Entscheidungsdatum: 04.07.2013
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin- Brandenburg vom 2. August 2012 wird aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 41 DiszG und § 69 BDG an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Das Berufungsurteil beruht auf vom Beklagten geltend gemachten Verfahrensmängeln.
1. Der Beklagte steht als Polizeihauptmeister im Dienst des Klägers. Im Jahr 2006 wurde er wegen Diebstahls verurteilt. Er hatte während seines Nachtdienstes in den Diensträumen aus einem Dienstanorak Gebührenmarken im Wert von 250 € entnommen und durch Umtausch in Bargeld unberechtigt seinem Vermögen zugeführt. Im sachgleichen Disziplinarverfahren hat das Verwaltungsgericht den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen, ihn aber von dem weiteren disziplinarrechtlichen Vorwurf der ungeordneten Wirtschaftsführung freigestellt. Zur Begründung hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt:
Das Dienstvergehen erfordere unter Berücksichtigung aller belastenden und entlastenden Umstände des Einzelfalls die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis. Die strafrechtlich geahndete Entwendung der Marken, die sich aus disziplinarrechtlicher Sicht als (versuchter) Kollegendiebstahl und als Zugriff auf das durch Umtausch der Marken erlangte Bargeld darstelle, habe derart erhebliches Gewicht, dass allein die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis in Betracht komme. Wegen des Betrages von 250 € sei die Schwelle der Geringwertigkeit deutlich überschritten. Anhaltspunkte für das Vorliegen eines anerkannten Milderungsgrundes seien nicht gegeben. Da der Sachverhalt hierzu keinen hinreichenden Anlass biete, sei auch eine Beweiserhebung hinsichtlich der Minderung der Schuldfähigkeit nicht erforderlich.
2. Die Verfahrensrüge hat Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat nicht geprüft, ob die Disziplinarklage in Einklang mit § 34 Abs. 2 DiszG erhoben wurde, weil es sich rechtsfehlerhaft an dieser Prüfung gehindert gesehen hat. Das beruht auf einem unzutreffenden Verständnis des § 144 Abs. 6 VwGO.
Leidet die Disziplinarklageschrift an einem wesentlichen Mangel im Sinne von § 41 DiszG und § 55 Abs. 1 BDG, so sind die Verwaltungsgerichte gehalten, im Disziplinarklageverfahren auf ihre Beseitigung nach § 55 Abs. 3 BDG hinzuwirken, wenn der Mangel noch heilbar ist. Ein Mangel ist wesentlich im Sinne des § 55 Abs. 1 BDG, wenn sich nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen lässt, dass er sich auf das Berufungsurteil ausgewirkt haben kann (Urteil vom 24. Juni 2010 - BVerwG 2 C 15.09 - BVerwGE 137, 192 = Buchholz 235.1 § 55 BDG Nr. 6
Die Disziplinarklageschrift weist einen wesentlichen Mangel auf, wenn sie von einer unzuständigen Behörde oder einem Beamten erhoben wird, der nicht befugt ist, für die zuständige Behörde tätig zu werden (Urteil vom 28. Februar 2013 a.a.O. Rn. 58; Beschlüsse vom 18. Dezember 2007 - BVerwG 2 B 113.07 - juris Rn. 7
§ 34 Abs. 2 DiszG bestimmt, dass die Disziplinarklage bei Beamtinnen und Beamten durch die oberste Dienstbehörde erhoben wird. Sie kann ihre Befugnis nach Satz 1 durch allgemeine Anordnung ganz oder teilweise auf nachgeordnete Dienstvorgesetzte übertragen; diese Anordnung ist im Amtsblatt für Berlin zu veröffentlichen. Die oberste Dienstbehörde kann das Disziplinarverfahren jederzeit an sich ziehen.
Das Oberverwaltungsgericht hat sich an der ihm auch nach der Zurückverweisung grundsätzlich obliegenden Prüfung, ob die Disziplinarklage von der zuständigen Stelle erhoben worden ist, zu Unrecht durch den zurückverweisenden Beschluss des Senats gehindert gesehen. Es hat diesem Beschluss eine Bindungswirkung im Sinne von § 144 Abs. 6 VwGO beigemessen, die ihm nicht zukommt.
