Entscheidungsdatum: 10.12.2015
Eine Erkrankung kann nur dann gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG als Dienstunfall anerkannt werden, wenn die Krankheit zur Zeit der Erkrankung in die Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung aufgenommen ist. Eine spätere Aufnahme genügt nicht.
Der 1955 geborene Kläger stand bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand im Dezember 2008 als Hauptsekretär im Justizvollzugsdienst in Diensten des Beklagten. Im Zeitraum vom 22. Mai 1995 bis zum 7. November 1997 wurde er in einer Produktionsstätte innerhalb einer Justizvollzugsanstalt eingesetzt, in der Gefangene unter Verwendung lösungsmittelhaltiger Klebstoffe Bürosesselsitze herstellten.
Der Kläger war seit Februar 2008 dienstunfähig erkrankt. Im Rahmen einer arbeitsmedizinischen Untersuchung wurde im März 2008 festgestellt, dass die beim Kläger diagnostizierte Polyneuropathie hinsichtlich ihres Verlaufs und ihrer Symptomatik zu einer neurotischen Polyneuropathie passe. Das untersuchende Institut stellte einen Antrag auf Anerkennung einer Berufskrankheit nach BK-1317 (Polyneuropathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische).
Der Beklagte lehnte die Anerkennung als Berufskrankheit ab. Widerspruchsverfahren, Klage und Berufung blieben erfolglos. Das Oberverwaltungsgericht hat zur Begründung ausgeführt, dass die Erkrankung des Klägers nicht als Berufskrankheit anerkannt werden könne, weil die Krankheit Polyneuropathie in der zum Zeitpunkt der Erkrankung des Klägers geltenden Fassung der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung noch nicht aufgeführt gewesen sei. Diese Krankheit sei erst mit Wirkung vom 1. Dezember 1997 aufgenommen worden. Es stehe aber fest, dass der Kläger bereits zuvor an Polyneuropathie erkrankt sei. Dies ergebe sich sowohl aus seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung als auch aus dem ärztlichen Bericht zu einem stationären Krankenhausaufenthalt im November 1997.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision, mit der er geltend macht, dass es nicht darauf ankommen könne, ob die Krankheit erst nach seiner Erkrankung in die Auflistung der genannten Anlage aufgenommen worden sei. Maßgeblich sei allein, dass die Krankheit überhaupt als Berufskrankheit anerkannt sei. Im November 1997 habe die Erkrankung mangels ausreichender wissenschaftlicher Erkenntnisse noch nicht diagnostiziert werden können.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 27. August 2013 und des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 20. November 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheids vom 24. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Ministeriums der Justiz des Saarlandes vom 12. April 2011 zu verpflichten, die Erkrankung des Klägers an Polyneuropathie als Dienstunfall im Sinne des § 31 Abs. 3 BeamtVG anzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts verletzt kein revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung seiner Erkrankung als Dienstunfall.
1. Erkrankt ein Beamter, der nach der Art seiner dienstlichen Verrichtung der Gefahr der Erkrankung an bestimmten Krankheiten besonders ausgesetzt ist, an einer solchen Krankheit, so gilt dies gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 Beamtenversorgungsgesetz (BeamtVG) in der hier maßgeblichen, zum Zeitpunkt der Erkrankung und insoweit bis heute unverändert geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 16. Dezember 1994 (BGBl. I S. 3858) als Dienstunfall, es sei denn, dass der Beamte sich die Krankheit außerhalb des Dienstes zugezogen hat. Nach Satz 3 dieser Vorschrift bestimmt die Bundesregierung die in Betracht kommenden Krankheiten durch Rechtsverordnung. Die zu der gleichlautenden Vorgängerregelung ergangene Verordnung zur Durchführung des § 31 des Beamtenversorgungsgesetzes vom 20. Juni 1977 (BGBl. I S. 1004) bestimmt in ihrem § 1 als Krankheiten im Sinne des § 31 Abs. 3 BeamtVG die in der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vom 8. Dezember 1976 (BGBl. I S. 3329) in der jeweils geltenden Fassung genannten Krankheiten mit den dort im einzelnen bezeichneten Maßgaben.
