Entscheidungsdatum: 14.07.2010
Auf die Revision des Angeklagten M. wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 16. November 2009, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Heroin) in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt. Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
1. Die Revision rügt die fehlende Verlesung der Anklage (§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO) und beruft sich insoweit auf das Hauptverhandlungsprotokoll, das eine Verlesung nicht ausweist.
Die Begründung der Revision ist am 1. Februar 2010 beim Landgericht eingegangen und war zunächst inhaltlich unbeachtet geblieben. Am 19. Februar 2010 hat die Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf die vorgenannte Rüge die Akten dem Landgericht zurückgesandt. Daraufhin haben am 23. Februar 2010 die Berufsrichter, die Protokollführerin und der Dolmetscher sowie - nach Rücksendung der Akten - am 24. Februar 2010 der Vertreter der Staatsanwaltschaft in dienstlichen Erklärungen versichert, die Anklage sei verlesen worden.
2. Die Revision beruft sich zu Recht auf eine Verletzung des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO. Da dem Hauptverhandlungsprotokoll eine Verlesung der Anklage nicht zu entnehmen ist, ergibt sich im Hinblick auf die Beweiskraft des Protokolls (§ 274 StPO), dass eine Verlesung der Anklage nicht stattgefunden hat. Das Protokoll ist auch weder lückenhaft noch widersprüchlich, sondern insoweit eindeutig.
a) Nach § 274 Satz 1 StPO kann die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden. Als Gegenbeweis lässt das Gesetz nur den Nachweis der Fälschung zu (§ 274 Satz 2 StPO). Darüber hinaus kann zwar nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs durch eine nachträgliche Berichtigung des Protokolls auch einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge zum Nachteil des Revisionsführers die Tatsachengrundlage entzogen werden (BGHSt 51, 298; BVerfG NJW 2009, 1469). Eine solche nachträgliche Protokollberichtigung hat vorliegend jedoch nicht stattgefunden und kann unter den hier vorliegenden Umständen auch nicht nachgeholt werden.
b) Die Entscheidung des Großen Senats hat zu einer substantiellen Änderung des Strafverfahrenrechts dahingehend geführt, dass Protokollmängel in erster Linie im Protokollberichtigungsverfahren zu beseitigen sind (BGH, NJW 2010, 2068, 2069).
Grundlage einer jeden Protokollberichtigung ist die sichere Erinnerung der Urkundspersonen. Fehlt es hieran, kann das Protokoll nicht mehr berichtigt werden (BGHSt 51, 298, 314, 316). Für das Verfahren gilt, dass vor einer beabsichtigten Protokollberichtigung die Urkundspersonen zunächst den Beschwerdeführer zu hören haben. Widerspricht er der beabsichtigen Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen. Die Gründe der Berichtigungsentscheidung unterliegen der Überprüfung durch das Revisionsgericht im Freibeweisverfahren. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung (BGHSt 51, 298, 315 f.; vgl. BGH, NStZ 2008, 580, 581).
Das gilt im Ergebnis auch, wenn das vom Großen Senat vorgegebene Verfahren der Protokollberichtigung nicht eingehalten oder nicht durchgeführt wird.
c) Der Senat sieht keine Veranlassung die Akten zum Zwecke der Einleitung eines Protokollberichtigungsverfahrens zurückzusenden (vgl. insoweit BGH, wistra 2009, 484). Die Akten waren dem Vorsitzenden der Kammer bereits durch den Vertreter der Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf die Rüge der nicht verlesenen Anklage zurückgesandt worden, ohne dass ein Berichtigungsverfahren eingeleitet wurde. Beide Urkundspersonen haben in Kenntnis dieser Rüge lediglich dienstliche Erklärungen abgegeben. Eine nochmalige Rücksendung ist vor diesem Hintergrund nicht geboten und käme überdies dem Fall einer Wiederholung eines nicht ordnungsgemäßen Verfahrens unter Verletzung des Rechts des Angeklagten auf ein faires Verfahren gleich (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 271 Rn. 26a).
Neben einer ordnungsgemäßen Protokollberichtigung kommt eine freibeweisliche Aufklärung des tatgerichtlichen Verfahrensablaufs allein unter Berücksichtigung abgegebener dienstlicher Erklärungen und damit unter geringeren Anforderungen als in dem die Verfahrenswahrheit sichernden Protokollberichtigungsverfahren nach erhobener Verfahrensrüge und zum Nachteil des Angeklagten nicht in Betracht (BGHSt 51, 316 f.; vgl. BGH, NStZ 2005, 281, 282; StV 2004, 297; NStZ 2000, 47; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 8, 11 und 13 jeweils mwN). Ob hiervon in Fällen krasser Widersprüchlichkeit Ausnahmen zu machen sind (vgl. BGH, NJW 2010, 2068, 2069), kann offen bleiben. Eine solche liegt hier nicht vor.
3. Der Senat kann ein Beruhen des angefochtenen Urteils auf diesem Verfahrensverstoß nicht ausschließen.
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