Nach § 144 Abs. 6 VwGO hat das Gericht, an das die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen. Diese Bindungswirkung umfasst die für die Aufhebungsentscheidung kausal ausschlaggebenden Gründe. Dies schließt die den unmittelbaren Zurückverweisungsgründen vorausgehenden Erwägungen jedenfalls insoweit ein, als diese die notwendige (logische) Voraussetzung für die unmittelbaren Aufhebungsgründe waren (Urteile vom 30. Mai 1973 - BVerwG 8 C 159.72 - BVerwGE 42, 243 <247> = Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 26 und vom 28. November 2012 - BVerwG 8 C 21.11 - Rn. 22 < zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung Buchholz vorgesehen>; Beschluss vom 21. August 1997 – BverwG 8 B 151.97 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 65).
Die Bindungswirkung des § 144 Abs. 6 VwGO gilt auch für zurückverweisende Beschlüsse nach § 133 Abs. 6 VwGO (Beschluss vom 11. Juli 2000 – BverwG 8 B 154.00 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 68). Bei der Bestimmung der Reichweite der Bindungswirkung des Beschlusses nach § 133 Abs. 6 VwGO ist aber dessen beschränkter Gegenstand zu berücksichtigen.
Aus § 133 Abs. 3 VwGO ergibt sich, dass das Gericht, sofern die Beschwerde auf Verfahrensmängel gestützt wird, nur prüfen kann, ob die geltend gemachten Verfahrensfehler vorliegen. Ob das Berufungsurteil an sonstigen Verfahrensfehlern leidet, ist nicht von Amts wegen zu prüfen. Dementsprechend kann einem wegen eines Verfahrensfehlers nach § 133 Abs. 6 VwGO zurückverweisenden Beschlusses nicht entnommen werden, das Berufungsurteil sei im Übrigen frei von Verfahrensmängeln.
Erwirkt ein Beteiligter mit der Nichtzulassungsbeschwerde die Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits nach § 133 Abs. 6 VwGO mit der Rüge der unzureichenden Sachaufklärung, so ist die Bindungswirkung nach § 144 Abs. 6 VwGO auf die Beurteilung der gerügten Sachaufklärung und anderer nicht durchgreifender Rügen durch das Bundesverwaltungsgericht beschränkt. Diesem ist es aufgrund des Darlegungserfordernisses nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verwehrt, sich mit Gesichtspunkten zu befassen, die der Beschwerdeführer nicht gerügt hat.
Der Beklagte hat die Verletzung des § 34 Abs. 2 DiszG bei der Erhebung der Disziplinarklage mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem ersten Berufungsurteil nicht gerügt.
Die Frage, ob die Disziplinarklage entgegen § 34 Abs. 2 DiszG von einer unzuständigen Behörde oder von einem hierzu nicht befugten Beamten erhoben worden ist, betrifft keine von Amts wegen zu prüfende, unverzichtbare Prozessvoraussetzung einer Disziplinarklage. Die Konstellation ist nicht mit der Fallgestaltung zu vergleichen, in der das Revisionsgericht im zurückverweisenden Beschluss Ausführungen zur Begründetheit einer Klage gemacht hat, so dass es denknotwendig von ihrer Zulässigkeit ausgegangen ist (Beschluss vom 21. August 1997 a.a.O. Rn. 3). Vielmehr stellt es einen vom Beschwerdeführer nach § 133 Abs. 3 VwGO selbstständig zu rügenden Mangel des berufungsgerichtlichen Verfahrens im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dar, wenn das Oberverwaltungsgericht diesen Mangel der Disziplinarklageerhebung nicht behebt.