a) Dieses Regelungsgefüge fingiert eine Erkrankung als Dienstunfall, wenn die Krankheit zum Zeitpunkt der Erkrankung in der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung aufgeführt war (BVerwG, Urteil vom 28. April 2011 - 2 C 55.09 - Buchholz 240 § 31 BBesG Nr. 1 Rn. 11; Beschluss vom 23. Februar 1999 - 2 B 88.98 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 11 S. 1). War die Krankheit zu diesem Zeitpunkt nicht dort aufgeführt oder wurde sie erst später dort aufgeführt, gilt die Erkrankung nicht als Dienstunfall. Denn § 1 der Verordnung zur Durchführung von § 31 des Beamtenversorgungsgesetzes verweist nur auf die Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung, die allein die Listung einzelner Krankheiten enthält. Ein Verweis auf den weiteren Regelungstext der Verordnung, die in ihrem § 6 - wie für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung üblich - auch Regelungen über die begrenzte rückwirkende Anwendung von neu in die Anlage 1 aufgenommene Krankheiten enthält, fehlt gerade; für eine rückwirkende Anwendung ist damit im Dienstunfallrecht kein Raum (BVerwG, Beschluss vom 23. Februar 1999 - 2 B 88.98 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 11 S. 1 f.).
b) Anders als vom Kläger angenommen, handelt es sich bei § 31 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG auch nicht um eine bloße Beweislastregel, die für den erkrankten Beamten die Möglichkeit bestehen lässt, den Vollbeweis zu führen, dass seine Erkrankung kausal auf die durch ihn erbrachte Dienstleistung zurückzuführen ist. Denn die Vorschrift soll nicht die Folgen jeglicher Krankheit abmildern, die sich der Beamte im Dienst zuzieht, sondern nur besonderen Gefährdungen Rechnung tragen, denen ein Beamter im Vergleich zur Beamtenschaft insgesamt ausgesetzt ist (BVerwG, Urteil vom 28. April 2011 - 2 C 55.09 - Buchholz 240 § 31 BBesG Nr. 1 Rn. 17). Welche Krankheiten hierzu gehören, wird in der geschilderten Weise durch den Verordnungsgeber festgelegt. Durch die vom Gesetzgeber in § 31 Abs. 3 Satz 3 BeamtVG verwendeten Formulierung der „in Betracht kommenden Krankheiten“ wird zugleich bestimmt, dass Krankheiten, die nicht durch den Verordnungsgeber festgelegt werden, für eine Gleichstellung mit einem Dienstunfall nicht in Betracht kommen. Dazu gehören neben Krankheiten, die überhaupt nicht in der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung aufgeführt sind, auch solche Krankheiten, die zum Zeitpunkt der Erkrankung dort noch nicht aufgeführt waren, auch wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen wurden.
c) Dieses Regelungsgefüge verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
aa) Es liegt zunächst keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung mit Beamten vor, die erst nach der Aufnahme der Krankheit in die Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung hieran erkranken. Es ist dem Gesetzgeber nicht durch Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen, auch wenn jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt. Voraussetzung ist allerdings, dass die Einführung des Stichtags und die Wahl des Zeitpunkts sich am gegebenen Sachverhalt orientieren und damit sachlich vertretbar sind (stRspr BVerfG, Urteil vom 5. Juli 1989 - 1 BvL 11/87 u.a. - BVerfGE 80, 297 <311>; Beschluss vom 27. Februar 2007 - 1 BvL 10/00 - BVerfGE 117, 272 <301>; Kammerbeschluss vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 1170/14 - FamRZ 2015, 1263 Rn. 41). Dies ist gerade im Hinblick auf eine Stichtagsregelung, nach der der Verordnungsgeber entscheidet, ab welchem Zeitpunkt eine Krankheit als Berufskrankheit anerkannt wird, anzunehmen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. März 2007 - 1 BvR 3144/06 - BVerfGK 10, 553 <556 f.>). Grundlage für die Aufnahme einer Krankheit in die Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung ist immer die fortschreitende Erkenntnis der arbeitsmedizinischen Wissenschaft, die einen ausreichenden sachlichen Grund für die Wahl des Zeitpunktes der Regelungsänderung bildet. Die von der Stichtagsregelung ausgehenden Härten, die im Falle des Klägers wegen des sehr kurzen Zeitverzugs von nur wenigen Tagen zwischen der Erkrankung und der Listung der Krankheit (s.u., 2.) besonders zu Tage treten, können allein durch vom Gesetz- oder Verordnungsgeber zu schaffendes Übergangsrecht abgemildert, nicht aber in einem gerichtlichen Verfahren beseitigt werden.
