Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 28.01.2013


BVerwG 28.01.2013 - 2 B 62/12

Rücknahme der Gewährung von Übergangsgebührnissen; Frist für die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes; rechtliches Gehör; Beschluss über die Berufungszulassung


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsdatum:
28.01.2013
Aktenzeichen:
2 B 62/12
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Sächsisches Oberverwaltungsgericht, 30. Mai 2012, Az: 2 A 201/10, Urteil
Zitierte Gesetze

Gründe

1

Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie auf Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.

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1. Der Kläger, der als Soldat auf Zeit zunächst für vier Jahre bis Ende Februar 2001 und nachfolgend von Juli 2001 an für weitere fünf Jahre im Dienst der Beklagten stand, wendet sich gegen die Teilrücknahme der ihm zugesprochenen Übergangsgebührnisse. Er hatte bereits nach Ablauf der Dienstzeit seines ersten Dienstverhältnisses Übergangsbeihilfe und Übergangsgebührnisse erhalten und bekam auch nach Ablauf seines zweiten Dienstverhältnisses mit Bescheid vom 22. Mai 2006 entsprechende Bewilligungen zugesprochen. Dabei war hinsichtlich der Übergangsbeihilfe eine Anrechnung der aus dem früheren Dienstverhältnis gewährten Übergangsbeihilfe erfolgt, in Bezug auf die Übergangsgebührnisse aber unterblieben.

3

Durch Bescheid vom 16. November 2007 änderte die Beklagte die Bezugsdauer der Übergangsgebührnisse in Höhe von 1 534,10 €/Monat von ursprünglich 31. März 2008 auf 30. September 2007 ab. Nach § 13a SVG sei die Gewährung von Übergangsgebührnissen aus einem früheren Dienstverhältnis anzurechnen und der Bezugszeitraum entsprechend zu verkürzen. Widerspruch, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Oberverwaltungsgericht hat zur Begründung insbesondere ausgeführt, auf Vertrauensschutz könne sich der Kläger nicht berufen, weil die unterbliebene Anrechnung ein offenkundiger Fehler gewesen sei, der sich auch dem Kläger habe aufdrängen müssen. Auch die Jahresfrist aus § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG sei gewahrt.

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2. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

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Die nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderliche Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt voraus, dass der Beschwerdeführer eine konkrete Frage des revisiblen Rechts bezeichnet und aufzeigt, dass die Frage sowohl im konkreten Fall entscheidungserheblich als auch allgemein klärungsbedürftig ist. Klärungsbedarf besteht, wenn eine von der Beschwerde aufgeworfene Frage von Bundesverfassungs- oder Bundesverwaltungsgericht weder beantwortet worden ist noch auf der Grundlage ihrer Rechtsprechung eindeutig beantwortet werden kann (stRspr; vgl. etwa Beschluss vom 24. Januar 2011 - BVerwG 2 B 2.11 - Buchholz 237.7 § 15 NWLBG Nr. 9 = NVwZ-RR 2011, 329, jeweils Rn. 4).

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Die vom Kläger aufgeworfene Frage zum Beginn der in § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG festgesetzten Jahresfrist für die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Es ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung seit dem Beschluss des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Dezember 1984 (- BVerwG Gr.Sen. 1.84 und 2.84 - BVerwGE 70, 356 = Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 33) geklärt, dass diese Frist erst zu laufen beginnt, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr die für die Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. Entgegen der Auffassung der Beschwerde kommt es daher nicht darauf an, dass die die Rücknahme rechtfertigenden Umstände bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides bekannt gewesen sind. Auch wenn der Erlass des begünstigenden Verwaltungsakts darauf beruht, dass die Behörde den ihr vollständig bekannten Sachverhalt rechtsfehlerhaft gewürdigt oder das anzuwendende Recht verkannt hat, beginnt die Jahresfrist vielmehr erst mit der Kenntnis des Rechtsfehler zu laufen (vgl. zuletzt etwa Urteil vom 28. Juni 2012 - BVerwG 2 C 13.11 - NVwZ-RR 2012, 933 Rn. 28). Die Frist wird daher nur dann überschritten, wenn die Behörde für ihre Entscheidung trotz Kenntnis der Rechtswidrigkeit und aller für die Rücknahmeverfügung erforderlichen Umstände mehr als ein Jahr benötigt. Die dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Rechtsfragen zur Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG sind daher geklärt und vom Oberverwaltungsgericht auch in Übereinstimmung hierzu angewandt worden.