Stellt das Oberverwaltungsgericht nach der Zurückverweisung im Berufungsverfahren fest, dass, wie selbst vom Kläger angenommen, die Vorgaben des § 34 Abs. 2 DiszG bei der Erhebung der Disziplinarklage vom 28. April 2008 nicht eingehalten worden sind, so hat es die Vorgaben des § 41 DiszG und § 55 Abs. 2 und 3 BDG zu beachten. Ein etwaiger Mangel könnte im erneuten Berufungsverfahren durch Einreichen einer neuen Disziplinarklageschrift geheilt werden, wenn keine schutzwürdigen Interessen des Beklagten entgegenstehen. Dies setzt voraus, dass diese Klageschrift keine neuen belastenden Tatsachen und Beweismittel enthält (Urteil vom 28. Februar 2013 a.a.O. Rn. 63).
3. Auch die weitere Verfahrensrüge des Verstoßes gegen die aus § 41 DiszG, § 58 Abs. 1 BDG und § 86 Abs. 1 VwGO folgende Pflicht zur Erhebung der erforderlichen Beweise ist begründet.
Nach diesen Vorschriften obliegt den Tatsachengerichten die Pflicht, jede mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, sofern dies nach ihrem materiellrechtlichen Rechtsstandpunkt für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. Urteile vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 - BVerwGE 71, 38 <41> = Buchholz 303 § 414 ZPO Nr. 1 S. 2 und vom 6. Oktober 1987 - BVerwG 9 C 12.87 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 31 S. 1).
Bestehen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Schuldfähigkeit des Beamten bei Begehung der Tat wegen einer seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB erheblich gemindert war, so darf das Verwaltungsgericht diesen Aspekt nicht ohne Sachaufklärung zu Gunsten des Beamten unterstellen, ihm aber bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnahme kein Gewicht beimessen. Vielmehr muss es die Frage einer Minderung der Schuldfähigkeit des Beamten aufklären.
Hat der Beamte zum Tatzeitpunkt an einer krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB gelitten oder kann eine solche Störung nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" nicht ausgeschlossen werden und ist die Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten erheblich, so ist dieser Umstand bei der Bewertung der Schwere des Dienstvergehens mit dem ihm zukommenden erheblichen Gewicht heranzuziehen. Bei einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit kann die Höchstmaßnahme regelmäßig nicht mehr ausgesprochen werden (Urteil vom 25. März 2010 - BVerwG 2 C 83.08 - BVerwGE 136, 173 = Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 11 jeweils Rn. 29 ff.; Beschluss vom 20. Oktober 2011 - BVerwG 2 B 61.10 - juris Rn. 9).
Hierzu muss geklärt werden, ob der Beamte im Tatzeitraum an einer seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB gelitten hat, die seine Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, vermindert hat. Hierzu bedarf es in der Regel besonderer medizinischer Sachkunde. Erst wenn die seelische Störung und ihr Schweregrad feststehen oder nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" nicht ausgeschlossen werden können, kann beurteilt werden, ob die Voraussetzungen für eine erheblich geminderte Schuldfähigkeit vorliegen. Denn von den Auswirkungen der krankhaften seelischen Störung auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit in Bezug auf das Verhalten des Beamten hängt im Disziplinarrecht die Beurteilung der Erheblichkeit einer verminderten Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB ab. Die Frage, ob die Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer krankhaften seelischen Störung "erheblich" war, ist eine Rechtsfrage, die die Verwaltungsgerichte in eigener Verantwortung zu beantworten haben. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seines Erscheinungsbildes vor, während und nach der Tat und der Berücksichtigung der Tatumstände, insbesondere der Vorgehensweise (stRspr, vgl. zum Ganzen: Urteil vom 29. Mai 2008 – BverwG 2 C 59.07 - Buchholz 235.1 § 70 BDG Nr. 3).
Aufgrund des Vorbringens des Beklagten auch im Berufungsverfahren bestand hinreichender Anlass, der entscheidungserheblichen Frage der erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Beklagten zum Tatzeitpunkt (24./25. August 2005) nachzugehen. Auch hat der Beklagte für den Fall, dass das Oberverwaltungsgericht seine Dienstentfernung für geboten halten würde, in der Berufungsverhandlung beantragt, ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache einzuholen, dass er sich zumindest seit Ende 2003 in einem Zustand von depressiven Phasen befand und zum Zeitpunkt der Tat zumindest vermindert schuldfähig war.