bb) Es besteht auch keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung mit den Versicherten in der gesetzlichen Unfallversicherung, für die die jeweilige Fassung des § 6 BKVO jedenfalls in begrenztem Umfang die rückwirkende Anerkennung von Berufskrankheiten ermöglicht. Insoweit bestehen schon Zweifel, ob überhaupt eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vorliegt. Jedenfalls wäre eine solche Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt. Beamte und Arbeitnehmer sind aufgrund der Verschiedenheit ihrer Beschäftigungsverhältnisse nicht grundsätzlich gleich zu behandeln. Es ist vielmehr dem Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit überlassen, inwieweit er Verbesserungen des sozialversicherungsrechtlichen Unfallschutzes in das Beamtenrecht einführt. Im Vergleich zu Arbeitnehmern erfahren Beamte eine ganz anders strukturierte soziale Absicherung durch die Alimentationspflicht und die vornehmlich in der Beihilfegewährung konkretisierte besondere Fürsorgepflicht des Dienstherrn (BVerwG, Beschlüsse vom 31. Januar 1978 - 6 B 57.77 - Buchholz 232 § 135 BBG Nr. 59 S. 10 und vom 12. September 1995 - 2 B 61.95 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 10 S. 1).
d) Schließlich liegt auch kein Verstoß gegen den Fürsorgegrundsatz vor. Der Fürsorgegrundsatz gebietet nicht, dass über die Alimentation (Besoldung oder Versorgung) und Beihilfegewährung hinaus zwingend weitere Leistungen zu gewähren sind, wenn ein Beamter infolge dienstlicher Umstände erkrankt. Auch im Falle seiner Erkrankung ist die amtsangemessene Alimentation des Beamten sowie die angemessene Übernahme der durch die Krankheit entstehenden Kosten über die genannten Leistungen gewährleistet (vgl. OVG Münster, Urteil vom 24. Mai 2002 - 1 A 6168/96 - juris Rn. 70, 77).
2. Die hier allein in Betracht kommende Krankheit ist unter Nr. 1317 in der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung als „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische“ aufgeführt. Ihre Aufnahme in die Anlage 1 erfolgte mit der Berufskrankheiten-Verordnung vom 31. Oktober 1997 (BGBl. I S. 2623). § 8 Abs. 1 dieser Verordnung regelt ihr Inkrafttreten zum 1. Dezember 1997. Spätestens im November 1997 - und damit vor diesem Zeitpunkt - ist der Kläger an Polyneuropathie erkrankt.
a) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Feststellung einer als Dienstunfall zu fingierenden Krankheit ist nach § 31 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG derjenige der Erkrankung. Bei Krankheiten, die wie hier infolge fortlaufender kumulativer Einwirkung auf den Beamten ausgelöst werden, ist für den Zeitpunkt der Erkrankung derjenige Zeitpunkt maßgebend, in dem der Zustand des Beamten Krankheitswert erreicht, in dem also die Krankheit sicher diagnostiziert werden kann (BVerwG, Urteil vom 28. April 2011 - 2 C 55.09 - Buchholz 240 § 31 BBesG Nr. 1 Rn. 29). Dieser für die Fristberechnung nach § 45 Abs. 1 und 2 BeamtVG entwickelte Grundsatz gilt auch für die Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts der Erkrankung im Rahmen des § 31 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG. Denn die genannten Fristvorschriften knüpfen an das Ereignis des Dienstunfalls an. § 31 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG setzt die Erkrankung dem Dienstunfall gleich.