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Die im konkreten Fall entscheidungserhebliche Frage, ab wann die Beklagte die für den Beginn des Fristablaufs erforderlichen Kenntnisse besaß, ist einer Grundsatzrüge nicht zugänglich. Das Oberverwaltungsgericht hat seine Annahme, die Beklagte habe die Kenntnisse "erst" in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Rücknahmebescheid erlangt, zwar nicht auf Tatsachenfeststellungen gestützt. Der Kläger hat insoweit jedoch keine Aufklärungsrüge erhoben (vgl. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

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3. Mit der Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe seine im Zulassungsbeschluss geäußerte Rechtsauffassung ohne entsprechenden Hinweis vollständig geändert, ist auch der geltend gemachte Verfahrensmangel der Verletzung rechtlichen Gehörs nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise aufgezeigt.

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Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Verfahrensbeteiligten, dass sie Gelegenheit erhalten, sich vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem dieser zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern und dadurch die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen. Zwar ergibt sich aus Art. 103 Abs. 1 GG keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters. Ein Gericht verstößt aber dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG und das Gebot eines fairen Verfahrens, wenn es ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188 <190>, Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1934/93 - BVerfGE 96, 189 <204>, Beschluss vom 7. Oktober 2003 - 1 BvR 10/99 - BVerfGE 108, 341 <345 f.> sowie zuletzt etwa Kammerbeschluss vom 14. Oktober 2010 - 2 BvR 409/09 - juris Rn. 20).

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Derartiges war hier nicht der Fall. Vielmehr musste der Kläger nach dem bisherigen Prozessverlauf damit rechnen, dass die Frage, ob sich dem Kläger die fehlende Anrechnung der aus früheren Dienstverhältnissen erhaltenen Übergangsgebührnisse hätte aufdrängen müssen, auch im Berufungsverfahren von Bedeutung sein wird. Er konnte nicht darauf vertrauen, dass das Oberverwaltungsgericht seine im Beschluss über die Berufungszulassung geäußerten Zweifel aufrechterhalten und vertiefen würde.

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Zwar hat das Oberverwaltungsgericht im Beschluss vom 24. Februar 2010 über die Berufungszulassung die Frage aufgeworfen, ob sich dem Kläger die Anrechnung von Zeiträumen früherer Übergangsgebührnisse auch ohne entsprechende Belehrung hätte aufdrängen müssen. Der Ausgang des Berufungsverfahrens ist indes ausdrücklich als ungewiss beurteilt worden. Der Kläger konnte daher nicht darauf vertrauen, dass sich das Gericht mit dieser Einschätzung bereits bindend festgelegt hatte und daher nicht ohne erneuten Hinweis zu einer anderen Einschätzung gelangen würde (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 30. November 1995 - 1 BvR 403/95 - NJW-RR 1996, 206 sowie vom 29. September 2006 - 1 BvR 247/05 - BVerfGK 9, 295 Rn. 30).

