Entscheidungsdatum: 10.10.2017
Das Rechtsschutzbedürfnis im Organstreitverfahren setzt das Bestehen eines für den Antragsgegner erkennbaren Konflikts voraus. Daher trifft bei (vermeintlich oder tatsächlich) unrichtig beantworteten parlamentarischen Fragen den Antragsteller vor Einleitung des Organstreitverfahrens eine Konfrontationsobliegenheit. Er muss der Bundesregierung durch den Hinweis auf die (mutmaßliche) Unrichtigkeit der Antwort die Möglichkeit geben, die Sach- und Rechtslage ihrerseits zu prüfen und ihre Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen.
Der Antrag wird verworfen.
Die Antragstellerin, Abgeordnete des Deutschen Bundestages, wendet sich dagegen, dass die Bundesregierung, die Antragsgegnerin, ihre Schriftliche Frage zum Zeitpunkt der Kenntniserlangung von sexuellen Übergriffen während der Kölner Silvesternacht 2015/2016 unrichtig beantwortet habe.
Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
1. In der Silvesternacht 2015/2016 wurde im Bereich des Kölner Doms und des Hauptbahnhofs eine Vielzahl von Sexual-, Raub- und Diebstahlsdelikten begangen. Opfer waren nahezu ausschließlich Frauen. Sowohl Einsatzkräfte der Polizei Köln und der Bundespolizei als auch Opfer und Zeugen berichteten von zeitweilig chaotischen Zuständen.
2. Im Rahmen der Aufklärung der Vorfälle und der politischen Debatte über die Verantwortlichkeit des Bundes stellten Abgeordnete und die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 28. Januar 2016 eine Kleine Anfrage zum Einsatz der Bundespolizei in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln und insbesondere zum Informationsaustausch zwischen der Kölner Polizei und dem Bundesministerium des Innern (BTDrucks 18/7441). Diese beantwortete die Bundesregierung am 18. Februar 2016 (BTDrucks 18/7590). Am 1. März 2016 begehrte die Antragstellerin als Mitglied der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Schriftlicher Frage vom 1. März 2016 (BTDrucks 18/7920, Nr. 17, S. 11) Auskunft zur Erkennbarkeit der Dimension der Ereignisse in der Silvesternacht. Die Schriftliche Frage wurde durch die Staatssekretärin Dr. Emily Haber am 8. März 2016 beantwortet.
Daraufhin stellte die Antragstellerin die hier verfahrensgegenständliche Schriftliche Frage vom 8. März 2016 (BTDrucks 18/7985, Nr. 16, S. 10):
Ist in der Zuständigkeit des Bundesministeriums des Innern (ggf. bei der Bundespolizei) in den ersten Tagen des Jahres 2016 aus Nordrhein-Westfalen eine Meldung über elf auf einem Bahnhofsvorplatz begangene sexuelle Übergriffe zum Nachteil junger Frauen durch jeweils eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe (vgl. die Antwort auf meine Schriftliche Frage 17 auf Bundestagsdrucksache 18/7920) bzw. eine Fortschreibung einer solchen Meldung eingegangen, und wenn ja, wann erlangten die einzelnen behördeninternen Stellen einschließlich der Behördenleitung davon jeweils Kenntnis?
Für die Antragsgegnerin antwortete der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder am 16. März 2016 (BTDrucks 18/7985, Nr. 16, S. 10):
Weder dem Bundesministerium des Innern noch der Bundespolizei sind derzeit Meldungen bekannt, in denen in den ersten Tagen des Jahres 2016 in Nordrhein-Westfalen elf auf einem Bahnhofsvorplatz begangene sexuelle Übergriffe zum Nachteil junger Frauen durch jeweils eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe enthalten sind. Die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort erschwerten die Recherchen.
Mit dieser Antwort ließ es die Antragstellerin bewenden.
3. Zur Klärung etwaiger Fehler und Versäumnisse von Landesbehörden, insbesondere der Polizei, auch im Zusammenwirken mit der Bundespolizei setzte der Landtag Nordrhein-Westfalen im Januar 2016 auf Antrag der Fraktionen von SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP einen Untersuchungsausschuss zu den Straftaten in der Silvesternacht 2015 und zur Frage von rechtsfreien Räumen in Nordrhein-Westfalen ("Untersuchungsausschuss Silvesternacht 2015") ein (LTDrucks 16/10798).
