Entscheidungsdatum: 12.12.2017
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 16. Februar 2017 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zehn Fällen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich seine auf Verfahrensbeanstandungen und die Sachrüge gestützte Revision. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang mit der Sachrüge Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Der Generalbundesanwalt hat ausgeführt:
"Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch.
Der Strafausspruch hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung dagegen nicht stand. Die Ausführungen, mit denen das Landgericht die Annahme voller Schuldfähigkeit begründet hat, sind nicht rechtsfehlerfrei.
Das Landgericht hat ausgeschlossen, dass der Angeklagte bei Begehung der Taten vermindert schuldfähig gewesen wäre (UA S. 8). Bei seiner Bewertung hat es sich auf die 'ausführlichen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen S. ' gestützt (UA S. 8). Dieser hat festgestellt, 'dass bei dem Angeklagten pädophile Neigungen in mindestens einer pädophilen Nebenströmung vorliegen und dass deren Gewichtung unter Berücksichtigung vor allem des massiven Umfangs bei ihm aufgefundenen kinderpornographischen Materials weitaus stärker in Richtung einer Kernpädophilie einzuordnen ist, als in anderen Fällen, in denen Täter, wie der Angeklagte, sexuelles Interesse nicht nur an Kindern, sondern auch an erwachsenen Frauen haben' (UA S. 7). Das Vorliegen einer 'psychischen Störung' bei dem Angeklagten hat er nach den durchgeführten diagnostischen Untersuchungen ausgeschlossen (UA S. 8). Das Landgericht hat diese 'Sichtweise' des Sachverständigen als richtig beurteilt und sieht dieses Ergebnis dadurch bestätigt, dass der Angeklagte 'stets reflektiert handelte, Grenzen der Geschädigten akzeptierte und zugleich darauf bedacht war, die Tatumstände so zu gestalten, dass seine Taten in ihrem eigentlichen Kern lange unentdeckt blieben' (UA S. 8).
Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht von einem falschen rechtlichen Maßstab ausgegangen ist. Die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, bei der Begehung der jeweiligen Tat erheblich vermindert war, besteht in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren (BGH, Urteil vom 25. März 2015 - 2 StR 409/14, NStZ 2015, 688, 689). Zuerst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht, dass sie unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Die anschließende Frage der Erheblichkeit der Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens ist eine Rechtsfrage, die das Tatgericht selbst zu beantworten hat, nicht der Sachverständige (BGHSt 49, 45, 53; BGH aaO). Wird im Einzelfall eine schwere andere seelische Abartigkeit als Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB bejaht, so liegt mit der damit festgestellten Schwere der Abartigkeit auch eine erhebliche Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens gemäß § 21 StGB nahe (vgl. BGH Urteil vom 15. März 2016 - 1 StR 526/15, StV 2017, 29 ff.; BGH aaO).
Mit der Feststellung, dass bei dem Angeklagten 'pädophile Neigungen in Richtung einer Kernpädophilie' vorliegen, konnte sich das Landgericht nicht auf die Mitteilung beschränken, dass der Sachverständige psychische Störungen ausgeschlossen hat (UA S. 8). Abgesehen davon, dass die Ausführungen des Sachverständigen hierzu nicht nachvollziehbar mitgeteilt werden, ist den Urteilsfeststellungen nicht zu entnehmen, ob der Sachverständige neben den festgestellten Persönlichkeitsakzentuierungen bei der Prüfung der psychischen Störungen die festgestellten pädophilen Neigungen des Angeklagten noch im Blick hatte und sich hiermit auch im Einzelnen auseinandergesetzt hat.
Es ist nicht auszuschließen, dass bei ordnungsgemäßer Prüfung eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten anzunehmen ist. Nicht jede Devianz im Sexualverhalten in Form einer Pädophilie ist zwar ohne weiteres gleichzusetzen mit einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB. Es kann auch nur eine gestörte sexuelle Entwicklung vorliegen, die als allgemeine Störung der Persönlichkeit, des Sexualverhaltens oder der Anpassung nicht den Schweregrad einer anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 21 StGB erreicht (BGH Beschluss vom 10. September 2013 - 2 StR 321/13, NStZ-RR 2014, 8, 9). Eine festgestellte Pädophilie kann im Einzelfall aber eine schwere andere seelische Abartigkeit und eine hierdurch erheblich beeinträchtigte Steuerungsfähigkeit begründen, wenn Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch eine abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz der devianten Handlungen, Ausbau des Raffinements und gedankliche Einengung des Täters auf diese Praktik auszeichnen (vgl. BGH Beschluss vom 23. Februar 2017 - 1 StR 362/16, StraFo 2017, 247 ff.; BGH Urteil vom 15. März 2016 - 1 StR 526/15, StV 2017, 29 ff.; BGH Urteil vom 20. März 2015 - 2 StR 409/14, NStZ 2015, 688, 689). Ob die sexuelle Devianz in Form einer Pädophilie einen Ausprägungsgrad erreicht, der dem Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit zugeordnet werden kann, ist aufgrund einer Gesamtschau der Täterpersönlichkeit und seiner Taten zu beurteilen (vgl. BGH Urteil vom 26. Mai 2010 - 2 StR 48/10; BGH Beschluss vom 23. Februar 2017 - 1 StR 362/16, StraFo 2017, 247 ff.). Dabei kommt es darauf an, ob die sexuellen Neigungen die Persönlichkeit des Täters so verändert haben, dass er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen aufzubringen vermag (BGH Urteil vom 15. März 2016 - 1 StR 526/15, StV 2017, 29 ff.).
Es ist nicht auszuschließen, dass die gebotene Gesamtschau der Persönlichkeit des Angeklagten unter Einbeziehung seiner Entwicklung, seines Charakterbildes sowie der ihm zur Last gelegten Taten und der ihnen zugrunde liegenden Motive, vor allem die Verurteilung des Angeklagten wegen des Besitzes kinderpornographischen Bildmaterials, wobei zu berücksichtigen ist, dass das ausgesprochen umfangreiche Bildmaterial im November 2013 und damit in zeitlicher Nähe zum Tatzeitraum bei dem Angeklagten sichergestellt wurde, bereits auf eine gedankliche Einengung des Angeklagten auf sexuelle Handlungen mit Kindern und insoweit süchtige Entwicklung des Angeklagten hindeuten können.
Dabei darf auch die Art und Weise, wie der Angeklagte den sexuellen Kontakt zu dem Kind hergestellt und sodann fortgesetzt hat, nicht unberücksichtigt bleiben. Der Heiratsantrag gegenüber der Mutter und das Schaffen finanzieller Anreize oder Abhängigkeiten (monatliches Haushaltsgeld, Handy) ist in Bezug auf den Ausbau des Raffinements des Angeklagten zur Erlangung ungestörter sexueller Kontakte mit Kindern in den Blick zu nehmen."
Dem kann sich der Senat nicht verschließen.
Der neue Tatrichter wird auch die einbezogenen Einzelstrafen aus dem früheren Urteil in den Urteilsgründen mitzuteilen haben, damit die Gesamtstrafenbildung nachvollzogen werden kann.
RiBGH Dr. Appl ist |
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