Für die Annahme, dass eine Krankheit sicher diagnostiziert werden kann, ist es nicht erforderlich, dass die entsprechende Diagnose auch tatsächlich gestellt wird. Es genügt, wenn die Stellung der Diagnose zum relevanten Zeitpunkt möglich ist. Das ist der Fall, wenn ausreichende Symptome objektiv vorliegen und die medizinischen Erkenntnismethoden den Schluss auf die Erkrankung zulassen.
b) Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hätte die Krankheit des Klägers spätestens im November 1997 diagnostiziert werden können. Hierzu bezieht sich das Oberverwaltungsgericht einerseits auf die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Danach habe bereits im September 1997 ein Symptomenkomplex vorgelegen, der den behandelnden Arzt veranlasst habe, eine Erkrankung an Polyneuropathie ernsthaft in Betracht zu ziehen und den Kläger zwecks Abklärung in ein Krankenhaus einzuweisen. Des Weiteren habe die Befunderhebung während des dortigen stationären Aufenthalts des Klägers im November 1997 dazu geführt, dass in dem Abschlussbericht des Krankenhauses der Verdacht auf Polyneuropathie unklarer Ätiologie geäußert worden sei. Diese Umstände haben zu der Überzeugung des Oberverwaltungsgerichts geführt, dass die Erkrankung des Klägers an Polyneuropathie schon damals sicher diagnostiziert worden wäre, wenn den behandelnden Ärzten die dienstliche Verwendung des Klägers in der Produktionsstätte der Justizvollzugsanstalt bekannt gewesen wäre, was nicht der Fall gewesen sei. Indem das Oberverwaltungsgericht annimmt, dass die zutreffende Diagnose bei dem Hinzutreten objektiv bereits vorhandener Erkenntnisse über die dienstliche Verwendung des Klägers im November 1997 tatsächlich gestellt worden wäre, bringt es zugleich zum Ausdruck, dass es möglich gewesen wäre, diese Diagnose sicher zu stellen.
Diese tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts zur Diagnostizierbarkeit der Krankheit des Klägers spätestens im November 1997 binden das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO. Die Bindungswirkung erstreckt sich auch auf sog. hypothetische Tatsachen. Aufgabe des Revisionsgerichts ist es allein, die Anwendung der einschlägigen Rechtsnormen auf den von der Vorinstanz festgestellten Lebenssachverhalt zu überprüfen. Soweit zu diesem Lebenssachverhalt auch die prognostische Einschätzung tatsächlicher Verhältnisse gehört (hier die vom Oberverwaltungsgericht bejahte Frage der Stellung einer Diagnose bei der Kenntnis weiterer Umstände), bildet diese Prognose einen Teil der bindenden tatsächlichen Feststellungen (BVerwG, Urteil vom 19. März 2015 - 2 C 12.14 - BVerwGE 151, 333 Rn. 30).
Diese tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hat der Kläger im Revisionsverfahren auch nicht erfolgreich angegriffen. Der im Kern seiner Argumentation vorgetragene, nicht wesentlich substantiierte Einwand, die wissenschaftlichen Erkenntnismethoden hätten im Jahr 1997 noch nicht zur Diagnose der Polyneuropathie ausgereicht, überzeugt schon deswegen nicht, weil die Erkrankung mit Verordnung vom 31. Oktober 1997 in die Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung aufgenommen worden ist. Ohne ausreichende wissenschaftliche Erkenntnisse wäre dies nicht denkbar.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.