Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 14.04.2011


BGH 14.04.2011 - 2 StR 65/11

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern: Zungenkuss als dem Beischlaf ähnliche Handlung


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
14.04.2011
Aktenzeichen:
2 StR 65/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Kassel, 9. Dezember 2010, Az: 4653 Js 3707/10 - 6 (10) KLs, Urteil
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Ein "Zungenkuss" ist in der Regel keine dem Beischlaf ähnliche Handlung im Sinne von § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB .

Tenor

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 9. Dezember 2010 dahin geändert, dass

1. der Angeklagte des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei Fällen und des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in einem Fall schuldig ist,

2. der Angeklagte im Fall II.1. der Urteilsgründe zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wird.

II. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

III. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet.

I.

2

Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es in den Jahren von 2007 bis 2009 zu vier Taten zum Nachteil der am 22. Juli 2000 geborenen Geschädigten. Die erste Tat bestand darin, dass der Angeklagte der Geschädigten einen "Zungenkuss" gab, den das Kind als "eklig" empfand. Bei der zweiten und dritten Tat führte der Angeklagte jeweils einen Finger in Scheide und After des Kindes ein. Bei der vierten Tat kam es zum Eindringen mit dem Finger in die Scheide.

3

Das Landgericht hat alle Taten als schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB angesehen und den Fall des "Zungenkusses" als minderschweren Fall im Sinne von § 176a Abs. 4 Halbs. 2 StGB bewertet, weil die Schwelle der Erheblichkeit der sexuellen Handlung im Sinne von § 184g Nr. 1 StGB nur leicht überschritten worden sei. Für diese Tat hat das Landgericht eine Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verhängt, für die zweite und dritte Tat jeweils Einzelfreiheitsstrafen von drei Jahren und für die vierte Tat eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Daraus hat es die Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten gebildet.

II.

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Die Revision ist nur zu einem geringen Teil begründet. Die Verfahrensrüge ist nicht ausgeführt worden und daher unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Sachrüge führt im Fall II.1. der Urteilsgründe zu einer Änderung des Schuldspruchs und des Ausspruchs über die Einzelstrafe. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

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1. Der Schuldspruch ist dahin zu ändern, dass im Fall II.1. der Urteilsgründe nur das Grunddelikt nach § 176 Abs. 1 StGB, nicht aber die Qualifikation gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB erfüllt ist. Im Übrigen ist der Schuldspruch rechtlich nicht zu beanstanden.

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Rechtsfehlerfrei ist die Bewertung der Handlungen in den Fällen II.2. bis II.4. der Urteilsgründe jeweils als schwerer sexueller Missbrauch eines Kindes im Sinne von § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB. Erforderlich ist dafür, dass der über achtzehn Jahre alte Täter mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Zwar ist nicht jedes Eindringen in den Körper ausreichend, sondern nur eine dem Beischlaf "ähnliche Handlung". Davon werden andererseits nicht ausschließlich Fälle des Oral- oder Analverkehrs erfasst, also nur ein Eindringen mit dem männlichen Glied. Auch das Eindringen mit anderen Körperteilen oder mit Gegenständen in den Körper kann im Einzelfall genügen (vgl. BGH, Urteil vom 18. November 1999 - 4 StR 389/99, NJW 2000, 672 f. mit Anm. Renzikowski NStZ 2000, 367 f.). Erforderlich ist aber, dass die sexuelle Handlung mit Blick auf das geschützte Rechtsgut, nämlich die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern (Senat, Beschluss vom 19. Dezember 2008 - 2 StR 383/08, BGHSt 53, 118, 119), ähnlich schwer wiegt wie eine Vollziehung des Beischlafs. Dies ist bei einem Eindringen mit dem Finger in Scheide oder After des Kindes anzunehmen (vgl. LK/Hörnle, StGB, § 176a Rn. 27; SK/Wolters, StGB, 124. Lfg. 2010 § 176a Rn. 16; aA Folkers JR 2007, 11, 14).

