Entscheidungsdatum: 07.12.2016
Trifloxystrobin
Der Widerruf eines ergänzenden Schutzzertifikates kann auf Antrag des Inhabers analog § 64 Patentgesetz erfolgen.
In der Beschwerdesache
betreffend das Schutzzertifikat 100 75 013
…
hat der 15. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts am 7. Dezember 2016 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dr. Feuerlein sowie der Richter Dr. Egerer, Heimen und Dr. Freudenreich
beschlossen:
Auf die Beschwerde wird der Beschluss der Patentabteilung 44 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 29. Juli 2014 aufgehoben und das Schutzzertifikat 100 75 013 widerrufen.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
I.
Die Beschwerdeführerin beantragt den Widerruf ihres Schutzzertifikats 100 75 013 für das Pflanzenschutzmittel „Trifloxystrobin“, welches am 9. April 2003 auf der Grundlage der Zulassung AP-40-51-01 der damaligen Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft (BBA), einer sog. Notzulassung gemäß § 11 Abs. 2 Nr. 3 PflSchG a.F. gewährt wurde. Die Laufzeit des Schutzzertifikates ist am 26. November 2013 abgelaufen.
Die Beschwerdeführerin hält ihr Schutzrecht für von Anfang an nichtig, weil gemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (vgl. EuGH, BPatGE 53, 318, Urt. v. 17.10.2013 - Rs C-210/12) die Erteilung eines Schutzzertifikates auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 91/414/EWG (EGRL), der § 11 Abs. 2 Nr. 3 PflSchG a.F. entspricht, nicht zulässig gewesen sei, vielmehr dazu eine Zulassung nach Art. 4 EGRL hätte vorliegen müssen.
Das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) hat den Nichtigkeitsantrag mit Beschluss vom 29. Juli 2014 mit der Begründung zurückgewiesen, das Patentgesetz sehe einen Widerruf eines Schutzzertifikates auf Antrag des Inhabers nicht vor, der Widerruf könne lediglich im Wege der Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht erreicht werden. Die Patentabteilung hat weiter ausgeführt, eine analoge Anwendung von § 64 PatG auf Schutzzertifikate sei gemäß § 16a PatG ausgeschlossen.
Gegen den Zurückweisungsbeschluss hat die Beschwerdeführerin Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat sie zusammengefasst ausgeführt, die Interessen von Patent- und Schutzzertifikatsinhabern seien, soweit die Vernichtung ihrer Rechte mit Rückwirkung betroffen sei, vergleichbar und daher sei eine entsprechende Anwendung der Widerrufsmöglichkeit aus § 64 PatG auch für Schutzzertifikate angezeigt. Der Gesetzgeber habe bei der Schaffung von § 16a PatG eine Widerrufsmöglichkeit für Schutzzertifikate auch nicht bewusst ausschließen wollen.
Die Beschwerdeführerin hat beantragt,
den Beschluss der Patentabteilung 44 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 29. Juli 2014 aufzuheben und das Schutzzertifikat 100 75 013 zu widerrufen.
Die Präsidentin des DPMA ist mit Schriftsatz vom 27. April 2016 dem Beschwerdeverfahren beigetreten. Sie vertritt die Auffassung, dass gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung 1610/96/EWG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 23. Juli 1996 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikates für Pflanzenschutzmittel auch dem Inhaber eines ergänzenden Schutzzertifikates selbst die Möglichkeit eröffnet werden müsse, das Schutzzertifikat nicht nur durch Verzicht für die Zukunft (§§ 16a, 20 PatG), sondern auch rückwirkend zu vernichten. Dies könne entweder durch ein – einseitiges – gerichtliches Verfahren oder durch Widerruf analog § 64 PatG erfolgen.
Einen eigenen Sachantrag hat die Präsidentin des DPMA nicht gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten verwiesen.
II.
Die Beschwerde der Anmelderin ist frist- und formgerecht eingelegt worden. Sie ist auch im Übrigen zulässig, da mit der Beschwerde ein Beschluss der Patentabteilung angegriffen wird. (§ 73 i. V. m. §§ 16a Abs. 2, 67 Abs. 1 Nr. 2 lit. c PatG).
Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg, da der Antrag der Beschwerdeführerin auf Widerruf ihres eigenen Schutzzertifikates 100 75 013 zulässig und begründet ist.
Entgegen der Auffassung der Patentabteilung des DPMA im angefochtenen Beschluss kann gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung 1610/96/EWG (i.F. EGVO; ABl. L 198 v. 8.8.1996, S. 30-35), die unmittelbar Geltung beansprucht, „jedermann“, somit auch der Schutzrechtsinhaber, bei der nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften für die Nichtigkeitserklärung des entsprechenden Grundpatentes zuständigen Stelle einen Antrag auf Nichtigkeitserklärung des Zertifikates stellen oder Klage auf Nichtigkeit erheben. Nach Auffassung des Senates ist die hierfür nach deutschem Recht zuständige Stelle, sofern es sich nicht um eine Klage handelt, das DPMA analog § 16a i. V. m. § 64 PatG. Zwar hat der deutsche Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der verfahrensrechtlichen Vorgaben der EGVO die kontradiktorische Nichtigkeitsklage beim Bundespatentgericht als Regelfall angesehen, dies schließt es aber nicht aus, in einseitigen Verfahren ein einfacheres Antragsverfahren vor dem Amt durchzuführen. Der Gesetzgeber hat in § 16a i. V. m. §§ 65 bis 99 PatG lediglich die Nichtigkeitserklärung eines Zertifikates auf Antrag bzw. Klage eines Dritten ausdrücklich geregelt, während die vom Unionsrecht, wie dargelegt, eröffnete Möglichkeit einer einseitigen Nichtigkeitserklärung durch den Schutzrechtsinhaber selbst im deutschen Gesetz nicht erwähnt wird. Insbesondere fehlt in § 16a PatG, der im Wesentlichen die von der EGVO geforderten einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ausgestaltet, eine Verweisung auf § 64 PatG, der u. a. die Nichtigkeitserklärung durch den Patentinhaber selbst regelt.
Das Fehlen der entsprechenden Verfahrensregeln im deutschen Recht, welche die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 15 Abs. 2 EGVO umsetzen, beruhen nach Auffassung des Senates jedoch nicht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers, sondern stellen eine Regelungslücke dar, die sachgerecht durch eine Analogie zu der gesetzlichen Regelung des Widerrufs eines Patentes gemäß § 64 PatG einschließlich der Zuständigkeit des DPMA geschlossen werden kann. Der Umstand einer planwidrigen Regelungslücke als Voraussetzung für eine analoge Anwendung des § 64 PatG ergibt sich insofern aus der Gesetzgebungshistorie. Die entsprechende Regelung des ergänzenden Schutzzertifikates in § 16a PatG wurde erstmals mit dem Gesetz zur Änderung des Patentgesetzes und anderer Gesetzes vom 23. März 1993 (BGBl. I 1993, 366 ff.) eingeführt, wobei regelungstechnisch bereits eine weitgehende Verweisung auf die für das Patent geltenden Vorschriften erfolgte. Das Patentgesetz enthielt zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Möglichkeit eines eigenen Antrages des Patentinhabers auf (vollständige) Nichtigkeitserklärung seines Patentes, diese wurde erst mit dem Gesetz zur Umsetzung der Akte vom 29. November 2000 zur Revision des Übereinkommens über die Erteilung europäischer Patente vom 24. August 2007 (BGBl. I 2007, 2166) in § 64 PatG aufgenommen, und zwar nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucks. 16/4382, S. 12), um das Patentgesetz dem EPÜ anzugleichen. Die zeitgleich erfolgte, ebenfalls am 13. Dezember 2007 in Kraft getretene Änderung des § 16a PatG umfasste lediglich rechtsförmliche Korrekturen, aber keine inhaltliche Änderung (BT-Drucks. a. a. O.).
