Entscheidungsdatum: 23.09.2010
Der Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 30. April 2008 - 5 W 32/08-12 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Saarländische Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die aus Art. 104 Abs. 2 GG folgenden Anforderungen an die Überprüfung der nach einem missglückten Abschiebungsversuch fortgesetzten Sicherungshaft.
1. Der aus dem Kosovo stammende Beschwerdeführer reiste 1993 erstmals in das Bundesgebiet ein. Nachdem mehrere Asylanträge erfolglos geblieben waren, wurde er im Februar 2004 abgeschoben. Im Oktober 2007 reiste der Beschwerdeführer erneut ein und stellte einen weiteren Asylantrag. Er wurde umgehend in Gewahrsam genommen. Mit Beschluss vom 12. Oktober 2007 ordnete das Amtsgericht Abschiebungshaft bis zum 11. Januar 2008 an.
Ein Abschiebungsversuch am 6. November 2007 scheiterte, weil sich die UNMIK weigerte, den Beschwerdeführer aufzunehmen. Die Ausländerbehörde hatte die Frist zur Ankündigung der Abschiebung des Beschwerdeführers nicht eingehalten; am Flugplatz in Pristina widerrief dieser seine Erklärung, freiwillig ausreisen zu wollen. Der Beschwerdeführer wurde daraufhin zurück nach Deutschland und dort umgehend in die Gewahrsamseinrichtung verbracht. Eine erneute Haftanordnung wurde nicht erlassen.
2. Am 13. November 2007 beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung der Haftanordnung. Das Scheitern der Abschiebung sei auf die Ausländerbehörde zurückzuführen. Dadurch sei der Haftbeschluss verbraucht. Aus § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG ergebe sich im Umkehrschluss, dass die Haft zwingend zu beenden sei, wenn die Abschiebung aus Gründen gescheitert sei, die der Ausländer nicht zu vertreten habe.
Das Amtsgericht wies den Antrag mit Beschluss vom 19. Dezember 2007 zurück. Der Grund für die Freiheitsentziehung sei nicht im Sinne von § 10 Abs. 1 FreihEntzG weggefallen. Der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG bestehe fort. Es könne offen bleiben, was aus § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG für die Fälle folge, in denen der Ausländer das Scheitern der Abschiebung nicht zu vertreten habe. Denn der Beschwerdeführer habe das Scheitern seiner Abschiebung zu vertreten. Er habe eine zunächst abgegebene Freiwilligkeitserklärung gegenüber der UNMIK widerrufen. Erst daraufhin sei ihm die Einreise verweigert und die Ausländerbehörde auf das 33-Tage-Verfahren für die Abschiebung verwiesen worden. Der Ausländerbehörde könne es nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie das verkürzte Verfahren gewählt habe, zumal sie damit dem Beschleunigungsgrundsatz nachgekommen sei. Die Abschiebung nach Ablauf der 33-Tage-Frist sei auch weiterhin möglich.
3. Am 20. Dezember 2007 wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen, nachdem das Verwaltungsgericht im asylrechtlichen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verpflichtet hatte, die Mitteilung, dass ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt werde, zu widerrufen.
4. Die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers, gerichtet auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der erlittenen Haft, verwarf das Landgericht mit Beschluss vom 27. Dezember 2007 als unzulässig. Gegen die Zurückweisung des Antrags auf Aufhebung der Haftanordnung sei kein Rechtsmittel statthaft.
5. Mit der sofortigen weiteren Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, dass die sofortige Beschwerde zulässig und begründet gewesen sei. Die Haftanordnung sei mit der gescheiterten Abschiebung verbraucht, so dass er seit seiner Rückkehr ohne rechtliche Grundlage inhaftiert gewesen sei. Das Scheitern der Abschiebung habe die Ausländerbehörde zu vertreten; sie habe die Meldefristen nicht eingehalten.