Das Oberverwaltungsgericht hat sich in seinem Urteil (UA S. 29 f.) eingehend mit den verschiedenen von ihm eingeholten schriftlichen Stellungnahmen der behandelnden Ärztin L. befasst und diesen mit umfangreichen Darlegungen eine Bedeutung für die entscheidungserhebliche Frage der Verminderung der Schuldfähigkeit des Beklagten zum Tatzeitpunkt abgesprochen. Es hat die Ärztin nicht vernommen. Damit hat es gegen § 96 Abs. 1 VwGO verstoßen:
Diese Regelung soll sicherstellen, dass das Gericht seiner Entscheidung das in der jeweiligen prozessualen Situation geeignete und erforderliche Beweismittel zu Grunde legt, um dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs, dem Gebot des fairen Verfahrens und insbesondere dem Recht der Verfahrensbeteiligten auf Beweisteilhabe gerecht zu werden. Es hängt von der jeweiligen prozessualen Situation ab, ob ein mittelbares Beweismittel wie die Bewertung einer schriftlichen Stellungnahme eines Zeugen ausreicht oder nach dem Grundsatz der unmittelbaren Beweiserhebung dessen Vernehmung geboten ist (Urteil vom 28. Juli 2011 - BVerwG 2 C 28.10 - BVerwGE 140, 199 = Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 60 jeweils Rn. 17).
Angesichts der Bedeutung der Aussage der behandelnden Ärztin für die Frage der verminderten Schuldfähigkeit des Beklagten zum Tatzeitpunkt musste es sich dem Oberverwaltungsgericht aufdrängen, nicht nur deren schriftliche Stellungnahmen auszuwerten, sondern diese in der Berufungsverhandlung als sachverständige Zeugin zu vernehmen. Bei einer persönlichen Vernehmung der Ärztin in Anwesenheit des Beklagten hätte auch geklärt werden können, aus welchen Gründen sie auf die Anfragen und Bitten des Beklagten aus dem Jahr 2009 um weitere Substantiierung ihrer ärztlichen Einschätzung nicht reagiert und welche Angaben der Beklagte ihr gegenüber im Rahmen der Sozialanamnese zu den Umständen sowohl der ersten als auch der zweiten Trennung von seiner Ehefrau gemacht hat.
Das Oberverwaltungsgericht hat ferner den zahlreichen Feststellungen zum seelischen Zustand des Beklagten im unmittelbaren Anschluss an die Tat jede rechtliche Bedeutung für die Frage der verminderten Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt abgesprochen. Dies gilt etwa für die Einschätzung des zuständigen Beamten der Disziplinarabteilung vom 1. September 2005, der den seelischen Zustand des Beklagten als "kritisch" eingestuft hat. Nach seiner Vernehmung wurde der Beklagte wegen seines Zustandes einem Kriseninterventionszentrum vorgestellt, ohne dass es allerdings zu einer sofortigen Einweisung kam. Sechs Tage nach der Tat wurde der Beklagte für acht Tage in einer Kriseneinrichtung stationär aufgenommen. Anschließend war der Beklagte bis Anfang Oktober 2005 krankgeschrieben.
Seine Annahme, diese Vorfälle beträfen allein das Befinden des Beklagten nach Aufdecken der Tat und nach Konfrontation mit den Vorwürfen, hat das Oberverwaltungsgericht ohne die hierfür erforderliche medizinische Sachkunde getroffen. Das Oberverwaltungsgericht hat nicht dargelegt, dass es selbst über die notwendigen medizinischen Kenntnisse verfügt.
4. Im Übrigen greift die Beschwerde lediglich die Richtigkeit der Zumessungsentscheidung des Oberverwaltungsgerichts an, ohne einen Zulassungsgrund darzulegen. Denn die Beschwerde macht geltend, das Oberverwaltungsgericht hätte auf der Grundlage aller be- und entlastenden Gesichtspunkte eine positive prognostische Gesamtwürdigung vornehmen müssen.