Entscheidungsdatum: 08.12.2015
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 26. Januar 2015 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
a) im Fall II.2. b) bb) der Urteilsgründe sowie
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe und im Maßregelausspruch.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 13 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf sachlich-rechtliche Beanstandungen gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der Schuldspruch hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand, soweit das Landgericht den Angeklagten wegen einer zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im Februar oder März 2012 begangenen Tat des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB) – Fall II. 2. b) bb) der Urteilsgründe – verurteilt hat; die Feststellungen belegen nicht zweifelsfrei, dass der Nebenkläger dem Angeklagten auch zu diesem Zeitpunkt noch zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung anvertraut war.
a) Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Das Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft genügt hierfür nicht (BGH, Urteil vom 2. Juni 1999 – 5 StR 112/99, NStZ-RR 1999, 321). Erforderlich ist vielmehr ein Verhältnis, in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten (BGH, Urteil vom 20. September 1988 – 1 StR 383/88, BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 1). Entscheidend ist insoweit nicht, von wem und auf welche Weise der Betreuer bestellt worden ist (BGH, Beschluss vom 31. Januar 1967 – 1 StR 595/65, BGHSt 21, 196, 201; BGH, Urteil vom 5. November 1985 – 1 StR 491/85, 33, 341, 344). Es kann genügen, dass ein Jugendlicher selbst sich einem Erwachsenen zur Betreuung in der Lebensführung gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB anvertraut (BGH, Beschluss vom 21. April 1995 – 3 StR 526/94, BGHSt 41, 137, 139). Erforderlich ist jedoch stets ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der Unter- und Überordnung, die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasst (BGH, Beschluss vom 21. April 1995 – 3 StR 526/94, aaO; Senat, Urteil vom 2. Juli 1997 – 2 StR 205/97, BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 10). Ob ein solches Obhutsverhältnis besteht und welchen Umfang es hat, ist nach den tatsächlichen Verhältnissen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen (BGH, Beschluss vom 5. November 1985 – 1 StR 491/85, BGHSt 33, 340, 344).
b) Nach den Feststellungen übernahm der Angeklagte für den am 31. Oktober 1996 geborenen Geschädigten F. auf dessen Initiative und in Absprache mit Mutter und Schwester des Jugendlichen ab Anfang November 2011 die Sorge für dessen Erziehung, organisierte seinen Tagesablauf, überwachte den Schulbesuch und kümmerte sich um Ernährung und Körperhygiene des Jugendlichen. Im Zeitraum von Anfang November bis Ende Dezember 2011 nahm der Angeklagte in zwölf Fällen sexuelle Handlungen, in mindestens zwei Fällen den Oralverkehr an dem Jugendlichen vor. Zwar hat das Landgericht nicht festgestellt, ob das Betreuungsverhältnis auf längere Dauer angelegt war; dies steht der Annahme des Anvertrautseins im Sinne der genannten Vorschrift jedoch nicht entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 3. April 1962 – 5 StR 74/62, BGHSt 17, 191, 193; Fischer, StGB, 63. Aufl., § 174 Rn. 6; aA LK-Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 174 Rn. 11; Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., § 174 Rn. 6). Danach belegen die Feststellungen die Erfüllung des Tatbestands in den unter II. b) aa) genannten zwölf Fällen.
Ausweislich der Feststellungen verließ der Geschädigte F. jedoch im Februar 2012 nach einem Streit den Haushalt des Angeklagten und kehrte zu seiner Schwester, der Zeugin B. zurück, die in Absprache mit dem Jugendamt die Personensorge für ihren jüngeren Bruder innehatte. Zwar besuchte der Nebenkläger den Angeklagten bis zu seiner Inhaftierung in anderer Sache in der Folgezeit gelegentlich. Dass aber weiterhin ein besonderes Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB bestand, ist weder ausdrücklich festgestellt noch lässt sich dies dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe zweifelsfrei entnehmen. Zwar ist im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, dass der Angeklagte angegeben hatte, den Geschädigten mit Zustimmung von Mutter und Schwester von November 2011 bis zum 8. März 2012 bei sich aufgenommen zu haben; dies steht freilich in einem unauflöslichen Widerspruch zu den Feststellungen, wonach der Geschädigte "etwa im Februar 2011" – gemeint ist ersichtlich: Februar 2012 – nach einem Streit den Haushalt des Angeklagten verlassen hat, zu Mutter und Schwester zurückgekehrt ist und sich in der Folgezeit nur noch besuchsweise bei dem Angeklagten aufgehalten hat.
Bei dieser Sachlage erscheint fraglich, ob die vom Angeklagten an dem Nebenkläger zu einem nicht näher bestimmbaren Tag zwischen Mitte Februar 2012 und dem 8. März 2012 anlässlich einer Übernachtung des Jugendlichen in seiner Wohnung vorgenommenen sexuellen Handlungen den Straftatbestand des § 174 StGB noch erfüllen oder nicht. Der Schuldspruch kann daher insoweit keinen Bestand haben.
2. Im Übrigen hat die Überprüfung des Urteils zum Schuldspruch und zu den Einzelstrafaussprüchen in den Fällen II. 2. b) aa) keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
3. Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II. 2. b) bb) zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe sowie die Aufhebung des Maßregelausspruchs nach sich.
Die Sache bedarf daher in diesem Umfang neuer Verhandlung und Entscheidung.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass die Gefährlichkeitsprognose nach § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB besonders sorgfältiger Überprüfung bedarf.
Dass die vor den verfahrensgegenständlichen Straftaten begangene letzte einschlägige Straftat bereits mehrere Jahre zurück liegt, ist ein grundsätzlich prognostisch eher günstiger Umstand, der nicht ohne Weiteres durch die Erwägung relativiert werden kann, dass "bei Sexualdelinquenz mehrjährige Latenzen bis zum Auftreten einer neuen Straftat der üblichen Rückfallgeschwindigkeit entsprechen".
Fischer Appl Krehl
Ott Bartel