Entscheidungsdatum: 01.03.2012
Die Klägerin wendet sich gegen den Widerruf ihrer Flüchtlingsanerkennung.
Die 1976 geborene Klägerin ist togoische Staatsangehörige. Sie reiste 2002 nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Mit Bescheid vom 20. Februar 2003 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab, stellte jedoch fest, dass der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen.
Anfang 2008 leitete das Bundesamt wegen der in Togo zwischenzeitlich eingetretenen politischen Veränderungen ein Widerrufsverfahren ein. Nach Anhörung widerrief es mit Bescheid vom 4. April 2008 die Flüchtlingsanerkennung der Klägerin. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Schwerin mit Urteil vom 9. September 2008 abgewiesen.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern mit Beschluss vom 9. März 2011 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und den Bescheid des Bundesamts aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Widerrufsvoraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG lägen nicht vor. Die maßgeblichen Verhältnisse in Togo hätten sich nicht so verändert, dass bei einer Rückkehr eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei.
Die Beklagte erstrebt mit der Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Zur Begründung macht sie geltend, das Berufungsgericht habe seiner Verfolgungsprognose einen falschen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt.
Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung.
Die Revision, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist zulässig und begründet. Der Beschluss des Berufungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung mit einer Begründung verneint, die mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG nicht zu vereinbaren ist (1.). Die Berufungsentscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO) (2.). Mangels der für eine abschließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen kann der Senat in der Sache nicht selbst abschließend entscheiden. Das Verfahren ist daher zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) (3.).
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch der im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - vom 4. April 2008 ausgesprochene Widerruf der Flüchtlingsanerkennung. Soweit das Bundesamt zugleich festgestellt hat, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, ist das abweisende Urteil des Verwaltungsgerichts in Rechtskraft erwachsen. Obwohl das Berufungsgericht die Berufung in vollem Umfang zugelassen hat, hat sich die Klägerin im Berufungsverfahren - bei sachdienlicher Auslegung ihres Vorbringens - ausschließlich gegen den Widerruf ihrer Flüchtlingsanerkennung gewandt.
1. Bei dem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung, der im vorliegenden Fall formell nicht zu beanstanden ist (s.a. Urteil vom 29. September 2011 - BVerwG 10 C 24.10 - juris Rn. 11 ff.), ist für die Verfolgungsprognose auf den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit abzustellen, den das Berufungsgericht verfehlt hat.
1.1 Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren (vgl. Urteile vom 24. Februar 2011 - BVerwG 10 C 3.10 - BVerwGE 139, 109 Rn. 9 und vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408 Rn. 15, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen). Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 2. März 2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Danach muss die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. dazu im Einzelnen: Urteil des Senats vom heutigen Tage im Verfahren BVerwG 10 C 7.11 Rn. 12 f. m.w.N.).
1.2 Das Berufungsgericht hat vorliegend eine solche erhebliche und dauerhafte Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer fehlerhaften Verfolgungsprognose verneint. Denn es hat seiner Verfolgungsprognose nicht den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit, sondern den der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde gelegt (BA S. 4). Dies bekräftigt im Übrigen auch der Hinweis des Berufungsgerichts, dass es im Jahr 2008 in einem Anerkennungsverfahren bei Anwendung eines anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs zu einem anderen Ergebnis gelangt sei (BA S. 6).
1.3 Die Berufungsentscheidung beruht auf dieser Verletzung des § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG. Mit den vom Bundesamt zum Anlass für eine Überprüfung der Flüchtlingsanerkennung genommenen politischen Änderungen in Togo (hier: insbesondere der Tod des früheren Präsidenten Eyadema im Februar 2005 und der von seinem Sohn im April 2006 eingeleitete strukturierte Dialog mit der Opposition) ist nach der Anerkennung der Klägerin eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in ihrem Heimatland eingetreten. Das Berufungsgericht hatte daher zu prüfen, ob es sich hierbei um eine hinreichend erhebliche und dauerhafte Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG handelt, weil sich eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben hat, so dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht (Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 20, 23). Seine Bewertung, dass die bisherigen Machtstrukturen des früheren Regimes Eyadema sich nicht wesentlich verändert hätten, beruht demgegenüber auf einer Verfolgungsprognose, der ein rechtlich unzutreffender Maßstab zugrunde liegt. Sie enthält keine Aussage zur Wesentlichkeit der Veränderungen in Bezug auf den anzuwendenden Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den asylerheblichen Verhältnissen in Togo erlauben dem Senat keine eigene Verfolgungsprognose auf der Grundlage des zutreffenden Prognosemaßstabes. Insoweit wird zur weiteren Begründung Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil des Senats vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C. 7.11 (Rn. 16). In diesem Verfahren hat das Berufungsgericht mit gleichlautender Begründung den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung aufgehoben.
3. Das Berufungsgericht wird in dem neuen Berufungsverfahren prüfen müssen, ob sich die Verhältnisse in Togo inzwischen so erheblich und nicht nur vorübergehend geändert haben, dass für die Klägerin bei einer Rückkehr keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht. Auch insoweit wird Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil des Senats vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C. 7.11 (Rn. 18). Dabei wird das Berufungsgericht auch der Behauptung der Beklagten im Beschwerdeverfahren nachzugehen haben, dass es sich bei der ATLMC, für die die Klägerin sich in Togo nach eigenen Angaben u.a. politisch betätigt hat, nicht um eine Partei, sondern um eine lokale Organisation handele, die der CDPA nahestehe. Diese gehöre zwar der radikalen Opposition an, ihr Vorsitzender habe aber bereits mehrfach wichtige Ministerposten in der "Regierung der nationalen Einheit" innegehabt.