7

Anders liegt es im Fall II.1. der Urteilsgründe, bei dem die Tat sich in einem "Zungenkuss" erschöpft hat. Dieser kann zwar als sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit im Sinne von §§ 176 Abs. 1, 184g Nr. 1 StGB (differenzierend OLG Brandenburg NStZ-RR 2010, 45 f.), die auch mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, jedoch nicht als eine zugleich "dem Beischlaf ähnliche" Handlung angesehen werden. Dagegen spricht schon das äußere Erscheinungsbild der Handlung, an der - anders als bei dem beischlafähnlichen Anal- oder Oralverkehr (vgl. dazu BGH Beschluss vom 14. September 1999 - 4 StR 381/99, BGHR StGB, § 176a Abs. 1 Nr. 1 Sexuelle Handlung 1) - kein primäres Geschlechtsorgan beteiligt ist. Soweit § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB auch deskriptive Elemente enthält, liegt die Gleichsetzung des Zungenkusses mit dem Beischlaf schon begrifflich fern. Die Ähnlichkeit der sexuellen Handlung mit dem Beischlaf ist aber vor allem auch an der Gewichtung der Rechtsgutsverletzung zu messen. Geschütztes Rechtsgut ist in den Fällen des § 176a StGB die ungestörte sexuelle Entwicklung des Kindes (Senat, Urteil vom 16. Juni 1999 - 2 StR 28/99, BGHSt 45, 131, 132; Beschluss vom 19. Dezember 2008 - 2 StR 383/08, BGHSt 53, 118, 119). Der Zungenkuss wirkt hierauf regelmäßig nicht so intensiv ein wie ein Vaginal-, Oral- oder Analverkehr. Schließlich ergibt sich auch aus den Gesetzesmaterialien nicht, dass der Gesetzgeber den Fall des Zungenkusses der Norm unterwerfen wollte (vgl. BT-Drucks. 13/8587 S. 31 f.; zuvor BT-Drucks. 13/2463 S. 7 und 13/7324 S. 6, jeweils zu § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB). Der Senat nimmt daher im Einklang mit der in der Literatur vorherrschenden Ansicht (vgl. Fischer, StGB, 58. Aufl. § 176a Rn. 8; LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl. § 176a Rn. 27; Perron/Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. § 176a Rn. 8; Renzikowski NStZ 2000, 367 f.; SK/Wolters aaO § 176a Rn. 16; Ziegler in v. Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB 2011 § 176a Rn. 12; weitergehend Folkers JR 2007, 11 ff.; aA NK/Frommel, StGB, 2009 § 176a Rn. 11; Laubenthal, Sexualstraftaten; Die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 2000, Rn. 382) an, dass der "Zungenkuss" in der Regel keine dem Beischlaf ähnliche Handlung im Sinne des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB ist. Ob unter besonderen Umständen in extremen Ausnahmefällen etwas anderes gelten kann, kann hier offen bleiben.

8

Rechtsprechung anderer Strafsenate des Bundesgerichtshofs steht nicht entgegen. Der 5. Strafsenat hat in seinem Beschluss vom 21. Mai 2008 - 5 StR 197/08 die Beweiswürdigung des Tatgerichts beanstandet und das angefochtene Urteil deshalb aufgehoben. Die Einordnung des "Zungenkusses" als eine dem Beischlaf ähnliche Handlung war dort keine tragende Erwägung. Der 4. Strafsenat hat in seinem Urteil vom 18. November 1999 - 4 StR 389/99 (NJW 2000, 672 f.) andere Formen des Eindringens in den Körper als beim Oral- oder Analverkehr "mit Ausnahme des Zungenkusses" als dem Beischlaf ähnliche Handlungen bezeichnet.

9

Es bleibt daher im Fall II.1. der Urteilsgründe bei der Erfüllung des Grundtatbestands nach § 176 Abs. 1 StGB. Der Senat ändert insoweit den Schuldspruch ab. Eines rechtlichen Hinweises nach § 265 Abs. 1 StPO bedarf es beim Wegfall einer Qualifikation nicht (vgl. BGH Beschluss vom 23. April 2002 - 3 StR 505/01, BGHR StPO, § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 16).

10

2. Der Senat setzt die Einzelstrafe für den Fall II.1. nach der Schuldspruchänderung auf die Mindeststrafe gemäß § 176 Abs. 1 StGB in der ab 1. April 2004 und damit auch für die Tatzeit geltenden Fassung des Gesetzes auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten fest, weil die sexuelle Handlung die Schwelle zur Erheblichkeit im Sinne von § 184g Nr. 1 StGB nur geringfügig überschritten hatte. Es ist ausgeschlossen, dass die Gesamtstrafe dadurch beeinflusst wird.

Fischer                                            Schmitt                                        Berger

                         Krehl                                            Eschelbach