Krankheitserregern anzunehmen ist. Die Ermittlungspflicht der Behörde folgt bereits aus dem allgemein für das Verwaltungsverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 24 Abs. 1 VwVfG). Sie lässt sich darüber hinaus aus § 25 Abs. 1 IfSG ableiten. Nach dieser Bestimmung stellt das Gesundheitsamt die erforderlichen Ermittlungen insbesondere über Art, Ursache, Ansteckungsquelle und Ausbreitung der Krankheit an, wenn Anhaltspunkte für einen Krankheits-, Krankheitsverdachts-, Ansteckungsverdachts- oder Ausscheidungsfall vorliegen. Zur Systematik von § 25 und § 28 IfSG heißt es in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich, dass vor der Anordnung von Schutzmaßnahmen regelmäßig Ermittlungen angestellt werden müssen, um die Annahme eines Krankheits- oder Ansteckungsverdachts abzusichern (BTDrucks 8/2468 S. 26
Die Behörde entscheidet über Art und Umfang der Ermittlungen (§ 24 Abs. 1 Satz 2 VwVfG). Die gebotene Ermittlungstiefe zu möglichen Kontakten des Betroffenen mit infizierten Personen oder Gegenständen wird insbesondere durch die Eigenheiten der Krankheit, namentlich die Ansteckungsfähigkeit des Krankheitserregers, sowie durch die epidemiologischen Erkenntnisse vorgegeben. Die Ermittlungen können danach von Fall zu Fall mehr oder weniger intensiv ausfallen.
dd) Hiernach war der Kläger auf der Grundlage der berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht Ansteckungsverdächtiger im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG. Das Oberverwaltungsgericht hat ohne Bundesrechtsverstoß angenommen, dass die Beklagte nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen konnte, der Kläger habe Kontakt mit einer infizierten Person gehabt. Es hat bindend festgestellt, dass die von der Beklagten zugrunde gelegten Prämissen für infektionsrelevante Kontakte zwischen den Schülern der mehrere hundert Meter voneinander getrennt liegenden Schulen auf den Kläger allenfalls zu einem geringen Teil zutrafen. Der Kläger war weder "Fahr-" noch "Kochschüler"; er hatte auch keine sonstigen privaten Kontakte zum Masern-Indexfall an der Grundschule. Lediglich über eine etwaige Bibliotheksnutzung bestand die Möglichkeit, dass der Kläger auf einen potentiell ansteckenden Grundschüler getroffen sein könnte. Das Oberverwaltungsgericht hat zudem zugrunde gelegt, dass die Beklagte für ihre Entscheidung darauf abgestellt hatte, ob der Kläger als Kontaktperson 1. Grades anzusehen war. Darunter verstand sie in Bezug auf die Schülerschaft an der Gesamtschule - wie sich an ihrem im angegriffenen Urteil wiedergegebenen Berufungsvorbringen einschließlich ihrer Erläuterungen zur Einordnung der Lehrer an der Gesamtschule als Kontaktpersonen 2. Grades zeigt - Personen, die unmittelbar Kontakt zu dem erkrankten Grundschüler oder sonstigen Grundschülern hatten. Das Oberverwaltungsgericht hat daraus vertretbar geschlossen, dass ein Ansteckungsverdacht bei dem Kläger lediglich zu vermuten, jedoch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festzustellen war. Eine Verletzung von Beweisregeln, allgemeinen Erfahrungssätzen oder Denkgesetzen, die allein einen revisionsrechtlich beachtlichen Rechtsfehler begründen könnte, ist darin nicht zu erkennen. Ein Ansteckungsverdacht ließ sich nach den epidemiologisch-statistischen Berechnungen der Beklagten zwar nicht von vornherein ausschließen. Jedoch war aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls (getrennte Schulen; begrenzte Durchmischung der beiden Schülerpopulationen; marginale Kontaktpunkte des Klägers mit Grundschülern) die Annahme, der Kläger habe Krankheitserreger aufgenommen, nicht wahrscheinlicher als das Gegenteil. Anderes musste sich dem Oberverwaltungsgericht auch nicht in Ansehung der Inkubationszeit und der Dauer der Ansteckungsfähigkeit bei Masern aufdrängen. Die Inkubationszeit, also die Zeit zwischen Ansteckung (Infektion) und Ausbruch des Exanthems (Ausschlags), liegt zwischen 7 bis zu 18 Tagen. Für die Ansteckungsfähigkeit werden als wahrscheinlicher Beginn 5 Tage vor Auftreten des Exanthems angesetzt und als wahrscheinliches Ende 4 Tage nach dessen Auftreten (vgl. dazu Niedersächsisches Landesgesundheitsamt, Leitfaden für das Management von Masernfällen, Stand: 1. Oktober 2007, Bl. 447 der Gerichtsakte; veröffentlicht auf der Homepage des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes = www.nlga.niedersachsen.de/portal). Auch unter Berücksichtigung der von der Beklagten angenommenen Durchmischung der Schülerpopulationen war ausgehend von dem Beginn des Exanthems bei dem Indexfall am 28. Mai 2007 unter den genannten Umständen nicht hinreichend wahrscheinlich, dass wenige Tage später bei einem ungeimpften Gesamtschüler, der - wie der Kläger - keinen relevanten unmittelbaren Kontakt zu dem erkrankten Grundschüler hatte, bereits über Kontaktpersonen 2. Grades - also Mitschüler des Klägers, die sich ihrerseits bei dem Indexfall angesteckt haben - ein infektionsrelevanter Kontakt stattgefunden hatte. Die Beklagte kann sich daher auch nicht mit Erfolg darauf berufen, (weitere) Ermittlungen zur Kontaktsituation des Klägers seien nicht veranlasst gewesen. Eine Sachverhaltsaufklärung war, wie bereits ausgeführt, nach § 28 Abs. 1 IfSG vorausgesetzt und der Beklagten angesichts der begrenzten Zahl von neun betroffenen Schülern auch zumutbar. Etwas anderes würde erst dann gelten, wenn aufgrund der Anzahl der betroffenen Schüler und der seit dem Indexfall verstrichenen (Inkubations-)Zeit nicht mehr lediglich über einen unmittelbaren Kontakt zu dem erkrankten Schüler, sondern auch bereits über Kontaktpersonen 2. Grades oder weitere Personen eine Ausbreitung und Ansteckung möglich erscheint. Mit einer derart flächenhaften Ausbreitung des Erregers war die Behörde hier indes - auch nach ihrer eigenen Einschätzung - nicht konfrontiert.
ee) Ebenso wenig lagen die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme des Klägers als Nichtstörer vor. Das Schulbetretungsverbot erweist sich auch insoweit nicht als notwendige Schutzmaßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Unabhängig davon hat das Oberverwaltungsgericht zutreffend angenommen, dass es an der Ausübung des erforderlichen Auswahlermessens fehlte.