Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 04.06.2013


BGH 04.06.2013 - 2 StR 3/13

Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauch von Kindern: Überraschende Vornahme sexueller Handlungen als "Gewalt-Nötigung"


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
04.06.2013
Aktenzeichen:
2 StR 3/13
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Fulda, 11. September 2012, Az: 43 Js 20969/11 - 2 KLs jug
Zitierte Gesetze

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Fulda vom 11. September 2012 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) im Schuldspruch in den Fällen II.2, 4, 6 und 9 der Urteilsgründe

b) im Ausspruch über die Jugendstrafe.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 12 Fällen, versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen, sexueller Nötigung, versuchter sexueller Nötigung, Vergewaltigung in zwei Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

2

Das Landgericht hat im Hinblick auf die Fälle II.2, 4, 6 und 9 der Urteilsgründe folgendes festgestellt:

3

1. Während eines gemeinsamen Urlaubsaufenthalts im Juli 2007 legte sich der damals 18-jährige Angeklagte zu dem 16-jährigen         H.   ins Bett und berührte ihn im Intimbereich. In der Folge drückte der Angeklagte den vor Überraschung zunächst wie gelähmt wirkenden H.   an den Schultern in Richtung seines Genitalbereichs, so dass sich dessen Kopf auf das Glied des Angeklagten zubewegte. Zu einem weiteren körperlichen Kontakt kam es nicht, weil H.   aus dem Bett sprang und flüchtete (Fall II.2 der Urteilsgründe).

4

2. Im Herbst 2007 hatte der damals 18-jährige Angeklagte Besuch von dem 14-jährigen      K.   . Nachdem sich K.   teilweise entkleidet hatte, legte sich der sehr kräftige Angeklagte auf dessen schlanken Körper und kündigte an, dessen Glied in den Mund nehmen zu wollen. Tatsächlich rieb der Angeklagte sein erigiertes Glied am Körper des Jungen, der Angst hatte und sich wehrlos fühlte (Fall II.4 der Urteilsgründe).

5

3. An einem Tag im Sommer 2010 fuhr der damals 21-jährige Angeklagte mit dem 14-jährigen      M.       auf einen abgelegenen Parkplatz. Dort zog er den auf dem Beifahrersitz sitzenden Jungen zu sich herüber, zog diesem die Hose aus und vollzog mit ihm den Analverkehr. Der Junge empfand dabei Schmerzen, was er dem Angeklagten auch mitteilte (Fall II.6 der Urteilsgründe).

6

4. Im August 2011 fuhr der damals 22-jährige Angeklagte mit dem 15-jährigen   He.    in einen Feldweg, wo der Junge aus Angst vor dem Angeklagten dessen Aufforderung nachkam, sich die Hose herunterzuziehen. Der Angeklagte fasste das Glied des Jungen an, der auf Aufforderung des Angeklagten an diesem den Oralverkehr ausübte (Fall II.9 der Urteilsgründe).

II.

7

Der Schuldspruch in den Fällen II.2, 4, 6 und 9 der Urteilsgründe wegen versuchter sexueller Nötigung, sexueller Nötigung und zweimal Vergewaltigung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

8

1. In den Fällen II.2, 4 und 6 der Urteilsgründe sind Nötigungshandlungen durch Gewalt aufgrund der bisherigen Feststellungen nicht hinreichend belegt.

9

a) Im Fall II.2 der Urteilsgründe war der geschädigte H.    von der Situation völlig überrascht und wirkte deshalb wie gelähmt. Das bloße Drücken an der Schulter des Geschädigten ist für sich genommen nicht ohne weiteres als Mittel zur Überwindung eines Widerstands des überraschten Opfers zu werten, der in der konkreten Situation einen Abwehrwillen offenkundig noch nicht gebildet hatte. Die bloße - möglicherweise überraschende - Vornahme einer sexuellen Handlung gegen den Willen eines anderen ist keine "Gewalt-Nötigung" zur Duldung dieser Handlung (BGHSt 31, 76; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 177 Rn. 14). Zudem spricht gegen die gewaltsame Überwindung von geleistetem oder erwartetem Widerstand des Jugendlichen vor allem, dass dieser - ohne dass der Angeklagte ihn daran zu hindern versuchte - aus dem Bett sprang und das Zimmer verlassen konnte. Auch mit diesem Umstand hätte sich die Kammer auseinandersetzen müssen.

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b) Im Fall II.4 der Urteilsgründe kann das Legen auf den Körper des Geschädigten für sich genommen noch nicht die Annahme von Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB begründen. Nicht jede sexuelle Handlung kann, nur weil sie körperlich wirkt, schon als Gewalt zur Erzwingung ihrer Duldung angesehen werden (Fischer, aaO).

11

Warum der Angeklagte in der konkreten Situation - nachdem sich der Junge teilweise entkleidet hatte - von einem entgegen stehenden Willen ausgegangen ist, bedarf eingehenderer Prüfung, zumal es nach Aussage des Jungen bei früheren Gelegenheiten mehrfach zu einvernehmlichen sexuellen Kontakten gekommen war, die auch Oralverkehr beinhalteten.

12

c) Aus den gleichen Gründen kann auch im Fall II.6 der Urteilsgründe das bloße Hinüberheben des Jungen auf den Schoß des Angeklagten noch nicht als Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB angesehen werden. Zwar könnte die erforderliche Gewalthandlung auch darin gelegen haben, dass der Angeklagte den Jungen während der Vornahme des schmerzhaften Analverkehrs weiterhin auf seinen Schoß festhielt; mit dem Festhalten des Jungen als Nötigungsmittel mit Gewalt hat sich das Landgericht bislang aber nicht weiter auseinandergesetzt.

13

2. Im Fall II.9 der Urteilsgründe werden die Feststellungen zu der sexuellen Handlung von der Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils nicht getragen. Während die Strafkammer Oralverkehr des Jungen bei dem Angeklagten feststellt, führt sie im Rahmen der Beweiswürdigung aus, der Geschädigte könne sich an einen stattgefundenen Oralverkehr zwar nicht erinnern, der Angeklagte selbst habe aber eingeräumt, seinerseits Oralverkehr an dem Jungen ausgeführt zu haben. Bereits dieser unaufklärliche Widerspruch führt zur Urteilsaufhebung in diesem Fall. Darüber hinaus wird der neue Tatrichter aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts eingehender als bisher geschehen zu prüfen haben, ob sich das Opfer in einer schutzlosen Lage befunden hat, die der Angeklagte bewusst ausgenutzt hat.

14

3. Die Aufhebung des Schuldspruchs in vier Fällen bedingt auch die Aufhebung der Jugendstrafe. Der neue Tatrichter wird zudem eine mögliche Einbeziehung der durch Urteile des Amtsgerichts Eschwege vom 28. Februar 2011 und des Amtsgerichts Büdingen vom 16. März 2011 verhängten Geldstrafen zu erwägen haben.

Becker                          Fischer                         Appl

               Schmitt                            Ott