In den folgenden Jahren wurde § 16a PatG mehrfach geändert, nämlich durch das Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums vom 7. Juli 2008 (BGBl. I 2008, S. 1191 ff.), das Gesetz zur Vereinfachung und Modernisierung des Patentrechtes vom 31. Juli 2009 (BGBl. I 2009, S. 2521 ff.) und zuletzt das Gesetz zur Novellierung patentrechtlicher Vorschriften und anderer Gesetze des gewerblichen Rechtsschutzes vom 19. Oktober 2013 (BGBl. I 2013, S. 3830 ff.). Bei diesen Änderungen handelte es sich jeweils um rein redaktionelle Änderungen oder um Folgeänderungen aufgrund von Änderungen bzw. Wegfall von Vorschriften im Patentgesetz, auf die § 16a PatG verweist. Dagegen lässt sich weder den Änderungen selbst noch den entsprechenden Gesetzesbegründungen, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird (z. B. BT-Drucks. 16/5048, S. 37; 16/11339, S. 18), entnehmen, dass der Gesetzgeber die oben dargelegte Regelungslücke erkannt hat und, entgegen seiner nahezu durchgängig gewählten Regelungstechnik, für Schutzzertifikate abweichend von den Vorschriften regeln wollte, die für Patente gelten. Naheliegend erscheint vielmehr, dass der Gesetzgeber ursprünglich, wie bei Patenten, kein Bedürfnis für eine isolierte Nichtigkeitserklärung durch den Schutzrechtsinhaber erkannt hat und später die Angleichung des Rechtszustandes übersehen wurde. Die Ausfüllung dieser Lücke des Gesetzes durch die analoge Anwendung von § 64 PatG auch auf Schutzzertifikate erscheint als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens (dazu u. a. Zöller, ZPO, 31. Aufl., Einl. Rn. 97) im Patentrecht geboten, da sie dem Schutzrechtsinhaber eine einfache, schnelle und kostengünstige Möglichkeit zur Beseitigung unerwünschter Schutzzertifikate mit Rückwirkung bietet, ohne dass entgegenstehende Rechte Dritter nachteilig betroffen sind. Sie steht in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht, welches, wie dargelegt, den Schutzrechtsinhaber nicht aus dem Kreis der Antragsbefugten ausschließt, und ist auch im Übrigen sach- und interessengerecht. Denn das amtsseitige Verfahren auf Widerruf eines Patentes auf Antrag des Schutzrechtsinhabers ist grundsätzlich bekannt und kann rechtlich weitgehend identisch auf das ähnlich gestaltete ergänzende Schutzzertifikat angewandt werden. Dass der Gesetzgeber die Entscheidung über den Bestand von ergänzenden Schutzzertifikaten auch nicht ausschließlich dem Gericht vorbehalten wollte, zeigen zudem die mit Gesetz zur Vereinfachung und Modernisierung des Patentrechtes vom 31. Juli 2009 (a. a. O.) in § 49a Abs. 2 PatG eingefügten Befugnisse des DPMA.
Demgegenüber kann eine Verweisung der Beschwerdeführerin auf den Klageweg mit erheblichen Zeit- und Kostennachteilen verbunden sein. Zudem bestehen seitens des Senates aus grundsätzlichen Erwägungen gewichtige Bedenken, ob der kontradiktorisch gestaltete Nichtigkeitsprozess entsprechend dem einseitigen Begehren der Beschwerdeführerin modifiziert werden könnte oder nicht stattdessen als unzulässiger Insichprozess anzusehen wäre.
Vorliegend kann offen bleiben, ob der Widerruf eines ergänzenden Schutzzertifikates durch den Inhaber selbst nur bei Vorliegen eines Nichtigkeitsgrundes möglich ist. Denn das streitgegenständliche Schutzzertifikat ist gemäß Art. 15 Abs. 1 EGVO nichtig, weil das Pflanzenschutzmittel entgegen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (a. a. O.) nicht auf der Grundlage von Art. 4 EGRL bzw. einer gleichwertigen einzelstaatlichen Regelung zugelassen wurde. Die in Anspruch genommene vorläufige Zulassung AP-40-51-01 der BBA erfüllt diese Voraussetzungen nicht, da sie lediglich auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 4 EGRL bzw. § 11 Abs. 2 Nr. 3 PflSchG a.F. erteilt wurde.
Somit war das Schutzzertifikat zu widerrufen.