Entscheidungsdatum: 30.10.2014
Der Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 12. September 2013 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 42 800 € festgesetzt.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Beschluss über die Verwerfung der Berufung des Klägers aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 133 Abs. 6 VwGO). Die Berufungsentscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Der Kläger macht zu Recht geltend, dass das Oberverwaltungsgericht seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO).
Der 1960 geborene Kläger ist seit 1992 Polizeibeamter. Nachdem der Beklagte erfahren hatte, dass der Kläger 1980 wegen mehrerer Diebstähle zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war, nahm er die Ernennung zum Beamten zurück. Die dagegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Die Verurteilung könne berücksichtigt werden, obwohl ihre Eintragung im Bundeszentralregister längst getilgt sei. Die weitere Tätigkeit des Klägers als Polizeibeamter führe zu einer erheblichen Gefährdung der Allgemeinheit, weil sie das Ansehen der Polizei beschädige. Das Verwaltungsgericht hat die Berufung nicht zugelassen.
Der Kläger hat gegen das erstinstanzliche Urteil mit Schriftsatz vom 5. Mai 2012 fristwahrend Rechtsmittel eingelegt. Der erste Satz dieses Schriftsatzes lautet auszugsweise: „...beantrage ich hiermit die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 29. März 2013 durch das Sächsische Oberverwaltungsgericht und lege Berufung gegen das vorgenannte Urteil ein mit dem Antrag....". Auf Seite 4 des Schriftsatzes unter „V." hat der Kläger ausgeführt, dass die Berufung aus den Gründen der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten und der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zuzulassen sei.
Den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungszulassungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss vom 23. Juli 2013 abgelehnt. In der Begründung heißt es, das eingelegte Rechtsmittel der Berufung sei offensichtlich unzulässig. Auf diese Rechtsauffassung hatte das Gericht den Kläger zuvor nicht hingewiesen.
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 3. September 2013 darauf hingewiesen, er habe in dem fristwahrenden Schriftsatz vom 5. Mai 2012 einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Diesen Vortrag hat er nach Akteneinsicht mit Schriftsatz vom 9. September 2013 wiederholt.
Durch Beschluss vom 12. September 2013 hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. In den Gründen heißt es, zulässiges Rechtsmittel gegen das erstinstanzliche Urteil sei der Antrag auf Zulassung der Berufung gewesen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe dagegen ausdrücklich Berufung gegen das Urteil eingelegt und bereits konkrete Berufungsanträge gestellt. Selbst wenn der Schriftsatz vom 5. Mai 2012 als Zulassungsantrag ausgelegt werden könnte, habe der Kläger jedenfalls keinen Zulassungsgrund dargelegt.
1. Das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, verpflichtet das Gericht, das Vorbringen jedes Verfahrensbeteiligten bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Der Gehörsanspruch verlangt nicht, dass das Gericht das gesamte Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen wiederzugeben und zu jedem einzelnen Gesichtspunkt Stellung zu nehmen hat. Vielmehr sind in der Entscheidung nur diejenigen Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das Gericht kann sich auf die Darstellung und Würdigung derjenigen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte beschränken, auf die es nach seinem Rechtsstandpunkt entscheidungserheblich ankommt (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Daher kann aus dem Umstand, dass das Gericht einen Aspekt des Vorbringens eines Beteiligten in den Entscheidungsgründen nicht abgehandelt hat, dann geschlossen werden, es habe diesen Aspekt nicht in Erwägung gezogen, wenn er nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts eine Frage von zentraler Bedeutung betrifft (stRspr; vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <145 f.>; BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <209 f.> = Buchholz 402.25 § 1 Nr. 174 S. 27 f.; Beschluss vom 21. Juni 2007 - BVerwG 2 B 28.07 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 3 Rn. 6).
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts über die Verwerfung der Berufung beruht auf der Rechtsauffassung, der Kläger habe in dem Schriftsatz vom 5. Mai 2012 gegen das die Klage abweisende erstinstanzliche Urteil nur Berufung eingelegt, anstatt einen - nach § 124 Abs. 1, § 124a Abs. 4 VwGO allein zulässigen - Antrag auf Zulassung der Berufung zu stellen. Nach diesem Standpunkt folgerichtig hat das Oberverwaltungsgericht keine Entscheidung über die Zulassung der Berufung getroffen. Die Ausführungen zur fehlenden Darlegung eines Zulassungsgrundes tragen die Berufungsentscheidung nicht.
Von der tragenden Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts hat der Kläger erstmals durch die Gründe des - Prozesskostenhilfe ablehnenden - Beschlusses vom 23. Juli 2013 Kenntnis erhalten. Sein nachfolgender Vortrag in den Schriftsätzen vom 3. September und vom 9. September 2013 zum Inhalt des Schriftsatzes vom 5. Mai 2012 hätte dem Oberverwaltungsgericht bereits wegen des ersten Satzes dieses Schriftsatzes Anlass geben müssen, seine Rechtsauffassung über das eingelegte Rechtsmittel zu überdenken. Die Gründe des Beschlusses über die Verwerfung der Berufung lassen jedoch nicht erkennen, dass das Oberverwaltungsgericht dies getan hat. Dieser Schluss drängt sich schon deshalb auf, weil sich das Oberverwaltungsgericht - wie bereits in dem Beschluss vom 23. Juli 2013 - darauf beschränkt hat, seine Rechtsauffassung in einem Satz mitzuteilen. Erneut hat es lediglich ausgeführt, der Kläger habe in dem Schriftsatz vom 5. Mai 2012 ausdrücklich Berufung eingelegt. Auf dessen Erklärungen in den Schriftsätzen vom 3. September und vom 9. September 2013 ist es mit keinem Wort eingegangen. Dementsprechend hat es den Eingangssatz des Schriftsatzes vom 5. Mai 2013 nicht erwähnt, nach dessen eindeutigem Wortlaut der Kläger eben nicht nur Berufung eingelegt, sondern voranstehend einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt hat. Auch fehlt jede Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Schriftsatzes vom 5. Mai 2012, in dem der Kläger unter „V." Ausführungen zu Zulassungsgründen gemacht hat.