Das Oberlandesgericht änderte mit Beschluss vom 30. April 2008 den Beschluss des Landgerichts und wies die sofortige Beschwerde als unbegründet zurück. Die sofortige Beschwerde sei entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Senats zulässig. Der Feststellungsantrag müsse allerdings dahin ausgelegt werden, dass er sich nur auf die Zeit ab Stellung des Haftaufhebungsantrags beziehe; denn auch vor Erledigung der Haftanordnung sei die Zeit vor Antragstellung nicht Verfahrensgegenstand gewesen. In der Sache bleibe die Beschwerde ohne Erfolg. Ein Wegfall des Haftgrundes könne nur angenommen werden, wenn nach dem gescheiterten Abschiebungsversuch die Durchführung der Abschiebung nicht mehr möglich gewesen wäre. Die Ausländerbehörde habe indes vor dem Amtsgericht dargelegt, dass eine Abschiebung noch im Jahr 2007 hätte erfolgen können. Ohne Bedeutung sei, dass der Abschiebungsversuch am 6. November 2007 gescheitert sei, weil die UNMIK unter Verweis auf die nicht gewahrte Anmeldefrist dem Beschwerdeführer nach dem Widerruf seiner Freiwilligkeitserklärung die Einreise verweigert habe. Dieser Umstand habe nur dazu geführt, dass vor einer erneuten Abschiebung eine Frist von 33 Tagen einzuhalten gewesen sei. Es komme deshalb nicht darauf an, wer das Scheitern des Abschiebungsversuchs zu vertreten habe. Dies wäre nur dann von Bedeutung, wenn feststünde, dass die Abschiebung nicht innerhalb der dreimonatigen Haftdauer hätte erfolgen können, was sich aus § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG ergebe.
6. Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, dass das Oberlandesgericht, indem es die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit der Haft für die Zeit vor Stellung des Haftaufhebungsantrags verweigere, gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstoße. Hierdurch werde ignoriert, dass der Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der gesamten Haftzeit habe.
Zudem sei der Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 104 GG verletzt. Da mit dem Scheitern des Abschiebungsversuchs die Haftanordnung verbraucht sei, habe er sich seit dem 6. November 2007 ohne rechtliche Grundlage in Haft befunden. Nach dem eindeutigen Wortlaut von § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG sei die Abschiebungshaft nur im Falle einer Zurechenbarkeit des Scheiterns der Abschiebung aufrechtzuerhalten; andernfalls müsse sie aufgehoben werden. Hier sei die Abschiebung von der UNMIK gestoppt worden. Die Ausländerbehörde habe die Anmeldefristen nicht eingehalten. Der Beschwerdeführer habe seinerseits alles getan, was er zum Gelingen der Abschiebung habe beitragen können, indem er eine Freiwilligkeitserklärung unterschrieben habe. Ihm könne auch nicht vorgeworfen werden, dass er nicht freiwillig im Kosovo geblieben sei. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zeige, dass er dort gefährdet sei.
7. Dem Ministerium der Justiz des Saarlandes wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Der Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.
1. Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 29, 312 <316>). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor Eingriffen wie Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 <26>; 94, 166 <198>; 96, 10 <21>). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 58, 208 <220>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>; 29, 183 <195 f.>; 58, 208 <220>).
Für den schwersten Eingriff in das Recht der Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>). Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die Freiheitsentziehung erfordert nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung, deren Zulässigkeit in Ausnahmefällen Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG voraussetzt, genügt nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste (vgl. BVerfGE 22, 311 <317>). Mit Blick auf die hohe Bedeutung des Richtervorbehalts sind alle an der freiheitsentziehenden Maßnahme beteiligten staatlichen Organe verpflichtet, ihr Vorgehen so zu gestalten, dass dieser als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (vgl. BVerfGE 105, 239 <248>; BVerfGK 7, 87 <98>).
2. Diesen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts nicht gerecht. Die darin vorgenommene Überprüfung der Sicherungshaft des Beschwerdeführers verkennt Bedeutung und Tragweite des in Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Richtervorbehalts für Freiheitsentziehungen.