In seiner 50. Sitzung am 31. Oktober 2016 befragte der Untersuchungsausschuss unter anderem den Bundesminister des Innern zur Rolle der Bundespolizei in der Kölner Silvesternacht, insbesondere zum Inhalt und zur Bewertung der sogenannten WE-Meldungen (Meldungen über wichtige Ereignisse). In seiner Erklärung führte der Bundesminister des Innern unter anderem aus (APr 16/1488, S. 94):
(…) Aus den vom Land Nordrhein-Westfalen am 1. Januar 2016 bundesweit und auch an das BMI versandten drei Meldungen waren für das BMI die Brisanz und das Ausmaß der Ereignisse nicht zu entnehmen.
(…)
Ich selbst habe am Montag, den 4. Januar 2016, aus den Medien von der Brisanz und dem Ausmaß der Ereignisse erfahren. Das Bundesministerium des Innern hat am selben Tag beim Bundespolizeipräsidium einen Bericht angefordert, auf dessen Grundlage ich dann von der Fachabteilung des Bundesministeriums des Innern informiert wurde. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich von den Mitarbeitern meines Hauses fortlaufend über die neu bekannt werdenden Einzelheiten unterrichtet.
Im Rahmen der Zeugenvernehmung stellte die Abgeordnete Ina Scharrenbach (CDU) folgende Frage (APr 16/1488, S. 100):
(…) Herr Jäger beruft sich hier in dem, was Ihnen aufgespielt ist, auch auf das Bundesministerium des Innern, das durch die WE-Meldung die Dimension nicht habe erkennen können. Herr Minister, hat das BMI diese erste WE-Meldung eigentlich erreicht?
Der Bundesminister des Innern antwortete (APr 16/1488, S. 100 ff.):
(…) Da das eine Landesmeldung war und Sie sozusagen das Recht haben zu kontrollieren, was aus dieser Landesmeldung geworden ist und Sie sie auch kennen, will ich gern noch einmal diese Meldungen, die im Bundesministerium des Innern eingegangen sind, kurz zitieren. Und dann kann sich jeder einen Eindruck darüber verschaffen, ob das der Dimension der Ereignisse entsprochen hat, die wir dann hinterher diskutiert haben.
In der Silvesternacht 03:15 Uhr - Zitat:
'Sachverhalt: Auf der Platzfläche/Treppenaufgang zur Domplatte hielten sich 1.000 Menschen auf, (…). Die Situation wurde stetig brisanter und es drohte, eine Massenpanik auszubrechen. Ferner stieg feststellbar das Aggressionspotenzial der anwesenden, meist alkoholisierten Personen. Zwecks Gefahrenabwehr wurde die Platzfläche/Treppe geräumt. (…) Ereignisse über Verletzte liegen derzeit nicht vor. Tatverdächtige Personen konnten nicht ermittelt werden. Es bestand geringes Medieninteresse.'
(…)
Dann gibt es eine Meldung vom 1. Januar, 21:23 Uhr, also dann später, am ersten Abend danach, wo schon etliche Stunden vergangen waren. Da lautet die Meldung, die beim Bundesministerium des Innern eingegangen ist, 21:23 Uhr:
'Im Rahmen der Silvesterfeierlichkeiten kam es auf dem Bahnhofsvorplatz in der Innenstadt zu insgesamt bislang bekannten elf Übergriffen zum Nachteil von jungen Frauen, begangen durch eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe. Die Frauen wurden hierbei von der Personengruppe umzingelt, oberhalb der Bekleidung begrapscht, bestohlen, und Schmuck wurde entrissen. (…)'
Das war die Meldung um 21:23 Uhr. Und um 21:43 Uhr - also wenige Minuten später - hieß es dann weiter:
'Der Grundsachverhalt wird als bekannt vorausgesetzt. Im Laufe des 01.01. ist es zu weiteren Anzeigeerstattungen beim Polizeipräsidium Köln, in umliegenden Behörden sowie bei der Bundespolizei gekommen, die mit dem geschilderten Grundsachverhalt im Zusammenhang stehen könnten. Zur Erhellung der Sachverhalte hat das Polizeipräsidium Köln eine Ermittlungsgruppe gebildet, die die weiteren Ermittlungen übernimmt.'