Es liegt auf der Hand, dass dem Vortrag des Klägers zum Inhalt des Schriftsatzes vom 5. Mai 2012 zentrale Bedeutung für die Entscheidungsfindung über das eingelegte Rechtsmittel zukommt. Der Umstand, dass die Gründe des Verwerfungsbeschlusses keinen Hinweis auf diesen Vortrag enthalten und sich nicht mit dem Inhalt des Schriftsatzes vom 5. Mai 2012, insbesondere nicht mit dem Wortlaut des Eingangssatzes, befassen, lässt nur den Schluss zu, dass das Oberverwaltungsgericht den Vortrag des Klägers nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen und die danach gebotene umfassende Auslegung des Schriftsatzes vom 5. Mai 2012 unterlassen hat.
Durch die Aufhebung des Verwerfungsbeschlusses und die Zurückverweisung der Sache nach § 133 Abs. 6 VwGO wird das Oberverwaltungsgericht in die Lage versetzt, erneut darüber zu entscheiden, ob der Kläger Berufung eingelegt oder einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt hat. Einer erneuten Entscheidung über die Berufung bedarf es nicht, wenn das Oberverwaltungsgericht aufgrund einer - allen Umständen Rechnung tragenden - Auslegung des Schriftsatzes vom 5. Mai 2012 zu dem Ergebnis kommt, der Kläger habe einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Für diese Auslegung weist der Senat auf seine Rechtsprechung hin, wonach Erklärungen gegenüber einer Behörde auch aus Gründen der Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im Rahmen des methodisch Vertretbaren so auszulegen sind, dass der Erklärende sein Rechtsschutzziel erreicht (Urteil vom 30. Oktober 2013 - BVerwG 2 C 23.12 - BVerwGE 148, 217 Rn. 15 f., 23). Für die Einlegung von Rechtsmitteln im Verwaltungsprozess gilt nichts anderes.
2. Für den Fall, dass das Oberverwaltungsgericht annimmt, der Kläger habe einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, weist der Senat für die dann zu treffende Entscheidung über die Zulassung der Berufung vorsorglich auf Folgendes hin:
Der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist bei verfassungskonformer Auslegung dieser Bestimmung dargelegt, wenn der Antragsteller einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage stellt. Ernstliche Zweifel sind nicht erst dann anzunehmen, wenn bei der im Zulassungsverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Erfolg der Berufung wahrscheinlicher ist als der Misserfolg (stRspr; vgl. nur BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 - NVwZ 2000, 1163 <1164> und vom 21. Januar 2009 - 1 BvR 2524/06 - NVwZ 2009, 515 <516>).
In dem Schriftsatz vom 5. Mai 2012 hat der Kläger ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO daraus hergeleitet, dass das Verwaltungsgericht nicht begründet habe, dass ein Verbleib des Klägers im Polizeidienst zu einer erheblichen Gefährdung der Allgemeinheit im Sinne des § 52 Abs. 1 Nr. 4 BZRG führen würde. Damit hat er zwar nicht die generelle Anwendbarkeit dieser gesetzlichen Ausnahme von dem Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG, wohl aber deren Anwendung im vorliegenden Fall in Frage gestellt.
In der Tat hat das Verwaltungsgericht für die Annahme einer erheblichen Gefährdung ausschließlich auf eine Beeinträchtigung des Ansehens der Polizei abgestellt, ohne die erforderliche Gefährdungsprognose vorzunehmen. Bei dieser Prognose kommt dem Umstand maßgebendes Gewicht zu, dass der Kläger seit 1992 ungefähr 20 Jahre lang ohne Beanstandungen als Polizist tätig war. Darauf ist das Verwaltungsgericht bei der Beurteilung der erheblichen Gefährdung nicht eingegangen. Hinzu kommt, dass die Taten des Klägers bei Eintritt in den Polizeidienst ungefähr zwölf Jahre zurück lagen und der Kläger im Tatzeitraum erst 19 Jahre alt war.
Weiterhin hat der Kläger seinen Vortrag mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2012 durch einen Hinweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. März 1996 - BVerwG 1 C 12.95 - (BVerwGE 101, 24) ergänzt. Daraus hat er zutreffend hergeleitet, dass der Ausnahmetatbestand des § 52 Abs. 1 Nr. 4 BZRG die Verwertung einer im Bundeszentralregister getilgten oder tilgungsreifen strafrechtlichen Verurteilung ausschließlich für Entscheidungen vorsieht, die den Zugang zu einer bestimmten Betätigung, im vorliegenden Fall die Einstellung in den öffentlichen Dienst, regeln. Der Ausnahmetatbestand des § 52 Abs. 1 Nr. 4 BZRG schränkt das Verwertungsverbot nach § 51 Abs. 1 BZRG aber nicht für Maßnahmen ein, die die betreffenden Betätigungen beenden. Eine derartige Maßnahme stellt die Rücknahme der Ernennung, d.h. der Einstellung in den öffentlichen Dienst, dar.
Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht die Anwendbarkeit des Ausnahmetatbestandes des § 52 Abs. 1 Nr. 4 BZRG für die Rücknahme der Ernennung des Klägers zum Polizeibeamten angenommen, ohne die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu berücksichtigen. Im Übrigen ergibt sich die Fragwürdigkeit der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts bereits aus dem Gesetzeswortlaut des § 52 Abs. 1 Nr. 4 BZRG.
Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.