Entscheidungsdatum: 28.06.2016
1. Dem Beschwerdeführer wird von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt gegen die Versäumung der Frist
a) zur Nachholung der versäumten Rechtshandlung innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist,
b) zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Gießen vom 30. Januar 2015.
Kosten der Wiedereinsetzung werden nicht erhoben.
2. Mit der Wiedereinsetzung ist der Beschluss des Landgerichts Gießen vom 15. April 2015, mit dem die Revision des Angeklagten als unzulässig verworfen worden ist, gegenstandslos.
3. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat:
Die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision des Angeklagten nach § 345 Abs. 1 StPO beruht auf einem Verteidigerverschulden, welches dem Angeklagten nicht zuzurechnen ist. Es handelt sich um einen Fall des "offenkundigen Mangels" der Verteidigung durch den Pflichtverteidiger, welcher den Anspruch des Angeklagten auf eine wirksame Verteidigung gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK verletzt (vgl. EGMR, Urteil vom 10. Oktober 2002– Nr. 38830/97, NJW 2003, 1229, 1230). Die Verteidigung darf nicht nur formal bestehen.
Nachdem der vom Gericht bestellte Verteidiger namens und im Auftrag des Angeklagten Revision eingelegt hatte, war er mangels Bildung und Bestätigung eines Rücknahmewillens durch den Angeklagten auch verpflichtet, das Rechtsmittel form- und fristgerecht zu begründen. Darauf durfte der Angeklagte trotz des Umstands, dass der Verteidiger bereits im vorangegangenen Revisionsverfahren die Revision nicht (fristgemäß) begründet hatte, auch vertrauen, zumal es aus seiner Sicht – wie es sich seinem Schreiben vom 20. April 2015 entnehmen lässt – keinen Anhalt dafür gab, dass der Verteidiger die Revision nicht ordnungsgemäß begründen würde. Ungeachtet dieser Verpflichtung ist der bestellte Verteidiger untätig geblieben; er hat damit ihm dem Angeklagten gegenüber obliegende Pflichten verletzt und damit dessen Recht auf effektive Verteidigung verletzt.
Auch die Versäumung der Frist zur Nachholung der ursprünglich versäumten Handlung geht auf ein Verschulden des Pflichtverteidigers zurück, das dem Angeklagten nicht zuzurechnen ist. Er hat in Kenntnis seines eigenen Versäumnisses auf die Zustellung des landgerichtlichen Revisionsverwerfungsbeschlusses, die die Frist zur Nachholung der Revisionsbegründung in Gang setzte, nicht reagiert, weshalb die einwöchige Frist ungenutzt verstrichen ist. Er hat auch in der Folge weder auf Anschreiben der Staatsanwaltschaft noch auf die Übersendung des Antrags des Generalbundesanwalts nach § 346 Abs. 2 StPO noch auf eine telefonische Nachfrage des Senats Bemühungen unternommen, die Verteidigung des Angeklagten durch Nachholung der Revisionsbegründung und Stellung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sicherzustellen.
Die dem Landgericht erkennbare Verletzung von Verteidigungsrechten durch den staatlich bestellten Verteidiger verstößt gegen die Gewährleistung aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK und hätte – zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens – im Verfahren vor dem Landgericht zur Entpflichtung des Rechtsanwalts und Beiordnung eines neuen Pflichtverteidigers führen müssen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 143 Rn. 4). Im Revisionsverfahren ist – nachdem der Angeklagte nunmehr einen Wahlverteidiger beauftragt hat – von Amts wegen Wiedereinsetzung in die Frist zur Nachholung der Revisionsbegründung und in die Frist zur Begründung der Revision zu gewähren.
Krehl Eschelbach Ott
Zeng Bartel