12

Dem entspricht die prozessuale Situation des Berufungszulassungsverfahrens, mit dem die Berufungsentscheidung nicht vorweggenommen, sondern erst ermöglicht werden soll (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 15. Februar 2011 - 1 BvR 980/10 - NVwZ-RR 2011, 460 Rn. 17). Die umfassende Überprüfung der Richtigkeit eines erstinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Urteils ist nach der Systematik des Rechtsmittelrechts dem Berufungsverfahren selbst vorbehalten. Der stattgebende Zulassungsbeschluss bewirkt daher nur, dass dem Antragsteller der Zugang zur Berufungsinstanz eröffnet wird (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO). In diesem hat das Berufungsgericht den zugelassenen Streitstoff gemäß § 128 VwGO in vollem Umfang neu zu prüfen. Das Oberverwaltungsgericht ist durch den Beschluss damit zwar an die Zulassung der Berufung gebunden, nicht aber an die (vorläufig) geäußerte Rechtsauffassung zur Zulässigkeit oder Begründetheit der Klage (vgl. Beschluss vom 12. Januar 2009 - BVerwG 5 B 48.08 - juris Rn. 3). Es kann daher auch dann zu einer Zurückweisung der Berufung gelangen, wenn es im Zulassungsbeschluss ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils angenommen hatte. Die Regelungswirkung des Zulassungsbeschlusses beschränkt sich auf die Zulassung selbst, er entfaltet nicht auch hinsichtlich der Gründe Bindungswirkung für das nachfolgende Verfahren (vgl. Bader, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 124a Rn. 111; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO-Großkommentar, 3. Aufl. 2010, § 124a Rn. 304).

13

Eine Auseinandersetzung mit der Frage der offenkundigen Fehlerhaftigkeit des Ausgangsbescheides lag hier schon deshalb nahe, weil diese Annahme tragender Grund der angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung war. Deren Gründe sind aber regelmäßig Gegenstand der Berufungsentscheidung, so dass der Kläger auch ohne weiteren Hinweis damit rechnen musste, dass das Oberverwaltungsgericht sich damit befassen würde (vgl. Beschluss vom 16. August 2011 - BVerwG 6 B 18.11 - juris Rn. 9 m.w.N.).

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Anlass von der Entscheidungserheblichkeit auszugehen, bestand hier überdies, weil die Beklagte ihre Berufungserwiderung maßgeblich auf die Offenkundigkeit des Fehlers gestützt hatte. Jedenfalls für den Fall, dass das Gericht das ausgehändigte Merkblatt nicht für ausreichend erachtete, war daher für einen gewissenhaften und kundigen Prozessbeteiligten ersichtlich, dass der Ausgang des Rechtsstreit von der Frage abhängen würde, ob sich die fehlende Anrechnung früherer Übergangsgebührnisse bereits aus der Bescheidgestaltung selbst und dem Zusammenhang mit dem die Übergangsbeihilfe betreffenden Bescheid hätte aufdrängen müssen. Dementsprechend hat sich der Kläger im Schriftsatz vom 31. Mai 2010 auch dazu geäußert, ob sich aus der Gestaltung des Bescheids vom 22. Mai 2006 oder seiner Vorgeschichte die Anrechnungspflicht entnehmen ließ. Warum trotz dieser eigenen Darlegungen weitere - und ggf. welche - Hinweise des Gerichts hätten erforderlich sein sollen, erschließt sich nicht. Vielmehr hat der Kläger selbst auf eine mündliche Verhandlung verzichtet und damit zu erkennen gegeben, dass weiterer Klärungs- oder Vortragsbedarf nicht mehr besteht.

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Im Übrigen ist nicht erkennbar, dass die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen könnte. Der Kläger hat zur streitigen Frage, ob der Kläger die Rechtswidrigkeit der ungeschmälerten Bewilligung von Übergangsgebührnissen infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 VwVfG), bereits mit der Berufungsbegründung und dem Schriftsatz vom 31. Mai 2010 umfangreich vorgetragen. Welche darüber hinausgehenden Umstände oder Gesichtspunkte im Falle eines Hinweises noch hätten vorgebracht werden können, ist weder mit dem Zulassungsantrag dargelegt noch sonst ersichtlich. Aus dem geltend gemachten Wertungswiderspruch im Hinblick auf die Kenntnis der Beklagten folgt nichts anderes. Vielmehr stellt der Fristlauf für die Rücknahme nach § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG auf den Grund der fehlenden Kenntnis nicht ab, so dass sich Verschuldensfragen hier nicht stellen. Dieser vom Kläger nachträglich vorgetragene Gesichtspunkt weist damit bereits keinen Bezug zur Frage der grob fahrlässigen Unkenntnis des Klägers auf und hätte daher auch im Falle seiner Geltendmachung vor der Entscheidungsfindung des Oberverwaltungsgerichts auf diese keinen Einfluss haben können.