Die Antragstellerin begehrt die Feststellung, sie sei durch die Antragsgegnerin dadurch in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden, dass ihre Schriftliche Frage vom 8. März 2016 durch die Antragsgegnerin falsch oder unzureichend beantwortet worden sei. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus:
1. Der Antrag sei zulässig. Es bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis, da die streitgegenständliche Schriftliche Frage der Aufklärung eines Sachverhalts von erheblicher öffentlicher Bedeutung gedient habe. Es sei zu befürchten, dass die Bundesregierung auch bei zukünftigen Fragen zu diesem Themenkomplex ihrer Antwortpflicht nicht in vollem Umfang nachkommen werde. Eine andere Möglichkeit, ihren verfassungsmäßigen Informationsanspruch leichter oder schneller durchzusetzen, bestehe nicht. Solange über die Rechtsverletzung zwischen Beteiligten Streit bestehe, sei das Rechtsschutzbedürfnis gegeben.
2. Der Antrag sei auch begründet. Es liege ein Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG vor, weil ihre Frage nicht richtig beantwortet worden sei.
Durch die Aussage des Bundesministers des Innern vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages Nordrhein-Westfalen sei belegt, dass das Bundesinnenministerium am 1. Januar 2016 WE-Meldungen aus Nordrhein-Westfalen erhalten habe, bei denen es sich um Fortschreibungen einer WE-Meldung mit dem Titel "Vergewaltigung, Beleidigung auf sexueller Basis, Diebstahlsdelikte, Raubdelikte begangen durch größere ausländische Personengruppen" gehandelt und die in der dritten Fortschreibung ausdrücklich von elf Übergriffen zum Nachteil von jungen Frauen, begangen durch eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe, berichtet habe. Diese Information über den Eingang der Meldung sei in der Antwort der Antragsgegnerin vom 16. März 2016 auf ihre Schriftliche Frage nicht enthalten; vielmehr sei jegliche Kenntnis von einer solchen Meldung verneint worden. Die Kritik, die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort hätten die Recherchen erschwert, sei unbegründet, da sie die Frage so konkret gestellt habe, wie ihr dies im Hinblick auf die öffentliche Beantwortung der Frage geboten erschienen sei.
Der Antrag ist unzulässig. Der Antragstellerin fehlt jedenfalls das im Organstreitverfahren erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
Auch im Organstreitverfahren ist das Rechtsschutzbedürfnis des Organs grundsätzlich Voraussetzung für die Sachentscheidung (vgl. BVerfGE 62, 1 <33>; 67, 100 <127>; 68, 1 <77>; 119, 302 <307 f.>; 124, 78 <113>; 140, 115 <146 Rn. 80>; 142, 25 <52 Rn. 76>). Das Organstreitverfahren ist eine kontradiktorische Parteistreitigkeit mit Antragsteller und Antragsgegner. Es dient maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht der davon losgelösten Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns (vgl. BVerfGE 68, 1 <69 ff.>; 73, 1 <29 f.>; 80, 188 <212>; 104, 151 <193 f.>; 118, 244 <257>; 126, 55 <67 f.>; 134, 141 <194 Rn. 160>; 136, 190 <192 Rn. 5>; 140, 115 <146 Rn. 80>).
Mit der kontradiktorischen Ausgestaltung des Organstreitverfahrens ist eine diskursive Auseinandersetzung der Verfassungsorgane um ihre Kompetenzen intendiert (vgl. BVerfGE 136, 190 <192 Rn. 5>). Das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben, wenn und solange über die Rechtsverletzung zwischen den Beteiligten Streit besteht (vgl. Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Urteil vom 17. August 2012 - 1/12 -, juris, Rn. 50; vgl. auch Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 17. Juni 1993 - Vf.85-IV-91 -, juris, Rn. 32).