Das Oberlandesgericht hat die Rechtmäßigkeit der nach missglücktem Abschiebungsversuch fortgesetzten Sicherungshaft einzig damit begründet, dass der Haftgrund nicht weggefallen sei, weil die Abschiebung ausweislich der Angaben der Ausländerbehörde im Verfahren vor dem Amtsgericht vor Ablauf des Jahres 2007 möglich gewesen wäre. Hingegen ist es auf den vom Beschwerdeführer gerügten "Verbrauch" der Haftanordnung und die daraus möglicherweise folgende Notwendigkeit einer erneuten richterlichen Anordnung für die Fortsetzung der Inhaftierung nicht eingegangen. Indem es diese Frage ausgeblendet und sich mit der vom Beschwerdeführer für seine Rechtsauffassung herangezogenen Regelung des § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG nicht befasst hat, hat das Oberlandesgericht den ihm aus Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG zukommenden Auftrag verfehlt, zu ergründen, ob gegen eine freiheitsschützende Formvorschrift verstoßen worden ist.
§ 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG ordnet an, dass eine Haftanordnung nach § 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG unberührt bleibt, wenn die Abschiebung aus Gründen scheitert, die der Ausländer zu vertreten hat. Die durch Art. 1 des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) angefügte Regelung ist am 28. August 2007 in Kraft getreten. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll sie die Wirksamkeit der Anordnung der Sicherungshaft trotz Zweckverfehlung in den Fällen fortgelten lassen, in denen der Ausländer das Scheitern der Abschiebung und damit die Zweckverfehlung der Maßnahme selbst herbeigeführt habe, was etwa dann der Fall sei, wenn der Ausländer im Flugzeug randaliere und der Flug deshalb abgebrochen werden müsse (vgl. BTDrucks 16/5065, S. 188). Dem liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, dass die Haftanordnung ohne die ergänzende Bestimmung mit Beginn der Abschiebung ihre Wirksamkeit verliert.
Welche Bedeutung § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG in den Fällen zukommt, in denen die Abschiebung aus Gründen scheitert, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, ist bislang nicht geklärt. Der Wortlaut der Regelung lässt entsprechend dem Verständnis der Gesetzesbegründung den vom Beschwerdeführer gezogenen Umkehrschluss zu, dass die Haftanordnung in diesen Fällen nicht fortgelten soll. In der fachgerichtlichen Rechtsprechung wird diese Auffassung von den Oberlandesgerichten Frankfurt und Hamm vertreten (OLG Frankfurt, Beschluss vom 30. Januar 2009 - 20 W 154/08 -, FGPrax 2009, S. 188 <189>; OLG Hamm, Beschluss vom 3. März 2009 - I-15 Wx 13/09 -, OLGR Hamm 2009, S. 639), während das Oberlandesgericht Düsseldorf die Frage zwar aufgeworfen, jedoch ausdrücklich offen gelassen hat (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. Januar 2008 - I-3 Wx 15/08 -, FGPrax 2008, S. 89 <90>). Im Schrifttum finden sich sowohl Befürworter (Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1264) als auch Gegner (Zeitler, HTK-AuslR / § 62 AufenthG / zu Abs. 2 Satz 5 11/2008 Nr. 4) einer solchen Normauslegung.
Angesichts dieser ungeklärten Rechtslage durfte das Oberlandesgericht nicht allein auf das Vorliegen eines materiellen Haftgrundes abstellen und die Frage, wer das Scheitern der Abschiebung zu vertreten hat, dahinstehen lassen. Sollte die Auffassung des Beschwerdeführers im Ergebnis zutreffen, bedürfte die Fortsetzung der Sicherungshaft in den von § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG nicht erfassten Fällen wegen Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG einer erneuten richterlichen Entscheidung. Um der Bedeutung des Richtervorbehalts gerecht zu werden, hätte das Oberlandesgericht dieser Frage nachgehen und bejahendenfalls prüfen müssen, ob der Beschwerdeführer das Scheitern der Abschiebung zu vertreten hat.
3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts beruht auf der Grundrechtsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den Beschluss des Oberlandesgerichts auf und verweist die Sache an das Oberlandesgericht zurück. Auf das Vorliegen der weiteren gerügten Grundrechtsverstöße kommt es nicht an.
Die Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 19. Dezember 2007 und des Landgerichts vom 27. Dezember 2007 wird nicht zur Entscheidung angenommen; insoweit wird von einer Begründung abgesehen (§ 93a Abs. 2, § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).