Entscheidungsdatum: 23.03.2016
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 20. November 2014 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Das Landgericht hatte die Angeklagte in einem ersten Urteil wegen Totschlags durch Unterlassen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Nachdem dieses Urteil durch Beschluss des Senats vom 6. Dezember 2012 – 2 StR 170/12 (NStZ 2013, 340 f.) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen wurde, hat das Landgericht die Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision der Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
I.
Nach den Feststellungen des Landgerichts tötete die Angeklagte ihren neugeborenen Sohn, indem sie ihn unmittelbar nach der von ihr alleine durchgestandenen Geburt nicht abtrocknete, ihn nur in ein Handtuch wickelte und im Übrigen unversorgt im Bett liegen ließ. Darauf verstarb der Säugling nach einer Überlebenszeit von sechs bis zwölf Stunden, wahrscheinlich aufgrund von Unterkühlung.
Nach der Geburt befand sich die Angeklagte in einer depressiven Episode. Sie zeigte auch Eigenschaften einer emotional instabilen Persönlichkeit. Zudem lag eine akute Belastungssituation vor. Das Landgericht hat sie aus dem nach § 13 Abs. 2 und § 21 StGB noch zweifach gemäß § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 213 StGB verurteilt.
II.
Die Revision der Angeklagten ist mit der Verfahrensrüge einer Verletzung der § 243 Abs. 4 Satz 2, § 273 Abs. 1a StPO begründet.
1. Dem liegt folgendes Prozessgeschehen zu Grunde:
Nachdem der Verteidiger vor Beginn der Hauptverhandlung zweimal beim Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer angefragt hatte, ob eine Verständigung in Betracht komme, worauf dieser ablehnend reagiert hatte, teilte der Vorsitzende zu Beginn der Hauptverhandlung mit, dass eine Verständigung nicht stattgefunden habe. In der neuen Beweisaufnahme zur Straffrage äußerte die gerichtliche Sachverständige, es komme auch die Annahme von Schuldunfähigkeit der Angeklagten zur Tatzeit in Betracht. Danach unterbrach das Gericht um 15.10 Uhr die Hauptverhandlung. Auf Initiative des Vorsitzenden fand im Beratungszimmer ein Rechtsgespräch zwischen den Mitgliedern der Schwurgerichtskammer, dem Verteidiger und dem Staatsanwalt statt. Die Erörterungen bezogen sich auf das neue Sachverständigengutachten und betrafen die Frage, wie die Möglichkeit einer Schuldunfähigkeit der Angeklagten zur Tatzeit angesichts der Rechtskraft des Schuldspruchs weiter zu prüfen sei. Insbesondere wurde die Frage besprochen, ob die in der ersten Hauptverhandlung vernommene Sachverständige erneut zu hören oder ein weiterer Sachverständiger hinzuzuziehen sei. Argumente dazu wurden ausgetauscht. Der Verteidiger betonte, dass das Ziel der Verteidigung die Herbeiführung einer Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung sei. Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft lehnte ein solches Ergebnis ab. Hiernach beriet die Schwurgerichtskammer in Abwesenheit der Verfahrensbeteiligten darüber, wie weiter verfahren werden sollte.
In der ab 16.18 Uhr fortgesetzten Hauptverhandlung wurde kein Hinweis auf Gegenstand und Verlauf des Rechtsgesprächs gegeben und protokolliert.