Allerdings muss der Konflikt, dessen Bereinigung der Antragsteller im kontradiktorischen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht begehrt, zuvor für den Antragsgegner erkennbar geworden sein. Bei (vermeintlich oder tatsächlich) unrichtig beantworteten parlamentarischen Fragen trifft den Antragsteller daher eine Konfrontationsobliegenheit. Er muss der Bundesregierung durch den Hinweis auf die (mutmaßliche) Unrichtigkeit der Antwort die Möglichkeit geben, die Sach- und Rechtslage ihrerseits zu prüfen und ihre Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen. Die damit verbundene Verpflichtung, sich bereits im politischen Prozess mit der Verfassungsrechtslage zu befassen und beanspruchte Rechte einzufordern, stellt keine unzumutbare Belastung dar. Denn sie ist lediglich Konsequenz dessen, dass der Organstreit als kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet ist, in dem über streitig gewordene Rechte und Pflichten zwischen den Beteiligten zu befinden ist, und geht nicht über das hinaus, was für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten ist (vgl. BVerfGE 129, 356 <375>).
Die Antragstellerin behauptet lediglich, es bestehe zwischen ihr und der Antragsgegnerin Streit über die Richtigkeit der Beantwortung der Schriftlichen Frage. Sie legt jedoch nicht näher dar, worin sich die Kontroverse manifestiert.
Von der sich aufdrängenden Möglichkeit, die Aussage des Bundesministers des Innern am 31. Oktober 2016 vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages Nordrhein-Westfalen zum Anlass zu nehmen, die Antragsgegnerin durch eine Nachfrage zur Klarstellung aufzufordern, ob sie an der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ole Schröder vom 16. März 2016 festhält oder sich die Darstellung des Bundesministers des Innern zu eigen macht, hat die Antragstellerin keinen Gebrauch gemacht. Mit diesem zeitnahen Verfahren wäre die Chance verbunden gewesen, dass dem Anliegen der Antragstellerin durch Auskunftserteilung und Klarstellung Rechnung getragen wird, ohne dass es einer - hier erst später erfolgten - Anrufung des Bundesverfassungsgerichts bedurft hätte.
Eine Nachfrage der Antragstellerin lag auch vor dem Hintergrund der aus Sicht der Antragsgegnerin unklaren Schriftlichen Frage nahe. Die Antragsgegnerin hat ihre Antwort inhaltlich mit einem Vorbehalt versehen (vgl. hierzu Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Urteil vom 17. August 2012 - 1/12 -, juris, Rn. 52). In ihrer Antwort machte sie deutlich, in welchem Sinne sie die Frage verstanden hatte, und fügte hinzu, dass die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort die Recherchen erschwert hätten. Wollte die Antragstellerin ihre Frage in einem anderen oder eingeschränkten Sinne verstanden wissen, hätte es ihr oblegen, sie von vornherein so zu formulieren. Vom Fragesteller kann eine sorgfältige Formulierung seiner Fragen erwartet werden (vgl. BVerfGE 137, 185 <228 f. Rn. 123 f.>). Jedenfalls wäre es der Antragstellerin aber ohne Weiteres möglich gewesen, das hinter ihrer Frage stehende Informationsinteresse erneut zum Gegenstand einer klarstellenden Nachfrage zu machen und damit zu klären, ob eine Kontroverse zwischen ihr und der Antragsgegnerin im Hinblick auf die Beantwortung der Schriftlichen Anfrage angesichts der späteren Äußerungen des Bundesministers des Innern im Untersuchungsausschuss überhaupt besteht. Kritik an den Antworten der Antragsgegnerin auf Einzelfragen kann in weiteren Nachfragen in der Fragestunde oder in der Befragung der Bundesregierung sowie in Großen und Kleinen Anfragen aufgegriffen werden. Dies ist für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten (vgl. BVerfGE 129, 356 <375>) und entspricht den Gepflogenheiten zwischen Parlament und Regierung.
Besondere Billigkeitsgründe, die die Anordnung einer Auslagenerstattung nach § 34a Abs. 3 BVerfGG ausnahmsweise angezeigt erscheinen lassen (vgl. BVerfGE 96, 66 <67>), liegen nicht vor.