Bundesverfassungsgericht

Entscheidungsdatum: 16.11.2016


BVerfG 16.11.2016 - 2 BvR 2275/16

Stattgebender Kammerbeschluss: Willkürliche Verweigerung von Eilrechtsschutz nach § 114 Abs 2 S 2 StVollzG verletzt Rechtsschutzanspruch (Art 19 Abs 4 GG) des betroffenen Strafgefangenen


Gericht:
Bundesverfassungsgericht
Spruchkörper:
2. Senat 2. Kammer
Entscheidungsdatum:
16.11.2016
Aktenzeichen:
2 BvR 2275/16
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2016:rk20161116.2bvr227516
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Traunstein, 27. September 2016, Az: StVK 1591/16, Beschluss
Zitierte Gesetze
§§ 108ff StVollzG

Tenor

Der Beschluss des Landgerichts Traunstein vom 27. September 2016 - StVK 1591/16 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Traunstein zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

1

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der strafgefangene Beschwerdeführer gegen die Verwerfung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG als unzulässig.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer verbüßt eine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Bernau. Er hatte in der Vergangenheit mindestens einen Herzinfarkt erlitten und sollte daher am 19. September 2016 zu einem Facharzt ausgeführt werden. Die Justizvollzugsanstalt ordnete hierfür eine Fesselung an. Nachdem sich der Beschwerdeführer bei der Anstaltsleitung gegen diese Anordnung beschwert hatte, wurde die Ausführung am Morgen des 19. September 2016 mit der Begründung abgesagt, dass er mit der Fesselung nicht einverstanden sei.

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2. Daraufhin stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und beantragte zugleich, die Justizvollzugsanstalt im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG zu verpflichten, ihn zeitnah und ungefesselt zu einem Facharzt auszuführen. Die von der Anstalt angeordnete Fesselung sei nicht gerechtfertigt, da keine konkreten Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr gegeben seien. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass er in zwei Monaten aus der Haft entlassen werde.

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3. Mit Beschluss vom 27. September 2016 wies das Landgericht Traunstein den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz als unzulässig zurück. Die Begründung des Landgerichts erschöpft sich in folgenden Ausführungen:

"Die einstweilige Anordnung darf in der Regel eine Hauptsacheentscheidung nicht vorwegnehmen.

Eine Eilentscheidung ist nur dann geboten, wenn nicht wiedergutzumachende Nachteile drohen oder die angefochtene Maßnahme bzw. Unterlassung der beantragten Maßnahme offensichtlich rechtswidrig ist.

Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

Insbesondere kann das Gericht ohne Anhörung der Vollzugsbehörde eine sachgerechte Entscheidung nicht treffen und auch nicht beurteilen, ob die Vollzugsbehörde das ihr zustehende Ermessen missbräuchlich oder willkürlich ausgeübt hat, was alleiniger Prüfungsmaßstab für die gerichtliche Entscheidung wäre."

II.

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1. Mit seiner mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Landgerichts. Er rügt unter anderem eine Verletzung seines Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Die Entscheidung des Landgerichts sei willkürlich und mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar. Dass zwei Monate vor dem Haftende keine Fluchtgefahr vorliege, die eine Fesselung rechtfertige, sei offensichtlich. Über Eilanträge müsse nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Übrigen gegebenenfalls auch ohne eine Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt entschieden werden.

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2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Eine Vorwegnahme der Hauptsache sei im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur ausnahmsweise zulässig, wenn schwere Nachteile drohten, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könnten, oder wenn die angefochtene Maßnahme oder das Unterlassen einer begehrten Maßnahme offensichtlich rechtswidrig sei. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen habe das Landgericht ohne Verstoß gegen das Gebot auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG verneint. Im Übrigen sei die Fesselungsanordnung der Justizvollzugsanstalt nicht zu beanstanden.

III.

7

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt ist (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden; danach ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

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1. Der Beschluss des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.

9

a) Für die Gerichte ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes Anforderungen auch für den vorläufigen Rechtsschutz. Die Auslegung und Anwendung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen muss darauf ausgerichtet sein, dass der Rechtsschutz sich auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpft, sondern zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führt (vgl. BVerfGK 1, 201 <204 f.>; 7, 403 <407>; 11, 54 <60>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Juli 2015 - 2 BvR 48/15 -, juris, Rn. 7).

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b) Diesen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht. Das Landgericht hat die Verwerfung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insbesondere damit begründet, dass die Rechtmäßigkeit der Fesselung ohne eine vorherige Anhörung der Justizvollzugsanstalt nicht beurteilt werden könne. Warum das Landgericht die Anstalt vor der Entscheidung nicht angehört hat, erschließt sich jedoch nicht. Unklar bleibt auch, weshalb sich das Unterbleiben der Anhörung zu Lasten des Beschwerdeführers auswirken soll. Die Begründung des Landgerichts ist daher in keiner Weise nachvollziehbar und führt zu einer willkürlichen Verweigerung des verfassungsrechtlich garantierten Eilrechtsschutzes.

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2. Die Aufhebung und die Zurückverweisung folgen aus §§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.