2. Die Revision beanstandet dies zu Recht.
Es hat ein Rechtsgespräch zwischen den Mitgliedern der Schwurgerichtskammer, dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger stattgefunden, das den gesetzlichen Regelungen über Transparenz (§ 243 Abs. 4 Satz 2 StPO) und Dokumentation (§ 273 Abs. 1a StPO) unterliegt, die das Landgericht nicht beachtet hat.
a) Nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO teilt der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Diese Mitteilungspflicht ist gemäß § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO weiter zu beachten, wenn Erörterungen erst nach Beginn der Hauptverhandlung stattgefunden haben. Diese Vorschrift will in Verbindung mit dem Protokollierungsauftrag des § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO die Transparenz und Dokumentation des mit verständigungsbezogenen Erörterungen verbundenen Geschehens als Voraussetzung für dessen effektive Kontrolle wahren (vgl. BT-Drucks. 16/12310, S. 1, 9). Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung dürfen kein informelles und unkontrollierbares Verfahren eröffnen (vgl. Senat, Urteil vom 5. Juni 2014 – 2 StR 381/13, BGHSt 59, 252, 255). Mitteilungspflichtig sind alle Erörterungen nach §§ 202a, 212 StPO. Dies sind außerhalb der Haupthandlung geführte Gespräche, welche die Möglichkeit einer Verständigung zum Gegenstand haben oder zumindest als Vorbereitung einer Verständigung verstanden werden können.
Möglich sind Gespräche, die ausschließlich der Organisation sowie der verfahrenstechnischen Durchführung der Hauptverhandlung dienen, etwa die Abstimmung der Verhandlungstermine. Mangels eines Bezugs auf das Verfahrensergebnis sind solche Gespräche dem Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes vorgelagert und von ihm nicht betroffen (vgl. MünchKomm/Arnoldi, StPO 2016, § 243 Rn. 49). In Betracht kommen andererseits Gespräche, die als Vorbereitung einer Verständigung verstanden werden können und über deren wesentlichen Inhalt deshalb in der Hauptverhandlung zu informieren ist. Die Mitteilungspflicht greift ein, sobald bei außerhalb der Hauptverhandlung geführten Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum stehen.
Im Zweifel ist in der Hauptverhandlung ein Hinweis zu erteilen und dieser zu protokollieren (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628, 2883/10, 2155/11, BVerfGE 131, 168, 216 f.).
b) Nach diesem Maßstab unterlag das Rechtsgespräch im Beratungszimmer den Regeln über Transparenz und Dokumentation.
Schon aus der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden der Strafkammer ergibt sich, dass das Rechtsgespräch auf seinen Vorschlag außerhalb der Hauptverhandlung mit den Verfahrensbeteiligten geführt wurde, um zu erörtern, welche rechtlichen Probleme das Ergebnis des Gutachtens nach sich ziehen könnte. Weil die Sachverständige ausgeführt hatte, es habe möglicherweise zur Tatzeit sogar Schuldunfähigkeit der Angeklagten vorgelegen, sollte die Wirkung der Teilrechtskraft im Hinblick auf die bindenden Feststellungen zum Schuldspruch mit den Verfahrensbeteiligten besprochen werden. Dazu wurden Argumente ausgetauscht. Zuletzt wies der Verteidiger auf sein Prozessziel hin, eine Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung zu erreichen. Dies „nahm die Kammer lediglich ohne Kommentierung zur Kenntnis, nachdem der Sitzungsvertreter (der Staatsanwaltschaft) einer solchen ausdrücklich entgegentrat“.
Aus diesem Geschehensablauf ergibt sich, dass die Strafkammer die Verfahrensbeteiligten auf dem Weg der weiteren Entscheidungsfindung im Hinblick auf verfahrensbezogene Maßnahmen sowie ihr Prozessverhalten (vgl. § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO) „mitnehmen“ wollte. Das Rechtsgespräch betraf damit nicht lediglich Fragen, die ausschließlich der Organisation sowie der verfahrenstechnischen Durchführung der Hauptverhandlung dienten. Dass es zu einem „Verständigungsvorschlag“ des Gerichts nicht gekommen ist, war möglicherweise der Tatsache geschuldet, dass der Verteidiger seine Ergebnisvorstellung geäußert und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft dieser sogleich widersprochen hatte.
Ansatzpunkte für eine Verständigung waren vorhanden. Zwar entfällt in einem Fall, in dem sich nach Rechtskraft des Schuldspruchs aufgrund weiterer Beweiserhebungen neue Anhaltspunkte für die Schuldunfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit ergeben, nach der bisherigen Rechtsprechung - entgegen einer in der Literatur verbreiteten Auffassung (vgl. LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 353 Rn. 31; SK/Frisch, StPO, 4. Aufl., Vor §§ 296 ff. Rn. 296 mwN) - nicht die Bindung des neuen Tatgerichts an den rechtskräftigen Schuldspruch und die zugehörigen Feststellungen (vgl. BGH, Urteil vom 31. März 1955 – 4 StR 68/55, BGHSt 7, 283, 287). Jedoch kann die Feststellung von Schuldunfähigkeit nach Teilrechtskraft des Schuldspruchs jedenfalls zur Folge haben, dass das erkennende Gericht nur noch die Mindeststrafe verhängen kann (vgl. BGH, Urteil vom 10. Oktober 1958 – 5 StR 377/58, GA 1959, 305, 306; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl., § 53 Rn. 19; a.A. BGH, Anfragebeschluss vom 12. Februar 1998 – 4 StR 521/97, StraFo 1998, 163, 164).
Demnach betrafen die Erörterungen der Strafkammer mit den Verfahrensbeteiligten eine umstrittene Frage von offensichtlich erheblicher Bedeutung für das Prozessergebnis. Die Führung des Rechtsgesprächs außerhalb der Hauptverhandlung auf Vorschlag des Vorsitzenden der Strafkammer in unmittelbarem Anschluss an die überraschende Äußerung der Sachverständigen, dass die Angeklagte zur Tatzeit sogar schuldunfähig gewesen sein könne, weist darauf hin, dass hierüber Einvernehmen mit den Verfahrensbeteiligten hergestellt werden sollte. Dass diese Gesprächsführung außerhalb der Hauptverhandlung jedenfalls auch dahin verstanden werden konnte, zeigt die Tatsache, dass der Verteidiger im Hinblick auf die veränderte Verfahrenslage erneut auf sein Prozessziel hingewiesen hat.
Darin unterscheidet sich der vorliegende Fall auch von demjenigen, den der 5. Strafsenat in seinem Beschluss vom 14. April 2015 – 5 StR 9/15 (StV 2016, 87, 88 f. mit Anm. Kudlich) entschieden hat. Die Nichterteilung eines Hinweises auf die Gesprächsführung und den wesentlichen Inhalt sowie das Unterlassen seiner Protokollierung war hier rechtsfehlerhaft.
3. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf dieser Verletzung der Regeln über Transparenz und Dokumentation beruht.
Dies ist bei einer Verletzung der § 243 Abs. 4, § 273 Abs. 1a StPO, auch mit Blick auf die besondere Bedeutung dieser Vorschriften für die Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung, regelmäßig der Fall (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 15. Januar 2015 – 2 BvR 878/14, NJW 2015, 1235, 1236 f. und 2 BvR 2055/14, NStZ 2015, 172, 173; SSW/Franke, StPO § 243 Rn. 32). Dies gilt selbst dann, wenn eine Verständigung nicht zustande kommt (BVerfG aaO, BVerfGE 133, 168, 223; Senat aaO, BGHSt 59, 252, 259).
Zwar hat das Verständigungsgesetz davon abgesehen, einen Verstoß gegen Transparenz- und Dokumentationspflichten den absoluten Revisionsgründen gemäß § 338 StPO zuzuordnen. Jedoch berührt eine Verletzung dieser Regeln grundsätzlich die Verteidigungsposition eines Angeklagten. Deshalb kann das Beruhen des Urteils auf einem solchen Verfahrensfehler nur ausnahmsweise ausgeschlossen werden. Gründe für die Annahme eines Ausnahmefalls liegen hier - auch mit Blick auf die Bedeutung des konkreten Verfahrensfehlers (vgl. BVerfG aaO, NJW 2015, 1235, 1237) - nicht vor.
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